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Vorwort 22. Mai 2009

Ich sitze an meinem Schreibtisch, rechts von mir zwei Engelsfiguren, eine schwarze Herzschale mit roten Glasherzen und schwarzen Steinen auf denen die Worte Liebe, Mut, Gesundheit, Erfolg, Glück und Hoffnung stehen – ein Andenken an sieben harte Wochen Klinikalltag. Vor mir, hinter dem Notebook, ein Fenster von dem aus ich auf die Straße sehen kann. Ich sehe auf einen kräftigen Kastanienbaum und überlege, wie man wohl am besten ein Buch anfängt.

Es ist wohl am interessantesten erstmal die Frage zu klären „Warum ein Buch schreiben, wo es doch schon genügend Andere gibt, die ihre Geschichte in Einem veröffentlichten?“

Nun, ich denke, das hat in meinem Fall mehrere Gründe. Mit dem Gedanken spielte ich eigentlich jedes Mal, wenn ich ein Buch über das Leben eines Anderen las. Aber konkret wurde der Wunsch vor einigen Wochen, als ich im Aufenthaltsraum der Psychosomatischen Station des Kreiskrankenhauses in Simbach am Inn saß und mir das Buch einer ehemaligen Patientin von dort durchlas. Ihre Geschichte war meiner ähnlich, wobei sich die Geschichten der Patienten auf solchen Stationen ja immer irgendwie ähneln. Jedenfalls bewegte mich dieses Buch und seitdem verspüre ich den Drang selbst ein Buch über meine Geschichte zu schreiben. Zum Einen weil ich die Möglichkeit sehe, mein Schicksal besser tragen und verarbeiten zu können, wenn ich es auf schwarz/weiß sehe und zum Anderen um den vielen Borderline-Patienten da draußen Mut zu machen und zu zeigen, dass sie nicht allein sind und das Leben trotz dieser Krankheit schaffen können.

Eigentlich wollte ich nur meine Tagebücher abschreiben, die ich seit ich elf Jahre alt bin führe. Allerdings habe ich diese Idee wieder verworfen, da vor meinem elftem Lebensjahr Dinge passierten, die mich wohl sehr beeinflusst haben und in den Tagebüchern auch viele unbedeutende Dinge stehen und wiederum Wichtiges nur in meiner Erinnerung und nicht auf dem Papier existiert.

Somit werde ich im ersten Teil meine Erinnerungen aufschreiben, im zweiten Teil meine Tagebücher als Gedächtnisstütze hinzuziehen und Dich auf meine Reise durch mein bisheriges Leben einladen.


Teil 1
Blitzbilder hinter geschlossenen Lidern

Meine Geschichte beginnt bereits ein Jahr vor meiner Geburt. Am 24. April 1987 brachte meine Mutter am Abend einen Sohn zur Welt – Thomas. Am nächsten Morgen, noch bevor ihm mein Vater im Leben willkommen heißen konnte, war er verstorben – zu klein, zu schwach. Nach diesem Vorfall wurde meiner Mutter geraten sich in Therapie zu begeben um den Verlust zu verarbeiten und vor allem erstmal nicht schwanger zu werden. Meine Mutter meinte jedoch, sie können den Tod des ersten Kindes nur verarbeiten, indem sie gleich wieder schwanger würde – mit mir. Am 25. 04. 1988 erblickte ich gegen 5 Uhr morgens das Licht der Welt – mit einem Klumpfuss und fehlendem Kreuzband durch den Abgang eines Zwillings am Anfang der Schwangerschaft. Es folgten schon in den ersten Lebenswochen Operationen, an die ich mich jedoch nicht mehr erinnere. In den ersten Lebensjahren ruinierte ich mir dann noch durch einen Sturz auf der gleichen Seite die Wachstumsfuge des Beines – wenn schon, dann richtig.

Wenn ich an die Jahre zurückdenke in denen ich noch ein Kleinkind war, also ca. unter 5 Jahren, kann ich viele Bilder und Situationen vor mir sehen. Ich erinnere mich schemenhaft daran, dass ich auf dem Bauch im Kinderbettchen liege als meine Mutter und mein Vater davor stehen und Mama zu mir sagt: „Papi geht noch mal für eine Übung zur Bundeswehr“, mein Vater trägt einen Seesack auf der Schulter und verabschiedet sich liebevoll von mir. Ein anderes Mal liege ich mit dem Kopf auf einem Kissen mitten in meiner Kinderzimmertür, langweile mich und sehe meiner Mutter beim Gürtel nähen zu. Danach kommen Bilder wie wir bei meiner Oma mütterlicherseits sind, ich in einem Korb sitze oder Oma zu uns nach Hause kommt, mit mir auf den Spielplatz geht. Ein anderes Mal sehe ich wie ich in mein Puppenbettchen klettere, das ich zu Weihnachten bekomme und meine Verwandtschaft entzückt lacht wie goldig ich nicht bin – ich, das zu diesem Zeitpunkt noch einzige Kind in der Familie. Doch zwischen Bilder der Idylle drängen sich dunkle Bilder, Bilder die Angst machen. Ich sitze auf dem Fußboden im Flur unserer Wohnung. Meine Eltern stehen vor mir, streiten, schreien sich an. Ich höre zwar die Worte, kann jedoch nicht wirklich verstehen worum es geht – es interessiert mich auch nicht, denn ich spiele unbemerkt mit einem Schlüsselbund. Die Bilder wechseln, jetzt stehe ich zwischen meinen Eltern unter der Haustür. Mein Vater betrunken vor der Tür, meine Mutter aufgelöst in der Wohnung. Ich weiß nicht wie mir geschieht, ich werde zwischen ihnen hin- und hergeschubst „Kannst deine Tochter mitnehmen“, „Nö, die bleibt jetzt bei dir“. Wie die Szene ausgeht, weiß ich nicht, die Situation wechselt wieder. Ich habe Bauchschmerzen, liege weinend im Bett, von dem die Gitterstäbe mittlerweile abmontiert sind. Man beachtet oder bemerkt mich nicht. Ich stehe auf, tapse zur Küche, möchte etwas trinken, doch da schießt mein Vater aus dem Wohnzimmer. Packt mich, schüttelt mich – ich solle zurück ins Bett. Ich heule nun so richtig, liege wieder im Bett und rufe in den Flur, dass ich doch so Bauchweh hab. Ich höre von meiner Mutter nur: „Ja, da ruf ich am besten mal den Krankenwagen“. Ich rufe in Angst und Panik: „Nein!! Bitte nicht!!“ und sie sagt zufrieden: „Tja, dann kanns nicht so schlimm sein. Gute Nacht.“

Anfang 1993 kommt mein kleiner Bruder zur Welt – Timo. Ich freue mich furchtbar und bin total stolz, dass ich jetzt ein Geschwisterchen hab. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, das wird mir schon sehr bald vergehen. Bei Timos Geburt ging etwas schief – wegen des hohen Gewichtes meiner Mutter kann kein Kaiserschnitt gemacht werden und der Arzt zerreißt dem Baby die Muskeln des rechten Armes – dieser bleibt gelähmt. Ab diesem Moment spiele ich in der Familie nur noch die zweite Geige, meine Mutter hat gegenüber dem Kleinen tiefe Schuldgefühle. Nach nur wenigen Monaten hasse ich meinen kleinen Bruder. Wenn niemand hinsieht zwicke ich das unbeholfene Kleinkind und tu dann recht verwundert als er anfängt zu weinen. Meine Mutter merkt nichts, ich weiß, würde sie es bemerken, würde ich mir eine einfangen, tu es aber trotzdem. Sie will oft allein mit ihm sein – ich bin unendlich eifersüchtig. Und was ich als Kind nicht weiß: Meine Mutter steht mit einem Fuß in der Hölle. Mein Vater säuft und das seit Anfang der Ehe. Und wenn sich der Alkohol im Blut meines Vaters ausbreitet hat er große Lust zu streiten.

Als ich fünf Jahre alt bin, ziehen wir ins ein paar Kilometer entfernte Dorf. Erstmal wohnen wir bei meiner Oma und Opa, meine Eltern bauen nebenbei am angrenzenden Grundstück ein Haus. Nach den Sommerferien gehe ich in einen neuen Kindergarten. In dem neuen Dorf wohnen keine Kinder in meinem Alter und ich streune gelangweilt zwischen den verschiedenen Bauernhöfen hin und her. Da ich nachmittags, also größtenteils, keinen Kontakt zu Gleichaltrigen habe, bin ich im Kindergarten extrem schüchtern und finde keinen Anschluss. Es macht mir nicht sonderlich zu schaffen – ich gewöhne mich dran. Sonderlich schlechte Erinnerungen hab ich an die Zeit bei Oma nicht. Meine Eltern sind entweder im Beruf oder arbeiten am Haus und als ich in die erste Klasse komme, finde ich auch wieder ein paar Freunde.

Am Ende der ersten Klasse beginnt ein neuer Abschnitt für mich. Durch die kaputte Wachstumsfuge meines Beines beträgt der Längenunterschied zwischen meinen beiden Beinen mittlerweile um die neun Zentimeter. Ich erinnere mich nur noch bruchstückweise an verschiedene Krankenhausbesuche, bei denen ich von vielen Ärzten begutachtet werde, die dann mit meinen Eltern sprechen und nach denen meine Mutter immer auf den Heimfahrten weint. Irgendwann wird uns ein Spezialist in Heidelberg empfohlen, der meine Beinverlängerungen vornehmen will. Die Erste findet also in den Sommerferien nach der Ersten Klasse statt, mein Vater bleibt die erste Woche mit mir im Krankenhaus, meine Mutter die Zweite, wobei die Woche mit meinem Vater wesentlich entspannter abläuft. Meine Mutter ist nervös und ständig genervt und so bin auch ich quengelig und lasse keine Möglichkeit aus sie anzuschnauzen. Irgendwann ist sie mit den Nerven so am Ende, dass sie mich für ein paar Stunden einer Psychologin mitgibt. Der erzähle ich Vieles von daheim. Ich weiß heute noch, dass es sich nur darum drehte wie benachteiligt ich mich meinem Bruder gegenüber fühlte daheim. Nach zwei Wochen werde ich entlassen, wir fahren den weiten Weg nach Hause und ich bin dort sehr labil. Bin leicht zum weinen zu bringen, komme nicht gut damit klar nur mit Krücken und auf einem Bein laufen zu können und langweile mich zu Tode. Außerdem hasse ich die Krankengymnastik und habe Panik vorm Fixateur saubermachen, was extreme Schmerzen bereitet. Es wurde mein Oberschenkel verlängert und oben und unten waren jeweils zwei Schrauben im Knochen, die noch ca. 10 cm aus dem Bein raus ragten und die einmal die Woche gereinigt werden mussten, damit sich nichts entzündet. Ich habe die Löcher vom aggressiven Lösungsmittel noch heute an der Außenseite des Oberschenkels. Trotz Allem führt kein Weg daran vorbei, nach den Ferien wieder zur Schule zu gehen – mit den Krücken durch den Herbst und den Winter – ich weiß nicht mehr wie oft ich ausgerutscht und auf die Schrauben gefallen bin. Wie gut dass mein Klassenzimmer „nur“ im dritten Stock war und die Schule keinen Aufzug besaß.

In diesem Winter, in dem ich die Schrauben mit mir herumschleppe ziehen wir endlich in unser Haus ein – es ist fertig. Es wurden zwei sehr große Kinderzimmer gebaut, aber mein Bruder und ich teilen uns erstmal nur eins, weil das andere voller Umzugskartons steht. Wir verbringen Weihnachten und Silvester in friedlicher Eintracht und einige Tage danach fahren wir erneut nach Heidelberg um die Schrauben rausoperieren zu lassen – denn neben dem Hausbau ist auch der erste Teil der Verlängerung ist abgeschlossen. Dann ist erstmal mehr oder weniger Ruhe und es gibt keine gravierenden Einschnitte. Ich komme in die dritte Klasse, gehe ab und zu zur Nachbarin, die mich auf ihrem Pony spazieren führt, komme zur Kommunion, die riesengroß bei uns zu Hause gefeiert wird. Von dem geschenktem Geld bekomme ich neue Möbel und somit endlich mein eigenes Zimmer.

Am Ende der dritten Klasse, geht es allerdings weiter – die zweite Verlängerung steht bevor. Diesmal geht es nach Wiesbaden, da der Arzt nach dort übergewechselt ist und die Operation diesmal komplizierter von statten geht als beim ersten Mal. Der Klumpfuss soll neben der Verlängerung des Unterschenkels begradigt werden. Die Operation dauert mehrere Stunden, mein Vater wartet vorm OP und weicht auch in den zwei Wochen Krankenhausaufenthalt danach nicht von meiner Seite. Ich habe bis auf die Schmerzen beim Verbandswechsel sogar Spaß mit meinem Vater, meiner Zimmerkollegin und deren Vater. Nachdem ich wieder entlassen bin habe ich zu Hause wieder Krankengymnastik, die für mich die reinste Hölle ist, da ich meinen Therapeuten alles andere als komisch finde – im Gegensatz zu ihm. Mir scheint, als würde es ihm einen Heidenspaß bereiten, mir auf meine überstrapazierten Nerven zu gehen, indem er mich ständig mit dem Zeigefinger in den Bauch piekt. Das Ende der Geschichte – ich bin bereits in Tränen aufgelöst bevor er überhaupt aufkreuzt und bekommen letzten Endes eine Therapeutin, mit der ich Spielchen treibe, da sie nicht wirklich deutsch kann. Alle zwei bis drei Wochen muss ich nach Wiesbaden zur Untersuchung und manchmal darf ich gleich noch ein paar Tage bleiben, damit der Arzt operativ irgendwelche Verbesserungsarbeiten am Fixateur machen kann. Zum Glück bekam ich den Draht, der durch die große Zehe und bis zur Ferse ging, gleich ziemlich am Anfang wieder raus. Denn Dieser war eigentlich der einzige, der Schmerzte. Diesmal muss ich die Wunden um die Schrauben nicht mal mehr verbinden, da sich das Riesen-Metallgebilde wie ein überdimensionales Piercing an meinen Unterschenkel angepasst hat. Richtig hart wird erst die Zeit nachdem ich das ganze Eisen wieder rausbekommen hab – denn ich muss, nach beinahe einem Jahr auf einem Bein und Krücken unterwegs, wieder vollkommen laufen lernen. Wie man sich das vorstellen darf? Stell Dir vor, du wüsstest nicht einmal mehr, was du mit deinen Händen beim Gehen anstellen sollst und dich darauf so konzentrierst, dass du vergisst zu atmen… War extrem anstrengend und ich bin mehr als einmal in verzweifelten Kindertränen zerflossen. Aber offensichtlich hab ich es wieder hingekriegt, denn ich stehe jeden Morgen auf – oftmals mit dem falschen Fuß.

Zu meinem 10. Geburtstag bin ich immer noch mit einer Krücke oder mit dem Fahrrad unterwegs. Und da ich somit vermeide zu Gehen bekomme ich von meinem Vater meistens vorwurfsvolle Blicke und ein „Geh endlich wieder richtig oder wir schicken dich auf Reha!“, das ich mit Tränen beantworte. Immer wenn ich weinen muss, zieh ich mich in mein Zimmer zurück, werfe mich aufs Bett und ritze mit dem Fingernagel ins Holz des Fußteils einen Strich. Warum ich das tue weiß ich nicht, aber als ich das Bett mit 16 gegen ein Anderes tauschte, kann man die Striche vor lauter Strichen nicht mehr sehen. Des Weiteren verspricht mir mein Vater, wenn ich wieder richtig Gehen kann, baut er meinem Bruder und mir im Garten ein Baumhaus – das bis heute niemals angefangen wurde, was jedoch typisch für ihn ist wenn es um Versprechen geht. Doch bin ich jetzt jedoch völlig von der eigentlichen Erinnerung abgekommen – also noch mal. Zu meinem 10. Geburtstag sitze ich in meinem Zimmer und mein Vater baut mir die Stereo-Anlage auf, die ich geschenkt bekomme. Damals war ich sehr stolz darauf, wenn ich allerdings heute daran denke, bring ich sie immer nur mit der Trunksucht meines Vaters in Erinnerung. Denn immer wenn ich abends nach Hause kam und eben diese Stereo-Anlage, die übrigens im 1. Stock in meinem Zimmer stand, bereits vor der Haustür hörte, wusste ich was los ist. Mein Vater hatte und hat eine Neigung wie ein Irrer die Musik aufzudrehen wenn es mal wieder soweit ist. Wahrscheinlich sind mir deshalb laute Geräusche aus HiFi-Geräten in Wohnungen bis heute unangenehm. Eigentlich verrückt, wie einen Erinnerungen prägen können.

Im gleichen Jahr macht sich der Alkoholismus meines Vaters auch für mich bemerkt. Meine Mutter, mein Bruder und ich sitzen eines Sonntag Abends vorm Fernseher, als mein Vater vom Karten spielen zurückkommt – betrunken. Er sieht, dass wir X-Faktor ansehen und schnauzt sofort meine Mutter an „Das sind noch Kinder, was schaust du mit den Kindern so was an!?“ Ich sage: „Aber Papi… das gucken wir doch jeden Sonntag…“ Er antwortet nur: „Sei nicht so frech, ab in dein Zimmer.“ In meiner schusseligen Art krebse ich hinter dem Wohnzimmertisch hervor, was meinem Vater offenbar nicht schnell genug geht. Er packt mich am Arm, reißt mich hinterm Tisch vor, schlägt mich. Ich falle, versuche wegzukrabbeln, aber auf der Treppe erwischt er mich und tritt mir in den Hintern. Ich falle wieder, rappel mich dann jedoch schnell auf und renn die Treppe hoch. Aufgelöst heulend schreie ich: „Du spinnst doch völlig!“ Das hätte ich mal besser nicht getan – er rennt die Treppen hoch, wirft mich aufs Bett und prügelt auf mich ein. Ich kreisch mir die Lunge aus dem Leib vor Schmerzen, höre meine Mutter schreien „Wolfgang! Hör auf!“, doch zur Hilfe kommt sie mir nicht. Kurz darauf hört mein Vater auch auf, ich bleibe weinend in meinem Zimmer zurück und verstehe die Welt nicht mehr. Kurz darauf passiert das gleiche Szenario noch einmal. Wieder aus einem völlig nichtigem Grund. Mein Bruder steht grinsend daneben und freut sich, dass es ihn mal wieder nicht getroffen hat. Komischerweise traf es ihn tatsächlich so gut wie nie. Es reichte, wenn, dann zu Hausarrest, über den er sich aber immer hinwegsetzte und einfach von zu Hause „ausbrach“. Und es zog auch nie Konsequenzen nach sich. Wenn ich jedoch meinen kleinen Bruder nur mal in einem unpassenden Ton ansprach, bekam ich „Reitverbot“, was für mich die größte Strafe war.

Ich bekomme nämlich nach endlosem Betteln mit 11 Jahren zum ersten Mal Reitstunden. Ich finde darin zum ersten Mal einen Sport, den ich trotz meinem, nach der Operation steifem Sprunggelenk, mit Freude ausüben kann und die Bindung zu den Pferden tut mir sehr gut. War eigentlich klar, dass mir daraus sofort wieder ein Strich gedreht wird, der sich beim kleinsten Schnitzer meinerseits zuzieht. Mit Vorliebe handhabt es meine Mutter so, mir bereits am Montag oder Dienstag Reitverbot zu erteilen, damit mir die ganze Woche versaut ist und ich ständig am heulen bin, wenn meine Verhandlungsversuche nicht klappen.

Mein Vater verliert bei einem Arbeitsunfall sein Augenlicht und als er wieder arbeiten kann, ist die Firma seines Arbeitgebers pleite. Somit muss er sich nach einem neuen Arbeitsplatz umsehen und findet nur auswärts eine Firma, die ihn einstellt – Der große Auftakt zum endgültigen Zerbrechen unserer Familie. Montagmorgens fährt mein Vater zur Arbeit, Freitagabends kommt er wieder zurück. In der Zeit, in der er zu Hause ist, herrscht meistens Krieg zwischen meinen Eltern. Er säuft und es beginnt das altbekannte Phänomen – er geht zu meiner Mutter und brüllt sie an. Einen Grund zum Streiten und Niedermachen findet er immer.

Ich bin mittlerweile 12 Jahre alt und kurzzeitig gehe ich ein Jahr gar nicht mehr Reiten, bin aber stattdessen noch weniger zu Hause. Ich verbringe meine ganze Zeit bei meiner Tante, meinem Onkel und meinem wenige Monate altem Cousin, um dem ganzen Terror, der mit der Zeit immer extremer wird, zu entfliehen. Während ich in eine intakte Familie flüchte, flüchtet meine Mutter in eine Welt, die sie sich durch zahllose Internetkontakte aufbaut. Sie macht nichts mehr im Haushalt, denn mein Vater behandelt sie so oder so wie Abschaum, sondern sitzt Tag und Nacht am Computer um zu chatten oder um zu telefonieren. Sie kümmert sich mit vollem Einsatz um wildfremde Leute, die irgendwelche Probleme haben, schlägt mich mit der Faust auf den Kopf, wenn ich den Haushalt nicht nach ihren Wünschen erledige und zieht sich, wenn sie mal nicht am PC sitzt mit meinem Bruder ins Wohnzimmer zurück um ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Mein Bruder, der mittlerweile keinen Respekt vor irgendjemandem mehr hat, hat keinen Bock auf Hausaufgaben und somit höre ich das Geschrei und Gebrülle der beiden bis in mein Zimmer, in das ich mich zurückziehe wenn ich nicht bei meiner Tante bin.

Als ich wieder zu Reiten anfange, verbringe ich die Zeit unter der Woche bei meiner Tante oder in meinem Zimmer und das gesamte Wochenende auf einem Reiterhof, auf dem ich ein Pflegepferd bekommen und mir einen großen Freundeskreis aufgebaut habe. Niemand weiß, wie es mir zu Hause geht, denn wenn ich bei ihnen bin, bin ich ein fröhlicher und witziger Mensch und denke nicht an zu Hause.

Drei Jahre setzen sich so fort und in der Neujahrsnacht von 2003 spitzen sich die Streitereien zu. Mein Vater ist betrunken und möchte mit seinem neuen Auto nach Hause fahren. Meine Mutter setzt sich so schnell es geht ins Auto, damit er in seinem Zustand nicht mit meinem Bruder und mir wegfährt. Er brüllt meine Mutter vor allen an und versucht sie ausm Auto zu zerren, was ihm jedoch nicht gelingt. Dann knallt er ihre Autotür zu und geht zu Fuß nach Hause. Auch wir fahren nach Hause und meine Mutter bittet mich, Opa anzurufen, wenn sie später meinen Namen nach oben ruft. Etwas später kommt auch mein Vater nach Hause und wie erwartet fängt er wieder an, meine Mutter mit Vorwürfen zuzubrüllen. Ich höre es knallen, weiß nicht was passiert und meine Mutter schreibt panisch meinen Namen. Ich rufe mit dem Telefon in meinem Zimmer Opa an, der auch kurze Zeit später auftaucht und mit meinen Eltern redet. Es ist wieder still und ich weiß nicht was da unten los ist. Ich habe Angst und schlafe damit ein. Der Frieden nach dieser Nacht währt nicht ewig. Einige Wochen später geht es wieder los und mein Vater verwüstet regelmäßig im Streit unser Wohnzimmer und als er die Holzkiste, das Telefon und den Tisch nach meiner Mutter wirft, entscheidet meine Mutter auszuziehen. Sie lernt im Internet einen Mann kennen, der ihr den Absprung aus diesem Wahnsinn ermöglicht. Ich bin völlig durch den Wind, suche immer wieder die Nähe zu meiner Mutter. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich weinend vor ihr knie und sie frage warum sie mich nie in den Arm nimmt. Sie sitzt am Computer, sieht mich nicht mal an und sagt: „Weil ich dich eben nicht so gern haben kann, wie deinen Bruder.“ Ich breche weinend in mich zusammen und sie sagt emotionslos, beinahe spöttisch: „Tu noch ein bisschen so dumm und ich ruf den Krankenwagen. Du bist doch nicht ganz sauber.“ Ein paar Tage später soll ich wie jeden Abend meinen aufsässigen Bruder ins Bett bringen. Ich versuche es zweimal und nachdem er wieder aufsteht, gehe in meinem Zimmer, da ich für eine Schulaufgabe am nächsten Tag lernen muss. Ich befinde mich im Abschlussjahr der Realschule. Meine Mutter brüllt vom PC aus, ich solle meinen Bruder jetzt sofort ins Bett bringen. Ich rufe nach unten, dass es heute nicht geht und sie schreit hysterisch nach oben, ob sie erst hochkommen müsste. Ich murmle etwas in Richtung Leck-mich-am-Arsch und ich höre, wie meine sonst so träge Mutter aufspringt und die Treppe hoch gerannt kommt. Mir schießt Adrenalin in die Adern und sperre instinktiv die Tür ab. Sie will in mein Zimmer rennen, aber die abgeschlossene Tür stoppt sie. Sie schreit, ich solle sofort aufmachen. Ich tu es nicht. Sie schreit es noch mal – ich tu es nicht. Ich höre, wie sie meine mühsam aufgehängte Bildercollage streifenweise von der Tür reist. Mein Bruder steht offenbar auch mit vor der Tür und sagt zu meiner Mutter: „Gib her, ich reiß es ganz klein und schmeiß es gleich weg.“ Sie droht mir jetzt, die Tür einzutreten und ich wimmere angsterfüllt, da wirft sie sich das erste Mal dagegen. Die Tür geht kurz soweit auf, dass ich nach draußen sehen kann und springt ins Schloss zurück. Sie droht mir wieder, sie würde die Tür ganz aufbrechen und dann würde sie mich ordentlich verprügeln. Ich habe furchtbare Angst. War hab ich für eine Wahl. Aufmachen und sofort geschlagen werden? Warten, dass sich ihr Zorn noch mehr steigert und dann geschlagen werden? Kurzzeitig schießt mir der Gedanke in den Kopf, ich könnte schnell zur Balkontür, die in meinem Zimmer ist, raus rennen und dann 3 Meter in die Tiefe springen. Ich würde wahrscheinlich blöd aufkommen und mir das Genick brechen. Es scheint mir verlockend, doch da knallt meine Mutter von draußen gegen die Balkontür. Der Balkon ist über ihr Schlafzimmer auch zu erreichen. Plan gestrichen. Sie brüllt weiterhin ich solle sofort aufmachen, geht wieder nach drinnen und schmeißt sich zum wiederholtem Male gegen meine Tür. Es kracht, das Schloss ist kaputt, die Tür geht nicht mehr zurück. Sie lacht dreckig und sagt, wenn ich rauskomme und das müsse ich irgendwann, dann könne ich was erleben. Mein Bruder sagt noch etwas von: „Cool… Schloss kaputt… Das sag ich Papa, dass Tanja das Schloss kaputt gemacht hat.“ Meine Mutter schickt ihn ins Bett und er geht ohne zu murren. Sie geht wieder nach unten auf ihren Platz vorm Computer. Ich sitze nach wie vor in meinem Nachthemd hinter meiner Tür und weine panisch aber leise vor mich hin. Am nächsten Tag fiel kein Wort mehr darüber aber mit der schlechten Note in der Schulaufgabe ist der nächste Ärger vorprogrammiert.

Im Herbst 2003 zieht meine Mutter mit meinem Bruder aus. Ich bin erleichtert, nicht mitzumüssen. Denn bis zu diesem Zeitpunkt hab ich mich zumindest von den beiden Elternteil immerhin mit meinem Vater besser verstanden. Er brachte mir gegenüber meistens Verständnis auf, nur um meiner Mutter eins reindrücken zu können. Was ich nicht ahne, als ich mich entscheide bei meinem Vater zu bleiben – wenn meine Mutter weg ist, fällt der ganze Ärger mir zu. Und somit bin ich froh, als ich Anfang 2004 mit meinem ersten Freund zusammenkomme und nach meinem Abschluss im Sommer zu ihm uns seinen Großelter in einen 50 Kilometer entfernten, größeren Ort ziehe.

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Tag der Veröffentlichung: 26.05.2009

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