Prolog
Entscheidungen zu fällen fühlte sich an wie mein letzter Herzschlag. Auch, wenn nicht alle schwer waren. Schwarz oder weiß?
Doch dann nahm das ganze zu, es passierten Dinge, die mich stocken ließen und die meine Lungen nicht ertrugen, die für ewig geschädigt sein werden. Und sobald ich vor einer Wegzweigung stand, die pochende Entscheidung sich in meine Gedanken ritzte, lief die Luft davon und alles wurde schwarz. Rechts oder Links?
Es fiel mir gar nicht auf, dass sich Entscheidungen oft durch meine Gedanken hindurch schlichen, sie waren ganz leise. Still. Und erst, als sich der Fehler breit grinsend neben sie stellte, wusste ich, da lief was falsch. Neue Liebe oder unendliche Freundschaft?
Ich mochte keine Lügen, aber ich wollte niemanden verletzen. Doch ich wusste, dass mein Bruder mich belügte, um mich nicht zu verletzen. Er streckte mein Vertrauen in die Länge, aber irgendwann riss und dann gab es einen Knall, der unsere Ohren bluten ließ, unsere Herzen auseinander fetzte. Die Entscheidung schlich sich erneut vorbei. Glücklicher Verrat oder verletzendes Vertrauen?
Mein Bruder erzählte es mir. Aber ich wollte das nie wissen, niemals. Nie wieder. Doch die Schranke des Weges fiel, es gab kein zurück mehr, ich konnte nur noch gerade aus gehen, zu der nächsten Schranke. Oben, Unten, Hoch oder Niedrig?
Ich wollte zu ihm. Aber du hast mich nicht im Stich gelassen, mich gelockt. Mein Herz polterte rasch, weil es wusste, bald würde es vorbei sein. Niemand konnte mir helfen, Böse und Gut tickten in meinem Ohr. Und ich übersah den Besseren.
Teil Eins
Seek
...weil ich deine Geheimnisse hasse/weil der Krieg zerstörerisch ist, aber der Liebe nahe kommt...
1.
Allein.
Ich war/bin allein.
Wer hatte dieses Wort eigentlich erfunden?
Was wäre, wenn allein und fröhlich sein die Bedeutung tauschen würden?
Dann könnte ich jetzt schreiben: Ich bin fröhlich, doch es wäre trotzdem genauso negativ.
Ich schlug das schwarze Buch zu, legte mich ins Bett und schaltete das Licht aus. Im Gedanken an jedes Wort, wie es wäre, wenn es die Bedeutungen tauschen würde.
„Säs, du hast lange genug geschlafen.“ Weit entfernt nahm ich die Stimme von Michael Liebs war, meinem großen Bruder. „Komm, raus mit dir.“
Stöhnend wälzte ich mich und zog mir die schwarze Decke über den Kopf. „Wenn du nicht aufstehst, lese ich dein Tagebuch.“ Als hätte mich der Blitz getroffen, war ich plötzlich hellwach und schleuderte ihm schon ein Kissen in sein hübsches Gesicht.
„Wie oft soll ich es dir noch sagen!? Es ist kein Tagebuch!“, zischte ich ihn an. Es war mein Leben, das Letzte, was mir von meinen Eltern erhalten blieb.
„Du bist so eine Zicke!“, lachte er und warf das Kissen zu mir. Sobald ich das Klicken der Tür hörte, schlug ich die schwarze Bettdecke zurück und erhob mich. Der Raum platzte vor Leere und Stille, doch wenn man ganz leise war, konnte man die beiden kichern hören. Ich hatte die schwarzen, modrigen Umzugskartons nie ausgeräumt, weil ich mich hier nicht zu Hause fühlte. Außerdem machten sie sich vor den hellbraunen Wänden und neben den dunklen Regalen, vor denen Schokolade das perfekte Versteck hätte, doch sehr gut. Der große Schreibtisch, der die selbe Farbe wie die Regale besaß, stand vor einem der vier Fenster, die alle von weißen Vorhängen geziert wurden und bei denen die Jalousie immer noch mein Zimmer vor dem wahrscheinlichen Sonnenlicht schützte. Mit dem Blick fest auf eines der Fenster gerichtet, betätigte ich einen Schalter, mit dem sich die Rollos öffneten. Langsam schlich sich graues Licht über meinen Schreibtisch, über mein schwarzes, dickes Buch und kletterte sich weiter in den Raum nach vorne. Das helle Licht stach mir in die Augen, es regnete. ...der Himmel weint und ich muss lächeln...
Mit dem Widerhallen meiner Füße ließ ich mich auf dem schwarzen Sessel sinken, blickte nochmal kurz aus dem Fenster und schlug dann mein Buch auf.
Es regnet. Außerdem wurde ich gerade von meinem Bruder geweckt. Um …
Ich drehte mich um und schaute auf die große Uhr, die über der Tür hing. Wenn man ganz leise war, konnte man nicht nur das Ticken, misstrauisches Geflüster und Gekicher hören, sondern auch ihr stärkeres Geschrei, das von den Wänden zurückgeworfen wurde.
...7:34. Heute ist es soweit. Und ich fühle mich gut, weil der Himmel weint.
Packen muss / brauch ich nicht. Du weißt ja, die Kartons harmonieren perfekt mit der Nougat – Wand.
Trotzdem nagt die Leere wieder an mir und es tut so weh. Ich zerreiße, ganz langsam, in Fetzen. Und sie werden von dem Staub des Zimmers überdeckt...
„Kommst du heute noch frühstücken?“, klang es durch die Tür.
„Ich muss mich erst umziehen“, sagte ich lauter zurück.
„Mach das. Du kannst nämlich später noch dein Leben weiter zitieren.“
Mein Bruder wusste alles über mich, ohne dass er es irgendwo lesen oder mich zuerst fragen musste. Ich schüttelte den Kopf, fuhr mir durch die Haare und schlug das Buch leise zu. Dann griff ich über den Schreibtisch und kippte das Fenster, der Duft von Regen umhüllte mich. ...ich beginne neu, da sollte es auch so riechen...
Schließlich machte ich mich auf den kurzen Weg zu dem begehbaren Kleiderschrank, geschätzte 14m². Ich knipste das Licht an und bewegte mich zur hintersten Schublade, die einzige, die ich eingeräumt hatte. Das lag daran, dass die Klamotten darin neu waren, weil meine Alten versehentlich verschwunden waren. Die Kästen drängten sich mir entgegen, während ich beim einzigen Fenster, das dieselbe Größe, dasselbe Aussehen und dieselben Vorhänge wie das vor dem Schreibtisch hatte, ebenfalls einen Schalter betätigte und das graue Licht daraufhin den Raum erstrahlen ließ. Ich schob die Vorhänge beiseite und öffnete es ganz. Die Neuheit schlug mir ins Gesicht, der Regen prasselte auf den harten Steinboden und es schien, als würde er ihn jeden Moment sprengen. „Säs, beeil dich!“, brüllte mein Bruder über den Schall des Regens. Schnell schlüpfte ich aus meiner schwarzen Jogging – Hose, dem schwarzen Top und zierte meinen Körper mit denselben Farben. Eine Röhrenjeans, ein anderes, sauberes Top und ein Gürtel mit silbernen Gravierungen. Ich drehte mich zum Spiegel, strich mir durch die Haare und schnappte mir dann meine Unterwäsche und ein paar Klamotten, alle in schwarz. Nachdem ich alles in einen grauen Rucksack gestopft hatte, verließ ich den Raum und machte mich auf den Weg zur Treppe, die in die große Eingangshalle führte. ...ich wusste noch nicht, dass ich mich wieder falsch entschieden hatte...
Der Haupteingang war in diesem schrecklichen weiß-grau gestrichen, das beweisen sollte, dass meine Tante das Geld verbrennen könnte. Zuerst war die Treppe, die nur aus grauem Marmor bestand, breit und platzeinnehmend, dann kam eine kurze Fläche, um sich praktisch wie auf einem Teller zu präsentieren, daraufhin teilten sich die Stufen in zwei kleine schlanke, sie formten einen Kreis und schließlich fanden sie nach ihrer runden Trennung wieder zusammen und setzten ein Ende. Bilder mit verzierten Rahmen und Blumen, so künstlich wie Plastik, prahlten von überall. Selbst wenn man versuchte den Blick vom Reichtum abzuwenden, so stieß man bereits auf das nächste prunkvolle Stück, das einem die Preiszahlen vor die Augen trieb.
Ich stieg die breiten Stufen in einem schnelleren Tempo hinab, als ich aufblickte. Mein Atem begann schneller zu werden. Ich taumelte leicht zurück, bis mein Fuß die hintere Stufe berührte. Ich konnte nicht fliehen, nicht davor weglaufen. Einatmen, Ausatmen. Die Hitze schlug mir ins Gesicht und Schweißperlen begannen bereits sich auf meiner Stirn, wie auch auf meinem Rücken, zu bilden. Wieso hatte ich nicht den anderen Weg genommen, der gleich in das Esszimmer führte? Was sollte ich jetzt tun? Die Luft schien mit Absicht von mir fernzubleiben, hechelnd rangen meine Lungen danach und griffen jedes mal daneben. Wie hatte ich mich zu entscheiden? Wieso musste ich damals diese Wahl treffen? Ich hatte eine falsche Entscheidung nach der anderen getroffen. Meine Lungen schrien nach der Luft, wo war sie denn geblieben? Was hatte ich jetzt zu tun? Die rechte oder die linke Treppe? Links oder Rechts? Rechts oder Links? Welche Seite war die Richtige? Was war wenn ich die rechte Seite nahm und damit irgendeine mörderische Kettenreaktion auslöste? ...Links oder Rechts?...
Meine Knie verloren schließlich ihren Halt und ein stechender Schmerz durchzuckte sie, als ich am Marmorboden aufprallte. Irgendwo in einer Ecke hörte ich die Luft lachen, weil ich ersticken würde. Meine Hände begannen unwillkürlich zu zucken und ein Schluchzen entfuhr meinen Lippen. Ich zog meine Knie an und vergrub mein Gesicht zwischen ihnen. Wieso hatte ich mich damals so entschieden? Hätte ich mich anders entschieden, würden sie vielleicht noch leben. Kleine Luftstöße fanden den Weg in meine Lungen, aber es war nicht genug. Die Finsternis legte sich wie eine Decke über mich, sperrte meinen Atem aus. „Säs? Was ... ach du meine Hölle...“, leise drang die helle Stimme von meinem Bruder in die Dunkelheit meiner Gedanken. Ich vernahm laute Schritte, die sich anhörten, als würde jemand aggressiv in Regenpfützen springen. Starke Hände rissen mich aus der gefräßigen Dunkelheit. „Schschsch.“ Er drückte mich an seine Brust. „Atmen, Kleines. Atmen.“ Er wippte mich in einem ruhigen Ton hin und her. Die Luft schien auf ihn zu hören, ich machte tiefe Atemzüge.
Nach einiger Zeit löste ich mich von ihm und sah ihn an. „Michi,“, murmelte ich leise und drängte mich gegen seine warme Brust. „was soll ich machen?“ Er schob mich leicht zurück, seine großen Hände auf meinen Schultern und blickte mit einem sanften Lächeln auf mich hinab.
„Ich gehe rechts und du links, das kann nur richtig sein. Und weißt du wieso?“ Ich schüttelte den Kopf. „Die Linke ist die Flinke.“ Er zwinkerte mir zu und gab mir einen Kuss auf mein Haar, dann zog er mich mit einem Ruck nach oben und begab sich auf den rechten Weg. Ich wischte mir die Tränen weg und begab mich in die entgegengesetzte Richtung. ...alles war gut, es war die richtige Entscheidung, denn nicht ich hatte sie treffen müssen, also war sie sicherlich richtig, sie konnte es nur sein...
Mein Bruder ging voraus, wir betraten einen in die Länge gezogenen Raum. Es roch nach frischem Gebäck.
Einige Bilder, die meisten mit einer hübschen Frauen mit schwarzen Locken und engen Reiterklamotten oder schönen Kleidern darauf, prahlten an der hellen Wand. Tischdecken mit eingenähten Mustern kämpften nacheinander um die größte Aufmerksamkeit, die aber immer noch den frischen Blumen, die auf ihnen standen, gehörte. Eine der vier Wände wurde von Fenstern eingenommen, die sich bis zum Ende durchkämpften. Die durchsichtigen Schleier davor verschleierten das graue Licht und machten es heller, als es eigentlich war. Trotzdem erkannte man die Mitte des großen Hauses, eine Fläche Wiese mit mehreren, gut gepflegten lila Blumen und ein großer Kirschblütenbaum, dessen Blätter langsam einen orange-roten Stich annahmen.
Zwei Dienstmädchen, Sophia und Olivia, standen an der anderen braunen, geschlossenen Tür, von der ich sonst eigentlich immer den Raum betrat. Beide trugen sie ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze umgebunden und einer weißen Haube auf dem Kopf. Sophia hatte dunkelbraune Haare, wobei sie mir erzählt hatte, dass sie bloß gefärbt waren, die zu einem engen Zopf zusammengebunden waren, es hob ihre Wangenknochen stark hervor und ließ sie sehr streng wirken. Wo hingegen Olivia schwarze, kurze Haare hatte und zu einem eher lockeren Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Wie immer besaßen die zwei nur Augen für meinen Bruder, gerade, dass sie nicht wie Schulmädchen kicherten.
Michael schob mir einen der dreißig karamellfarbenen Ledersessel vor, die alle einen langen Esstisch umrundeten. Er legte mir eine Semmel auf den weißen Teller und schob mir die Marillenmarmelade rüber. „Danke“, murmelte ich leise und begann das knackige Brot zu halbieren, um es dann mit dem klebrigen Zeug beschmieren zu können, so, wie ich es immer machte. „Wünschen Sie noch etwas, Herr Liebs?“, fragte Sophia und trat einen Schritt nach vorne.
„Nein, danke.“ Er lächelte.
„Und Sie, Fräulein Säs?“ Wie lange ich gebraucht habe, um sie zu bitten nicht Liebs und erst recht nicht meinen richtigen Namen zu sagen. Unglaublich.
„Nein, danke“, antwortete ich. Die Beiden nickten.
„Sophie, Olivia. Der Kaffee ist wie immer köstlich.“ Sie strahlten. Dieser miese Lügner. „Aber bitte lasst mich und meine Schwester ungestört essen.“ Als hätte man einen Knopf betätigt, starrten sie ihn ohne Lächeln nur noch an und verließen schließlich mit einem leisen Schuhklackern den Raum. Bald hörte man nur noch, wie der Löffel gegen den Tassenrand stieß und das laute Schmatzen meines Bruders. Nur mich hörte man nicht, ich war leise. Schon immer. Oder eben seit drei Monaten. „Michi?“
„Ja?“ Er legte ein paar Scheiben rosiger Wurst auf seine Semmel.
„Du trinkst den Kaffee doch gar nicht.“ Er hustete, um sein lachen nicht laut preiszugeben.
„Ich mag dieses bittere Zeug auch nicht. Ekelhaft.“
„Wieso sagst du ihnen nicht einfach, dass du derjenige von uns beiden bist, der jeden Morgen den Kakao wie ein Trottel leer säuft, als wäre er kurz vor dem Verdursten?“ Er lächelte mich an, ein Heuchler – Grinsen.
„Weil es bei Frauen nun mal besser ankommt, wenn man für seine liebe, scheinbar schüchterne Schwester den Kakao verlangt, als wie für einen selbst.“ Michi nahm seine hellbraune Tasse und setzte sie an seine Lippen, als er sie fluchend wieder hinstellte und begann wie ein Hund zu hecheln. Da hatte sich wohl wer verbrannt. Ich schüttelte den Kopf und biss in mein Brot, während ich ihn beobachtete. Er atmete tief ein und aus, wobei er mit dem Sessel zurückrutschte und seine Hände zu zittern begannen. Seine unbezwingbaren Haare fielen ihm ins Gesicht, als er versuchte sich zu beruhigen.
...Kastanienbraun.
Braun.
Zwischen dem Braun eines Pizzateiges und dem Rehbraun ihrer Augen...
Doch sie waren einst blond. Besser als dieses elende braun.
„Wieso hast du dir deine Haare braun gefärbt?“, flüsterte ich in einem scharfen Ton, der ihm seine Ohren durchschneiden müsste.
„Das Thema hatten wir schon mal, weißt du noch?“ Natürlich wusste ich es noch. Der Streit damals zog sich drei Tage und immer bekam ich die selbe Antwort: „Weil es mir besser steht.“ Und das tat es nicht! Außerdem war das die blödeste Begründung, die er mir je gegeben hatte. Er rückte wieder nach vorne und stach sich eine Gurkenscheibe auf seine Gabel.
Ich seufzte und legte das Brot auf den Porzellanteller zurück. Mein Appetit war mir vergangen, wenn er überhaupt je anwesend gewesen war.
Ich erhob mich und man hörte, wie der Sessel am Boden schleifte und praktisch an ihm klebte. Ein Schauer lief mir über den Rücken. ...ich hasse dieses Haus...
„Um acht musst du draußen sein“, sagte mein Bruder. Ich ging ohne ihm zu antworten, doch dieses Mal nahm ich den Weg, bei dem ich mich nicht zu entscheiden hatte.
Oben kontrollierte ich grob nochmal meinen Rucksack und ließ ihn dann schlicht auf den Boden fallen. Er gab mir einen dumpfen Aufschlag als Antwort, den die Wände schmerzvoll verzerrten. Ich setzte mich an mein Leben.
Wieso muss Morella reich sein? Dann müsste ich nicht bei diesem ''exquisiten Projekt'', wie sie immer sagt, teilnehmen. Aber sie hat es entschieden, also war es richtig, oder?
Wenn mein Bruder mich mit seinen blauen Augen durchbohrt, es fühlt sich an, als würde er sie mir mit Eiszapfen ausstechen, es kommt mir manchmal so vor, als würde er bei mir nach etwas suchen. Er hat sich verändert. In den vier Jahren, ich weiß auch nicht, es hat ihm nicht gut getan von uns weg zu sein. Vielleicht hat er auch ein schlechtes Gewissen, weil er nicht da war, als es passiert ist. Daher könnten auch seine schlechten Noten kommen, aber die können doch nicht nur wegen...
„Wegen?“, fragte die klare und tiefe Stimme meines Bruders hinter mir. Das eigentliche Widerhallen bei alles und jedem hatte sich also mit ihm zusammen geschlossen. Wieso hatte ich ihn nicht gehört?
Ich schlug das Buch zu und erhob mich. Sein und mein Blick kämpften, kämpften um einen Sieg, der unerreichbar und doch so nah war. „Spinnst du?“, platzte es unförmlich aus mir heraus.
„Wieso?“
„Weil … ich meine … ach … es ist mein Geheimnis.“ ...seinen Blick werde ich nie, nie vergessen. Ernst und rigoros. Ein Schnitt, so klein und doch so tödlich, ging durch meine Kehle...
„Wenn es mich betrifft, würde ich es aber gerne hören.“
„Michi … du bist so anders.“ Ich biss mir auf die Unterlippe, so fest, dass sie anfing zu bluten. Jetzt wusste ich, wie flüssiges Metall schmeckte.
Sein Blick gab schlagartig nach. Da war er, mein Bruder. Doch die Schlacht begann wieder von neuem. Er schaute zu Boden, blinzelte öfters und mit einem strahlenden Lächeln erhob er die weiße Flagge.
„Das tut mir Leid, aber du weißt ja wie große, besorgte Brüder sind.“ Vor knapp fünf Monaten hätte mich das zum Lachen gebracht, jetzt musste ich nicht einmal schmunzeln. Schon fand ich mich in seinen Armen wieder. Das Gefühl setzte ein, weil er mich berührte. Er löste es aus! Ich fühlte mich verloren und doch sicher, mein Gehirn war total vernebelt, während mein Herz schlug, als wäre nichts. Es hing also mit ihm zusammen, er löste sich von mir.
„Ich mach das nie wieder.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“ Die Tür wurde aufgestoßen.
Morella Liebs hatte schwarze Haare, blaue Augen und verbrachte ihre wenige Freizeit im Solarium. „Seid ihr schon fertig mit packen?“ ...wie kann man nur so hochnäsig werden? Geld regiert ihre arrogante Seele...
„Ich würde gerne jetzt schon fahren. Stefano!“ Ich zog meinen Bruder zu mir. „Weißt du, wie froh die sein wird, wenn wir nicht mehr da sind?“, wisperte ich ihm in sein Ohr. Ein Schmunzeln beantwortete meine Frage, als plötzlich drei Männer, statt einer, herein traten und die Umzugkartons nach draußen trugen. ...das Geld zückt seine machtgierige Peitsche über jeden und jede...
„Ich warte draußen.“ Und schon war sie wieder weg. Perfekter Zeitpunkt für eine Beichte.
„Michi, ich hab meine Klamotten noch nicht eingepackt.“
„Ich auch nicht.“ Er lächelte wie ein Spitzbube, der gerade den besten Streich seines Lebens erfolgreich durchgeführt hatte.
„Und jetzt?“
„Morella hat mir 1000¤ gegeben.“ ...über jeden...
„Was?!“
„Sie hat gesagt, alle zwei Monate bekommen wir 1000¤ Taschengeld.“ Er setzte sich auf mein Bett. „Willst du nicht dein Leben fertig zitieren?“ Michael schmunzelte. Sein Lächeln erinnerte mich an eine Sonne, meine eigene, private Sonne, die nur für mich strahlte.
„Mach ich.“ Nach geschätzten, stillen fünfzig Minuten, in denen ich mit meinem Bruder gesprochen oder mein Leben gelesen hatte, wollte Michi, dass wir uns auf den Weg machten. „Du solltest wenigstens ein paar Ersatzklamotten und dein Waschzeug mitnehmen. Und deine Schminke, Säs!“ Er lachte.
„Haha.“
„Ja, wenn du ungeschminkt in die Schule gehen willst. Mir solls recht sein.“
„Ich gehe ja schon.“ Ein Seufzen entfloh meinen Lippen und ich packte mir ein paar Klamotten ein. Dann verschwand ich im Bad, um mein Zeug zusammen zu suchen.
Michi kam mir mit meinem Rucksack entgegen. „Rein dami …. Scheiße, ist das viel.“
„Na und? Ich bin ein Mädchen, Michi. Das braucht viel.“ Ich legte meine Sachen in die nun überfüllte Tasche und zusammen machten wir uns auf den kurzen Weg.
Wir nahmen die Stufen vom Esszimmer.
In der darauf folgenden, leeren Eingangshalle zog ich meine eisig blaue Sommerjacke an und schlüpfte in meine roten Converse. „Hast du keine wasserdichten Schuhe?“, fragte mich Michi mit einem spöttischen Blick auf meine, obwohl er selbst dunkelblaue trug.
„Nein, wieso auch?“ Michi riss die dunkelbraune Tür auf, statt mir eine Antwort zu geben. Der Regen prallte aggressiv auf den Kiesweg ab, als wollte er jeden kleinen Stein sprengen. Vor dem schwarzen Auto sah ich Morella unter einem Regenschirm stehen. „Wir müssen uns von ihr verabschieden“, begann er und streckte seine Hand nach draußen, in kürzester Zeit war sie nass. „Dann gehen wir weiter zum Audi, alles klar?“ Ich wollte mich zwar verabschieden, wollte aber nicht zu ihr hingehen. Was hatte sie denn auch Wichtiges für mich getan? Gut, sie hatte mich zu sich genommen, aber sie war sowieso nie da. „Du zuerst“, lachte er und riss mich somit aus meinen diabolischen Gedanken. Ich warf mir die Kapuze über und lief den Kiesweg zu Morella entlang, der es anscheinend sogar zu anstrengend war, den Schirm selbst zu halten. Während sie Schutz fand, hämmerte der Regen wie kleine Nadeln auf mich ein. Ich spürte, wie er sich durch meine Jacke, in meine Haut einritzte und Wunden hinterließ, die wie aus dem Nichts wieder verschwanden. „Also dann“, begann ich überfordert und schielte leicht zu Michi. Auch wenn der Regen mir das meiste meiner Sicht geraubt hatte, konnte man sein Grinsen nicht übersehen. „Vielen Dank … für alles.“ Ich schluckte. Was war alles? Ein Dach über den Kopf und Ende September in ein Schulprojekt gesteckt zu werden. Sie lachte unsicher.
„Ich wünsche dir viel Spaß und lerne brav.“ Das hatte ich nicht erwartet, sie wünschte mir etwas, vielleicht hatte ich mich doch in ihr getäuscht und alle Vorurteile kamen nur, weil sie nicht so oft hier war. Nun war es zu spät, um sie besser kennen zu lernen. „Ich würde dich ja gerne umarmen, aber dann würde meine neue Designerhose nass werden.“ Zu früh gefreut. Wir schüttelten uns die Hände und schon lief ich zum Audi. Ich war nass bis auf die Knochen und fühlte, wie sich die Viren nur so auf mich freuten, würden sie mich zerstören, wäre das bereits in fünf Minuten erledigt, wenn nicht sogar weniger. Kurze Zeit später saß auch mein Bruder völlig durchnässt mit unseren Taschen neben mir. Sogar meine Schnürsenkel tropften und könnten damit sicherlich die schlimmste Überflutung der Welt starten. Der Motor schnurrte wie ein Kätzchen und die Reifen taten sich mit der Straße zusammen.
Vier Stunden Fahrt, weil wir im Stau standen, doch bald schon würde ein neuer Abschnitt in meinem unwichtigen Leben beginnen. In der kleinen Gemeinde Lassing
. Ich riss den Rucksack an mich und öffnete ihn hastig. „Verflucht“, zischte ich. Ich hatte meines bei Morella vergessen.
Texte: © by Hayley Amon
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2011
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