Sonntagmorgen
Sonntagmorgen.
Im Auto sitzend schaue ich auf das große dunkle Kreuz auf dem Kirchendach. Wie jeden Sonntag.
Doch Heute, je länger ich es betrachte, umso führender wird meine Erinnerung. Es verändert sich langsam in ein altes verwittertes Holzkreuz.
Auf dem in ausgewaschener Schrift zu lesen steht:
Agnes Hofmann
1878 bis 1954
Ruhe in Frieden
Eine lange Reihe Schwarzgekleideter Trauender, säumt das geöffnete Grab um den letzten Gruß zu entbieten. Jeder murmelt etwas, wirft etwas in die Grabstelle, was ich nicht zu Verstehen oder Erkennen vermag.
In kleinen Schritten folge ich dem aufrückenden Vordermann.
Knapp 7 Jahre alt, verliere ich mich nicht nur wegen meiner geringen Größe, sondern auch, weil ich alleine in der Reihe gehe. Meine Eltern haben das Grab schon Richtung Friedhofausgang passiert.
Niemand weiß und kümmert sich um meine Gefühlswelt. Fragen, um eventuellen Trost spenden zu können, gab es nicht.
So gingen meine Gedanken eigene unvorbereitete Wege. Verständnislos betrachte ich die Menschen. Irritiert von den wenigen und leise geraunten Worten. Nie zuvor war ich auf einer Beerdigung. Und das sollte auch für viele Jahre die Letzte sein.
Meine Oma wurde heute zum Grab getragen.
Umzusetzen, was es für mich bedeutet, konnte ich trotz meiner Versuche nicht.
Sie war nicht mehr da.
Als ich, wie so oft zu ihr gegangen bin, ist das Haus verlassen und leer. Verschlossen ist das kleine Häuschen. Verloren versuche ich in eines der der zu hoch liegenden Fenster zu sehen. Endlich gelang es mir von einem nahe stehenden Apfelbaum in das Innere zu sehen. Es sah alles so friedlich und aufgeräumt aus.
Fremde, unbekannte Gefühle ließen mich in Etappen weinen und leise nach meiner Oma rufen.
Sie fehlte mir schon nach nur wenigen Tagen.
Mit ihr reden wollte ich. Sie fragen was ich für Gefühle habe. War mir die Trauer doch fremd. Als mein Meerschweinchen starb, sagte meine Mutter, ich dürfe trauern. Trauern und Weinen?
Aber das war ganz anders. Mama streichelte mich mehr abwesend auf dem Weg zur nächsten Aufgabe.
Oma war ganz anders. Sie nahm mich in den Arm, fragte mich was mich bekümmert und beim Erzählen konnte ich mich ganz eng ankuscheln. Plötzlich war alles weg und ich, ich musste auch dringend weg. Was Oma stets zu lustigen Bemerkungen verleitete.
Sie hat sich immer die Zeit genommen gefragt und erklärt, damit ich auf andere Gedanken kam.
Nun konnte ich die Graböffnung schon sehen. Zwei noch, Onkel und Tante, in das offene Grab konnte ich jetzt fast sehen.
Oh wie tief dachte ich als ich direkt davor stand, um dann den braunen Sarg zu betrachten.
Ich konnte mich nicht rühren. Habe glaube, ich auch nicht mehr geatmet.
Was sollte das, Blumen lagen auf dem Grabdeckel und daneben. Aber warum haben die Sand auf die Blumen und Oma Sarg geworfen? Warum machen die das? Ich habe hoch gesehen zu meinem neben mir stehenden Onkel: „Onkel Günther, warum schmeißt ihr da Sand drauf? Das wird alles schmutzig. Man kann die Blumen und die schönen goldenen Ecken gar nicht mehr sehen.“
Beruhigend sprach er mit mir. Nahm meine Hand und die Schaufel und ich warf gegen meinen Willen ebenfalls.
Plötzlich die Erkenntnis, Oma wird vergraben. Das große Loch wird zugeschüttet. Mich losreißen wollte ich in das Grab und sie wieder ausgraben. Wehrhaft nicht festgehalten zu werden, ergab ich mich letztendlich meinem Onkel und trottete wortlos Richtung Kapelle neben ihm her. Es gab keine Erklärungen. Auch nicht ohne Ankuscheln.
Ich weinte nie mehr wegen meiner Oma. Der vergrabene unverarbeitete Schmerz veränderte mich. Was ich viel später erfahren habe.
Nur selten noch habe ich geweint. Auch Schmerzen haben selten zu diesen Ausbrüchen geführt.
Das große Kreuz auf dem Kirchendach war so verschwommen, wie es eben verschwand. Tränen standen in meinen Augen.
Nach den vielen Bildern gerade, besah ich eine Weile gedankenverloren die Kirche.
Es war Zeit hineinzugehen.
Texte: (C) harry reinert
Bildmaterialien: (C) harry reinert
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen Eltern dieser Welt