Nachtschwester
Schlaf macht dreh zurück, denkt Kurti, und zurrt seine schwarze Büx über seinen dürren Hintern.
Doch wer will schon zurück drehen, die Zeit, das Leben, sein Dasein?
Ja, wer?
Der Kurti auf jeden Fall keineswegs. Denn zurückgedreht war es weder besser noch schöner noch sonst was, nur früher. Eben!
Noch die Treter anne Füße, Lederjacke oben drüber und Schlüssel rein und wieder raus und auffe Straße runter. Segel setzen, Nase in n Wind, Witterung aufnehmen.
Auffe Straße is nix zu wittern. Nur n paar Spießer unterwegs. Graue, verkniffene Gesichter. Visagen für Abführmittelwerbung. Dazwischen Gesindel auf der Pirsch, Styleomaten werfen sich vorsorglich in Pose.
Alles wie gehabt.
Nasse Straße spiegelt Neongeflimmer. Lichter zucken. Rot. Blau. Gelb is kaputt. Auch egal. Leben lebt sich weiter.
Kurti zockelt ab Richtung Amüsement. Vorbei an bunt beleuchteten Fenstern. Fernseher arbeiten. Volk hockt davor, träumt die maßgeschneiderten frei Haus gelieferten Illusionen. Volk lebt vorgefertigtes fremdes Leben. Schlafwandler - Leben. Nix für den hippen urbanen Nomaden. Nix für Kurti. Denn der Kurti muss in Bewegung bleiben. Nix is öder als Stillstand. Paralysiertes Leben, festgewachsen vor TV - Beruhigungsmitteln, oder Göttern, oder Altären, hat noch niemanden zum Helden gemacht.
Also bewegt sich der Kurti. Latscht übern vertrauten Asphalt. Bekannter Grund und Boden. So vertraut wie die Falten im Gesicht seiner Mutter.
Und doch ist da immer etwas neues, noch unerkundetes auf seinem Weg. Fremde Schatten, Menschen, Gesichter und Geschichten.
Junkie anner Ecke. Steht da mit leblosem Gesicht und gierigen Venen. Aufrecht gehalten vom Restgift und der Hoffnung auf Nachschub.
Auch ne Art Schlaf zu wandeln.
Daneben noch n Typ. N Schatten - Typ mit Gangsterfresse und Röntgenblick. Auf der Lauer nach gestopften Besoffenen bei denen es lohnt den Harten zu spielen. Den kennt der Kurti. So nebenbei und her. Keine Gefahr. Kurti steuert die andere Straßenseite an. Schrottkarren - Slalom übern Asphalt. Drüben brennt Dönerduft Löcher in die Finsternis. Fette Hungerstiller füttern fahle Nachtwandler hinter schmierigen Schaufenstern. Kurti trabt vorbei. Is schon satt vom Sehen, schon satt vom Nacht - Atmen. Trotzdem Appetit. Appetit auf n Krebsspargel. Also ne Kippe zwischen die Lippen. Flamme dran, und tiiiiiief einatmen den giftigen Rauch. Schon besser.
Und dann sieht er sie. Genau gegenüber anner Ecke steht sie. Keine zwanzig Meter entfernt, und doch Millionen Kilometer weit weg.
So ein Wesen, ganz ätherisch, und doch ganz körperlich. Steht da mit ihrem einsamen Gesicht in der Menge. Engelgesicht. Teenager - Gesicht mit hundertjährigen Augen, die zu den Sternen blicken.
Ein Augenblick wunderlichen Erstaunens schält sich durch Kurti ´s Hirn. Dann klare und kalte Erkenntnis. Die da muss es sein. Die zukünftige Begleiterin, die Mitreisende, die Nachtschwester.
Kurti macht sich ran, stolpert über ´n vermüllten Rinnstein, vernimmt grandiose Geräusche. Musike dröhnt ausse Eckkneipe. Der Achim, der Reichel, der singt: "Die Nacht hat viele Sterne, und zwei davon sind wir... nur wir..."
Na, wenn das nich n Zeichen is, denkt der Kurti, dann weiß ich ´ s auch nich. Und er stellt sich neben diese Frau, dieses Engelsgesicht, diese Sternenguckerin mit den alten Augen. Kurti guckt auch; guckt der Nachtschwester ins Gesicht, dann ebenfalls nach oben. Guckt in den schwarz lackierten Himmel mit den silbrigen Punkten und denkt doch an was ganz anderes. Kurti denkt also und spricht endlich:
"Schlaf macht dreh zurück, die Zeit, das Leben."
Blöder Satz das, denkt der Kurti, und kriegt ihn trotzdem nich ausser Birne. Die Nachtschwester glotzt ihn an, mit ihren uralten Augen, als wenn der Kurti die Krätze hätte oder blöd is oder besoffen, oder alles zusammen. Nachtschwester sagt:
"Kenn ich schon. Is gut und richtig und wahr... Also geh weg!"
Kurz und knapp und endgültig.
Also macht Kurti den Abgang. Trotzig und mit vager Verbeugung vor der verbalen Effizienz dieser unnahbaren Sternenguckerin. Und marschiert zurück auf den bekannten Pfaden. Richtung Heimathafen.
Mommsens Magermilch - Palast, der Heimathafen, zugleich Zelle sowie Kemenate, wo Kurti und bekanntes Gesindel ein lebenslänglich absitzen, zwischen Eisbrand und Hopfensaft, hingestellt, angeschmiedet und festgekrallt an nächtliche Aus - und Abschweifungen.
Kurti dockt an. Alles wie gehabt. Und doch wieder anders. Die Herzallerliebsten hocken um den Tisch herum und schmücken mit farbigen Worten die Nacht. Kurti rangiert sich neben sie und sagt:
"Schlaf macht dreh zurück, das Leben, die Sehnsucht."
"Gepriesen sei die Sehnsucht." Sagt der Mustafa.
"Schlaf ist Sehnsucht, gepaart mit Träumen entsteht Verlangen." Prophezeit der Paco.
"Schlaf ist Abwesenheit von Leben, also Abwesenheit aller Leiden, und nix für dich, olle Wracktonne." Verkündet die Doris.
Kurti denkt da mal drüber nach, sägt und zerhackt diese, Analeptika gleichenden, Argumente und stapelt sie im Hinterhof seiner Gedankenhütte. Dann erzählt er von der Nachtschwester, der Sterndeuterin mit dem Engelsgesicht.
Und alle sagen dass das gut und richtig und wahr war. Sie trinken darauf. Und noch auf vieles mehr. Denn mehr gibt es nicht zu tun, außer warten, auf die Restnacht, Sehnsüchte... und Träume.
Texte: harryaltona
Bildmaterialien: BX
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2013
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