Warum nur komme ich mir vor wie ein geohrfeigtes kleines Mädchen?
Meine fleischigen Finger gleiten über die Tasten, immer schneller. Je schneller, desto fleischiger. Yann Tiersens Kompositionen zu Amélie Poulin. Immer eine Seite nach der nächsten. Bald schon sind meine Finger so fett, dass sie an einander reiben. Dass ich, je schneller ich werde, immer langsamer werde. Comptine d’un autre été – l’aprés-midi, Abzählreim eines anderen Sommers, der Nachmittag. Ich verheddere mich. Und dann ein falscher Ton. Schnell ziehe ich meine Hände weg, der falsche Ton verschwindet mit. Aber dennoch war er da. Er war da. Ich kann einfach nicht mehr. Und schon breche ich in Tränen aus. Warum nur komme ich mir vor wie ein geohrfeigtes kleines Mädchen?
Mein Dopaminspiegel lag während der ganzen Zeit sehr hoch, vielleicht kann man es damit erklären. Am Flughafen hatte meine Austauschfamilie mich plus Gepäck eingesammelt und schon hatten wir uns auf den Weg gemacht. Wir kannten uns gar nicht doch erzählten sie die ganze Zeit munter drauf los. Was wir jetzt machen sollten, müde?
Nein, hab den ganzen Flug durchgeschlafen.
Hunger? Nö, haben reichlich Verpflegung bekommen, Langstreckenflug und so.
Mh! Aber Eiscreme magst du? Klar.
Gut, gehen wir Eis essen? Okay!
Wir aßen also Eis. Im März. Während der Schnee über meine Fesseln stand. Meine Gastschwester half mir beim Aussuchen, weil ich ja gar keine Ahnung haben konnte, alles war so aufregend, so neu, und vor allem so RIESENGROSS! Floats aßen wir da, Orangefloats, Vanilleeis in Orangenlimonade. Und weil ich das mochte gleich danach in den 24/7- Laden nebenan, in dem meine Austauschschülerin auch arbeitete, um Eis und Soda/Pop, Limonaden-Sprudel-Irgendwas, zu kaufen. Und praktischerweise sah ich dadurch auch gleich ihren Arbeitsplatz. Große Regale, bunte Werbeschilder, Klimaanlage auf Sauna, Skijacke ausziehen. Bri, meine Austauschschülerin, war so aufgeregt, sie lief durch die Reihen, zog mich überallhin mit, wollte, dass ich alles sehe. Und am besten alles auf einmal.
Dopaminlevel auf Nonplusultra. Für einige Augenblicke jedoch war sie verschwunden, ich weiß nicht mehr wieso, aber ich befand mich in der Zeit mit meiner Gastmutter neben dem Einkaufswagen, in den ich alles legen sollte, was ich probieren sollte, musste, wollte. Die Regalbreitseite mit den gefrorenen Kuchen hinunter, stehen bleiben. Wir befanden uns genau vor den Kassen. Hinter eben der Kasse vor der wir warteten stand er, der blonde Schönling, in weißem Hemd und dunkelblauer Schürze, wartend auf Kunden, deren Einkäufe er in Taschen vertäuen könnte, sein Job. Mir schien, als würde die Luft plötzlich ausgehen. Eigentlich hätte die Zeit anhalten müssen, alle Statisten jetzt bitte ins Freeze!, unsere Körper würden empor gehoben werden, auf einander zu. Und kurz vor der Spitze des dadurch entstehenden Kegels würden wir vor einander stehen bleiben, uns nur in die Augen sehen, und alles um uns begänne sich zu drehen mit einer Wahnsinns Schleuderkraft.
Nur war dies eben das echte Leben und ich war zu verdutzt um überhaupt irgendetwas zu denken. Von rechts stürmte in diesem Moment ein Wirbelwind der Ordnung Austauschschülerin auf meine Gastmutti und mich zu und zog uns fort zu mehr Eissorten um Floats machen zu können. Er lächelte mir zu, wie mir schien.
In Entscheidungen fällen war ich seit jeher nicht sehr talentiert, doch nach dieser Begegnung war ich eigentlich zu nichts mehr zu gebrauchen. Was? Entschuldigung, hast du was gesagt? Wie, Eis? Achso, ja, Eis... Ehm. Weiß nicht. Mir gleich.
Zwanzig Minuten und wir waren bereit den Supermarkt schon wieder zu verlassen, schwer bepackt mit riesigen Vorratspackungen an Eiscremes und Getränken. Aber wie das Leben immer so spielt, wir mussten natürlich „seine“ Kasse ansteuern. Und aus der Nähe war er einfach der Hammer. Einfach nur der Hammer. Der Hammer. Gigantische blaue Augen, Suppenteller voll Ozeanwasser. Fielen mir auf, wie auch nicht! Ich konnte meinen Blick kaum abwenden. Aber eigentlich war es nicht sein umwerfendes Aussehen, dass mich so in seinen Bann zog, viel mehr seine Aura, er hatte etwas Natürliches, Unverbrauchtes, Lebendiges und doch so Entrücktes an sich. Und er war der Arbeitskollege meiner Austauschschülerin.
So kam es dann, dass selbst Mama Davidson rege Worte mit Jesse wechselte. Jesse, so hieß er. Muss man wohl bedeutungsvoller schreiben: E R ! Ja, Jesse verdiente sein eigenes Ausrufezeichen. Wahrscheinlich grinste ich ihn wohl die ganze Zeit dämlich an. Obwohl... Nein, wohl eher versuchte ich nicht zu grinsen, nicht griesgrämig aber einladend und freundlich/ fröhlich auszusehen, gleichzeitig noch zu lächeln, aber MUND ZU! Bloß nicht auffällig werden, haha. Ich trug eine feste Zahnspange. Und hätte sie zwei Wochen vor meinem Flug schon raus machen lassen können, nur eben hatte Erziehungsberechtigte (Mutter, 18+) dagegen plädiert. Weswegen ich meine Mutter in so manchem Moment verwünschte. Und so stand ich vor diesem griechischen Gott in Amerika, versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen und doch nicht. Aber mit meinen knallrot gefärbten Haaren -und schon alleine wegen meiner Anwesenheit!- war ich ein buntes Kaninchen im sonst schon beinahe überschaubaren Cache Valley. Er hatte ein Grübchen.
Ob es nur mein Dopaminwert war, der mich so offen machte? Wäre er mir unter anderen Umständen überhaupt aufgefallen?
Interessiert war er, sehr interessiert. Und dabei so schüchtern. Ja, Jesse, Jesse H., wie sein Schild mir verriet, Bri mir erklärte und er sich mir vorstellte. Gastmutti hatte schon lange bezahlt, die Tüten waren gepackt und wir schon beinahe im Ausgang. Und dann kam Brianna, Britanny, Britney oder wie sie auch hieß, und musste mir vorgestellt werden. Natürlich mit Jesse noch im Schlepptau. Nach weiteren geschlagenen vierzig Minuten, einer weiteren Runde durch den ganzen Markt, und fünfzig neuen Bekannten, hunderten von beantworteten Fragen hatten eine ungeduldige und zugleich belustigte Gastmutter, eine kreischende Austauschschülerin und ein überglückliches Ich es geschafft den Laden zu verlassen.
Jesse hatte sich einen Wischmob geholt und tat so, als würde er wischen. Zufälligerweise immer dort, wo wir auch waren. Und obwohl das nicht zu seinem Aufgabenbereich gehörte. Aber er war uns nicht von der Seite gewichen. Er hatte sogar Deutsch gesprochen. „Hounsemer!“ – Ich hatte keine Ahnung, was er mir damit sagen wollte. Tage später erzählte meine Austauschschülerin von meiner Begegnung mit Jesse, er hatte „Wohnzimmer“ gesagt.
Die Tage an der MC Highschool vergingen rasend schnell. Jesse sah ich nur selten. Als Sophomore war er eine Klassenstufe unter uns, den Juniors. Ich verlegte mein „First Lunch“ eigenmächtig auf „Second Lunch“, auf die Zweite Mittagspause, weil Jesse „Second Lunch“ hatte. Wusste ich nicht was mit mir anfangen, dann ging ich einfach in seine Deutschklasse, saß an seinem Gruppentisch. Wir verstanden uns prächtig.
Eines Abends luden Bri und ich einige Gäste zu ihrem Bruder ein, der alle Spiele von Singstar über Guitar Hero bis Rockband hatte. Jeff, Bris Schwarm, Bri selbst, Jesse, ich und noch vier weitere Kids, die eigentlich nur kamen um das ganze aufzulockern. Jesse und ich unterhielten uns blendend. Wir sprachen den ganzen Abend über. Unterhielten uns über alles. Wir hatten ja so viel gemeinsam. Und irgendwann war da ein zufriedenes Stillschweigen, ein Verständnis in Vollkommenheit zwischen uns. Ja, Jesse und das Mädchen aus Deutschland.
Als wir uns an dem Abend verabschiedeten versprachen wir uns gegenseitig noch vor meiner Abreise zusammen Klavier zu spielen, egal was kommen möge.
Bri fuhr wie immer. Solang war ich ihre Sekretärin. Und auch an diesem Abend bekam Bri eine SMS während wir nach Hause fuhren. Sie war von Jesse. Ob Bri auf Jeff stünde. Nach einigem Geplänkel sagte sie Jesse die Wahrheit. Aber sie erzählte ihm auch, dass für sie noch drei weitere Kerls in Betracht kämen. Bri redete, ich tippste. Jesse hatte davon natürlich keine Ahnung. Jesse meinte, Bri hätte wenigstens Glück, im Gegenteil zu ihm. Keiner von ihren Angebetenen würde demnächst wieder zurück nach Deutschland gehen. Bei ihm schon…
Strike, Baby! 2010 würde er nach Deutschland kommen, den Austausch auch machen. Er sagte, 2010 würde ich wegrennen sobald ich ihn sähe. Ich schüttelte den Kopf. Nein, Jesse, nein.
Von da an lief alles wie verhext. Jesse und ich verpassten uns ständig. Bri erzählte mir in meiner letzten Woche täglich, wie er an mein Schließfach gekommen war, ich nicht da gewesen war und sie sich dann mit ihm unterhalten habe. Ich wollte mich von ihm verabschieden. Aber am Tag vor meiner Abreise war er nach der Schule nicht zu finden. Und dann war es so weit. Meine Zeit war vorbei. Es war ein kühler Freitagmorgen. Ein letztes Mal war ich zur MC Highschool gekommen um mich zu verabschieden. Und Jesse kam nicht. Er ging einfach in seinen Unterricht. Ich schob ein Passfoto von mir mit meiner Emailadresse auf der Rückseite durch den Spalt seines Schließfaches und dann fuhren sie mich zum Flughafen. Goodbye, my almost lover. Goodbye, my hopeless dream…
Jesse und ich versuchten einfach per Email den Kontakt zu halten. Wir wurden richtig gute Freunde, Brieffreunde quasi. Bis zu dem Tag an dem er kaum noch online kam. Ich war Teil eines größeren Austauschprogramms und so kam es, dass Bri und einige ihrer Schule für einige Zeit her nach Deutschland kamen. Danach war ich mit Greg zusammen. Und Monate später erwähnte ich das in einer Email an Jesse beiläufig, er sollte nicht ahnungslos sein. Danach bekam ich keine einzige Email von Jesse mehr, Jesse mit dem Grübchen.
Ich huste fürchterlich. Ein fieser Mix aus Grippe und Husten ist der Grund, weswegen ich flachliege, weswegen ich nichts tue außer Schlafen und Teetrinken. Ich beschließe die Geschichte zu ändern und wage mich an den Fernsehapparat. In einer amerikanischen Unterschichtenfernsehsendung kommt ein Kerl vor, blond, mit riesigen meerblauen Augen. Wenn er lacht hat er ein Grübchen. Ein kleines zartes, weil seine Haut beinahe filigran ist. Und er heißt Jesse. Es ist nicht „mein“ Jesse. Dieser hier ist etwa fünf Jahre älter. Ich beschließe meinem Jesse eine Email zu schreiben, was ich auch sofort tue. Ich erzähle ihm von Deutschland und sehne mich ins Valley. Ich muss einfach wissen, wie es ihm geht. Ich muss einfach wissen, was aus ihm geworden ist im letzten Jahr. Jesse, so antworte doch… bitte…
Ich logge mich in MySpace ein, nicht ohne besonderen Grund. Einen Blick muss ich auf Jesses Profil werfen. Ich sauge die Luft scharf ein. Er war vor zwölf Tagen online. Meine Gedanken überschlagen sich. Warum hat er mir keine Email geschrieben? Zwischen dem Greg- Geständnis und der von gerade eben lagen mindestens zwei meinerseits. Warum hat er mir nicht zurück geschrieben? Jesse, antworte doch…
Ich scrolle ein wenig auf seinem Profil umher.
Er hat alle meine Kommentare gelöscht.
Meine fleischigen Finger gleiten über die Tasten, immer schneller.
Bevor du nach Hause fliegst spielen wir zusammen Klavier. Wir müssen einfach, versprochen?
Je schneller, desto fleischiger. Yann Tiersens Kompositionen zu Amélie Poulin. Immer eine Seite nach der nächsten. Bald schon sind meine Finger so fett, dass sie an einander reiben.
Tränen in meinen Augen. Alles verschwimmt. Je schneller ich werde, desto langsamer werde ich. Zeitraffer.
Nachmittag, anderer Sommer, Unbeschwertheit.
Ich verheddere mich. Und dann ein falscher Ton. Schnell ziehe ich meine Hände weg, der falsche Ton verschwindet mit. Aber dennoch war er da. Er war da.
Jesse auch. Und Greg auch. Wie konnte ich nur so blöd sein?
Ich kann einfach nicht mehr, ich will nur einen Freund zurück. Jesse, bitte antworte schon! Er wird 2010 nicht kommen, oder doch? Und schon kullern die Tränen. Ich komme mir vor wie ein kleines geohrfeigtes Mädchen.
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Jesse H.