„Wisst ihr was ich damals zweimal zu ihr gesagt habe? Merk dir diesen Moment. Nur: merk dir diesen Moment! Das ist einfach genial. Und heute weiß ich noch ganz genau, wie das da war, weil ichs mir gemerkt habe. Das eine Mal, da waren wir…“
Zeit: kurz vor Mitternacht.
Und in der Tat: es riecht nach Nacht. Kalt und feucht. Es ist Herbst geworden. Ein wenig Aftershave mischt sich mit dem Geruch nach Moder, kommt wohl aus dem See. Geruch: ebenfalls geklärt.
Es ist dunkel. Alles verläuft sich zu Silhouetten, schwarz, dunkelgrau, hellgrau. Sterne und Mond werfen ihr eigenes, gelblich weißes Licht. Mein Blick wandert von ganz links nach ganz rechts. Laterne, Baum, nichts, Baum, Stern, Kran, Hochhaus, Stern, Baum, See, Ufer, Brücke, Daniel, Evert, Vollmond. Ich bin der Punkt, der links mit rechts zu einem Kreis verbindet. In Gedanken hake ich „Location“ ab. Soweit, so gut.
Ich höre: Everts tönende Stimme, Quaken von vereinzelten Fröschen, zirpende Grillen und Plätschern von Wasser.
Und jetzt?
Die Stimmung kann ich mir genauso schlecht merken, wie ich sie einfangen kann. Aus einem zum Scheitern verurteilten Versuch folgt ein spärliches Ergebnis: Sie muss wohl zwischen Lagerfeuerromantik ohne Lagerfeuer, Abenteuer und tiefem Frieden liegen. Ich weiß nicht so ganz genau, was ich noch Simples feststellen könnte, damit es mir in Erinnerung bleiben wird. Deshalb wende ich mich meinen Jungs wieder zu. Daniel sitzt auf meinem Skateboard, Evert auf der Gitarrentasche, die ich mir mit ihm teile. Ich schweife mit meinen Gedanken ab, weit weg. Richtig weg weit. Dann nehme ich Evert die Klampfe aus seinem Arm und fabriziere leise Hintergrundmusik. D, G, A, drei Akkorde, immer wieder und immer wieder und immer wieder. „Ist euch schon mal aufgefallen, dass unsere Musik total anspruchslos ist?“, fragt Evert. „Klar. Drei bis fünf Akkorde und wir geben uns zufrieden“, sage ich während ich weiterspiele. Daniel meint dazu gar nichts. Er starrt auf sein Handydisplay. „Und irgendwie ist unsere Musik trotzdem gut“, spricht Evert weiter. Ich unterbreche meine Akkordfolge für ein Schulterzucken und beginne dann zum Spielen zu singen. Strophe, Refrain, Strophe, Refrain, D, G, A, D, G, A, D, G, A. Dann eine kleine Improvisation, voilá.
„Sie kann auch noch singen“, bemerkt Evert zu Daniel.
„Komisches Lied, oder?“, frage ich.
„Kenn ich irgendwoher“, Evert denkt nach. Ich helfe ihm auf die Sprünge. Es ist ein allgemein bekanntes Lied, fast schon ein Klassiker des Untergrunds der neuzeitlichen Musik, wie ich finde.
„Total das Michi- Lied“, sage ich.
„Michi?“ „Klar, letzter Sommer.“ Mehr brauche ich ihnen nicht zu antworten, sie wissen über mich Bescheid. Letzter Sommer, ein alles sagendes Stichwort. „Oh, ja, klar.“
„Verbindet ihr nicht auch bestimme Lieder mit bestimmten Personen? Mach ich immer. Oft ist es so, dass das gar nicht mal „unser“ Lied ist.“ Evert brummt, dehnt ein hmm… „Ich verbinde Lieder eher mit Situationen.“ „Stimmt. Passiert mir auch manchmal.“
Und bei den Worten denke ich an das erste Lied, das ich jemals mit einer Person verbunden habe. Sofort suche ich nach den Akkorden. Als ich sie endlich gefunden habe, möchte ich ihnen die Geschichte zu dem Lied erzählen, hebe meinen Kopf und vergesse sofort, was ich sagen wollte. Da ist eine Sternschnuppe! „Aaaah! Da war gerade eine Sternschnuppe, habt ihr sie gesehen? Habt ihr sie gesehen?“ Ich bin total aus dem Häuschen, ich freue mich riesig.
Nein? Nicht? „Wünsch dir schnell was!“, meinen sie. Doch vor lauter Aufregung fällt mir mal wieder nichts ein. So wie immer, wenn ich mir etwas wünschen soll. Aber im Moment bin ich völlig zufrieden.
„Steht auf! Das müsst ihr machen, müsst ihr machen! Kommt her!“, Evert lacht. Daniel und ich drehen uns zu ihm um. Wie betrunken wankt er auf der Wiese auf uns zu. Dann lacht er wieder laut, gluckst, und beginnt sich von neuem zu drehen. Seine Arme schwingen lässig durch die Luft, je schneller er wird, desto höher fliegen sie. Und dann drehen wir uns zu dritt. Wir drehen uns auf der nassfeuchten, dunklen Wiese. Wir jauchzen, lachen, fallen beinahe in den See, rennen gegen Büsche, purzeln übereinander. Momente der Glückseligkeit.
„Hallo. Einen Döner mit allem.“
„Einmal Yufka mit allem.“
„Ich auch. Nein, halt! Ich meine: ohne Scharf. Also einmal Yufka ohne Scharf, bitte.“
Zu meiner Linken sitzen zwei Jugendliche und warten auf ihren Freund, den dritten, der neben dem Dönerbudenbesitzer und uns noch im Raum ist. Er steht an der Theke und bezahlt zwei Pizzen und einen Döner. Dann warten wir alle. Die drei Kumpels mustern uns. Daniel lehnt das Skateboard gerade an die Wand. Evert starrt mit dem Kopf im Nacken auf die Tafel hinter dem Tresen, studiert die Speiseauswahl, er trägt einen großen weißen Damenschlapphut. Ich stehe einfach nur da, die Gitarre auf den Rücken geschnallt und finde, wir sind ein Haufen Vögel. Im Nebenraum sitzt eine Gruppe Erwachsener, sie reden laut und lachen, verstehen kann ich sie nicht. Sie rauchen Wasserpfeife und Zigaretten.
„Wohin?“, fragt Daniel, als wir mit unserem Essen den Dönerladen verlassen. Evert weiß, hier in der Nähe muss ein Spielplatz sein, also machen wir uns auf den Weg. Doch dann möchte er lieber in der Mitte der Kreisverkehrinsel essen, also überqueren wir die Straße und setzen uns ins Blumenbeet. „Habt ihr so was schon mal gemacht?“ „Nö.“ Ich fiesele ein Stück des pfannkuchenähnlichen Teiges ab und zerreise es in kleinere Stücke. Ein Auto fährt an uns vorbei, beschreibt einen fast kompletten Kreis, biegt dann ab. Die Rücklichter scheinen rot.
Ich schaue ihm hinterher.
Weg.
Ich hebe meinen Kopf. Pechschwarze Wolken ziehen am dicken, runden Mond vorbei.
Ich sauge die frische Luft außerhalb der Stadt genüsslich ein, dann werfe ich einen Blick auf meine Freunde, sie sind immer noch da. Ihre Gesichter sind vom Schein des Mondes erhellt.
Sie sehen zufrieden aus. Ein Flugzeug blinkt geschätzte achttausend Kilometer über uns. Wohin wird unsere Reise gehen?
„Merkt euch diesen Moment“, sage ich.
Texte: Photo: Heike Müller
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Evert und Daniel, außergewöhnlich besondere Menschen.
Ich möchte euch danken.
Ihr habt mein Leben geprägt.