RESTNACHT
Vier Uhr früh. Für die meisten ist die Party gelaufen; der letzte Schnaps ausgekotzt, das letzte Bier verschüttet. Das Koks - High weggekippt in Richtung Kopfschmerz. Das letzte sinnliche Frauenlächeln längst erstarrt zur Fratzengleichen Hieroglyphe im Erinnerungskeller Sehnsuchtsgeiler Zehntklässler, deren graue abgekämpfte Gesichter nun hinter den Scheiben der U - Bahnen mehr und mehr den trostlos leeren Fratzen ihrer Eltern gleichen.
Nur einige wenige harren aus. Festgekrallt an wuchtigen Theken, oder wie angeklebt auf spinnenbeinigen Barhockern. Auch ihre Gesichter sind grau, abgekämpft und stumpf. Doch dies schon seit Jahren, so das sich jeder daran gewöhnt hat. Selbst die wenigen Frauen, die wie ausrangierte Satteliten um diese abgelegten Existenzen kreisen, bemerken dieses stumpfe Starren ins Nichts schon längst nicht mehr.
Und um kurz nach vier am Morgen wird hier noch gesoffen. Genau - gesoffen! Mit allen unappetitlichen Aspekten die dieses Wort verspricht.
Trinken mag ein jeder woanders und aus nichtigen Anlässen; trinken mag ein jeder mit Genuss, zur Entspannung, oder einfach nur aus Langeweile oder weil es die Etikette verlangt.
Doch hier, im "Letzten Groschen," wird gesoffen was das Zeug hält. Unermüdlich und unerbittlich. Bier und scharfer Schnaps. Denn das ist die Medizin, die diesen Menschen ein wenig Linderung beschert.
Und diese Linderung hat jeder hier bitter nötig.
Die einen hier haben schauderhafte, schlecht bezahlte Jobs mit beknackten Chefs und noch beknackteren Kollegen. Die anderen haben gar keine Jobs; sind wegrationalisiert, ausgemustert, unbrauchbar.
Manche von ihnen haben Frauen daheim; oder das was nach zwanzig Jahren Ehe eben übrig bleibt von einem Wesen das man einst geliebt hat:
Streitlustige fette Weiber, die im Nachthemd den lieben langen Tag auf der Couch liegen und eine Billig - Soap nach der anderen verschlingen; eindimensionale, fantasielose Hüllen, deren einzige Sehnsucht darin besteht einen drittklassigen Schlagerfuzzi an ihre Hängetitten zu drücken.
Und manche von ihnen haben gar keine Frauen, leben allein, vielleicht schon viele Jahre lang; ihre Erinnerung an die letzte zärtliche Berührung einer Frau mögen den Händen ihrer eigenen Mütter gelten.
Also, aus diesen, und tausend anderen Gründen wird hier gesoffen, geflucht, gestritten und manchmal auch gesungen.
Auch der Kurti ist einer von denen die hier saufen, fluchen und manchmal singen. Doch der Kurti hat seine eigenen Gründe warum er hier ist; manchmal, wenn die Stimmung allzu sehr in sentimentale Plauderei kippt, spricht er sogar darüber. Doch heute ist es alles andere als sentimental. Eine trotzige Wut hat sich eingeschlichen. Zum einen ist diese Stimmung darauf zurückzuführen das der lokale Fußballclub wieder mal ein Spiel vergeigt hat, und zum zweiten ist es die vage Ankündigung eines Mitglieds der aktuellen Regierung, in der von der Erhöhung der Mehrwertsteuer die Rede ist.
Also zwei gute Gründe um sich systematisch mal ordentlich die Kante zu geben. Und selbst eines dieser Ereignisse hätte ausgereicht um die Puppen tanzen zu lassen.
Und der Kurti mittendrin. Die eiskalte Knolle Holsten fest in der Faust, eine Selbstgedrehte zwischen den Lippen und ein tauber Schwindel im Hirn. Und dann wird es Zeit. Zeit zu gehen. Raus.
Und der Kurti zahlt und geht. Raus in die Nacht die sich ihrem Ende neigt. Genau richtig, denkt Kurti. Und geht hier und dort lang. Nicht weit. Nur bis zu der alten Treppe die hinunterführt zum Hafen. Dort setzt er sich hin und guckt auf die Lichter von Gegenüber. Und das ist gut hier, so allein zu sitzen, in den letzten Zügen dieser friedvollen Nacht, die sich so langsam auflöst, sich wandelt in einen neuen Tag. Doch noch ist es nicht so weit, noch ist Restnacht.
Diese blaue Stunde, so zwischen dem Gestern und Morgen. Wo noch alles still ist. Die Stadt hinter ihm, so langsam am erwachen, schüttelt schon die Träume ab, macht sich bereit, macht sich hübsch, für den neuen Tag und das geschäftige laute Treiben.
Langsam schiebt sich die Sonne höher, es wird heller, nur eine Nuance. Die künstliche Beleuchtung verschwindet automatisch. Jetzt geht es schnell, wird heller und heller. Sonne zeigt sich am Horizont, wirft schon Schatten über die trüben Straßen.
Kurti schaut zur Sonne, froh darüber sie zu sehen, und zugleich traurig über die nun vergangene Nacht. Kurti sieht einen Kerl über die Straße hasten, eilig hat der es. Wohl auf dem Weg zur Arbeit.
Und jetzt ist es für Kurti soweit sich zu verkrümeln, ab nach Hause, und sich versenken unter Daunendecken. Schlafen, diesen Tag verpennen. Denn Tage hat der Kurti schon viele gesehen und erlebt. Die kennt er genau. Interessanter sind nun die Nächte; diese spannenden, ausgelassenen Nächte. An deren Ende er wieder da sitzt auf der Treppe, allein und still, und diese blaue Stunde genießt; diese Restnacht.
Texte: harryaltona
Bildmaterialien: BX
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2013
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