Cover

Ich halte es nicht mehr aus. Was genau riecht hier so? Nach Lavendel. Oder Moschus. Oder was weiß ich was! Kenn mich nicht aus. Zumindest riecht es nach Badeöl. Oder dem Schrank meiner Großmutter, in dem sie Kerzen aufbewahrte. Und ein bisschen auch nach meiner Schwester.
Ich drücke meine flache Hand in mein Gesicht, gegen meine Nase, schnaufe. Sogar meine Hände riechen danach! Was ist das?!
Ich schließe meinen Internet Explorer durch ein schmerzloses Klicken auf das X. Wo kommt das her! Wo war ich als letztes? Was habe ich als letztes berührt? Ich muss wissen, was hier so riecht!
Ich gehe ins Wohnzimmer. Nichts.
Ich gehe ins Bad. Wieder nichts.
Ich schaue in der Küche nach. Nada.
Im Schlafzimmer? Fehlanzeige.
Wo kommt es her? Was ist es?


Vor der Haustür, zwischen den Schuhen, liegt es. Der Ursprung, die Quelle. Ein kleines rosafarbenes Büchlein, achtlos zur Seite geworfen. Ja, das hatte ich in der Hand. „Das kleine Buch der Liebe“ sagt es. Ein knallrotes Herz mit Flügeln drauf. Als zu kitschig befunden und fallengelassen. Wieso hier? Bei den Schuhen? Wie kommt es hier hin? Müsste es doch auf dem Wohnzimmertisch liegen. Und wieso riecht es so? Nach Lavendel. Oder Moschus. Oder was weiß ich was. Mit meinem rechten Daumen lasse ich die Seiten aufspringen, zwei minimale Sekunden zwischen zwei Buchrücken, um festzustellen, dass es nach Lavendel riecht. Oder Moschus. Auf jedem Fall nach dem Schrank meiner Großmutter. Die lebt aber schon längst nicht mehr. Und obwohl sie eine sehr belesene Frau war, nein, dieses Buch hätte sie nicht gelesen, da bin ich mir sicher. Ich wende es: „Ob Sie gerade frisch verliebt sind oder sich nach Liebe sehnen…: Schlagen Sie dieses Buch einfach nach Belieben auf, und lassen Sie sich von den poetischen Gedanken beglücken und inspirieren.“ Purer Kitsch. Der Geruch ist so intensiv, dass ich ein leises Tocken an meinen Schläfen spüre. Er toppt alle Definitionen von Penetranz, nicht zum Aushalten. Dennoch bin ich neugierig geworden. Wahllos schlage ich irgendwo in der Mitte auf, blättere weiter. Lauter kluge Sprichwörter aus fernen Ländern, in denen ich noch nie war, und gesammelte, noch schlauere Zitate von Menschen, von denen viele Namen mir nichts sagen.
Die Liebe, was für ein Terrain.


„Die Liebe ist das Leben jedes Menschen. – Emanuel Swedenborg“
Aha, doch was genau ist Liebe eigentlich?
Ein paar Seiten später lese ich „Wir lieben es verliebt zu sein, daran gibt es nichts zu rütteln. – William Makepeace Thackeray“. Makepeace? Unverzeihbarer Name. Google sagt, er war einer der Großen, nun denn. Klingt in jedem Fall mal klug.
Makepeace… Habe ich Liebe gefunden, habe ich Frieden gefunden? Die vielgesuchte „innere Ruhe“? Was ist Liebe? Ein beflügeltes rotes Herz auf pinkem Hintergrund, ein lächerliches Cover? Das ist eher World Disney mit der flachen Hand ins Gesicht gehauen bekommen. Sofort fällt mir ein Satz ein: „Disney hat mir unrealistische Erwartungen von der Liebe gegeben.“ Prinzessin findet Prinz, wird nebenbei immer glücklicher, reicher, schöner und vor allem: zu-frieden-er. Ende gut, alles gut („Doch sie zu sehn, hieß sie zu lieben, nur sie zu lieben und für immer.“ – Robert Burns). Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Wahlweise auch: und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Heißt Liebe Beständigkeit? Und gilt der gruselige zweite Satz für unglückliche Menschen, die einem Trieb folgten, der sich als falsch entpuppte, sozusagen dann eine ewige Bestrafung des Fehlers auf Erden, ein unglückliches Leiden anstatt Leben?
Ist „verliebt sein“ Liebe? Gibt es denn die EINE Liebe? DIE eine Liebe? Nur eine Liebe? Das vieldiskutierte Thema. Ein leidiges Thema, sagenumwoben, so viele Antworten und doch keine befriedigende.
Liebe, fünf Buchstaben, die die Welt bedeuten…
Woran denkst du, wenn du „Liebe“ hörst? Deinen Ehepartner, Lebensabschnittspartner, Familie, Freunde, das Schreiben, Kaffee, Staubsaugen,…?

Ich denke sofort an meinen Freund, ich glaube ihn zu lieben.
Fernbeziehung, wenn das nicht für immer hält wird es sich wohl kaum gelohnt haben, denken die anderen, metaphysisch. Mir geht es um mehr als fleischliche Beziehung. Dennoch: Wie lange wird das noch halten? Wir sind zu jung um das ernsthaft auf Dauer durchstehen zu können, realistisch betrachtet. Und auf den Kopf bin ich nun nicht gefallen. Ich bin nur ratlos. Was ist Liebe? Und wie kann ich jemandem sagen, ihn zu lieben, obwohl ich weiß, dass ich nicht weiß, was Liebe genau ist? Liebe ist eine Entscheidung, da bin ich mir zumindest sicher, wenigstens. Doch ich bin kein Freund von Entscheidungen. Ich bin kein Freund von Verantwortung. Erstrecht nicht, wenn diese meine Verantwortung auch für andere Menschen Konsequenzen haben muss.
Robert Brownings Zitat berührt mich: „Wie viel blieb von der Seele übrig, frag ich mich, nachdem das Küssen enden musste.“
Fernbeziehung. Kein Zuckerschlecken. Das Leben ist nun eben kein Ponyhof, kein Wunschkonzert. Warum muss ich es immer übertreiben? Jetzt ist er wieder zurück gezogen, wussten wir doch von Anfang an, dass das so kommen würde. Das war am Anfang wohl das Gute daran. Und gescheut hab ich mich nicht. Und dann wurde es ernst. Bis hier her sind achttausend Kilometer nichts für uns. Bis hier her.
Wie weit noch, wie weit werden wir gehen? Wie viel wird von dem „Uns“ auf lange Zeit übrig bleiben? Thomas Fuller sagt: „Hätt’ das Herz keine Hoffnungen, zerbräche es.“


Ich klappe das Buch zu.
Woher es und sein Geruch kommen interessiert mich schon gar nicht mehr.
Viel wichtiger: Was genau ist nun „Liebe“? Platonisch habe ich verstanden. Dennoch. Es ist wie das Phänomen der „Drei Schwestern“, mehrere aufeinanderfolgende sogenannte Monsterwellen.
Es ist wie ein Albtraum.
Ich paddele auf meinem Surfbrett auf dem offenen Meer, warte auf die perfekte Welle. Und dann werde ich plötzlich überrollt. Ich werde von Liebe untergespült, der Welle der Liebe: Geschichten über die Liebe, Liedern, Filmen, Bildern. Einer Kraft, die mich in die Tiefe zieht.
Und ihre Schwester Trennung folgt sogleich: Geschichten über Trennungen, Liedern, Filmen, Bildern. Hand in Hand, Geschwisterliebe, Liebe kann nicht ohne Trennung.
Erschlagen bin ich nun. Ich japse nach Luft.
Es ist ein Albtraum.

Ich winsele um Gnade: Bitte, keine Antworten mehr, keine gut gemeinten Ratschläge! Ich halte es nicht mehr aus.
In mir schlägt noch ein neugeborenes Herz, noch habe ich eine Meinung, nicht frei, doch freier noch als andere. Ich sage NOCH. Bitte! Hört auf! Ich möchte meine Gedanken nicht erschlagen sehen. Ich brauche keine Vordenker. Ich möchte mich frei entfalten. Ich möchte mich selbst bilden.
Und vor allem: ich möchte selbst herausfinden, was Liebe nun wirklich ist.

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Tag der Veröffentlichung: 27.08.2008

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