Der Alte
In einer belebten Einkaufspassage, abseits des Trubels, versteckt sich staunend mit unnatürlich weit geöffneten Augen, ein ängstlich wirkender alter Mann. Sich vorbei drängelnde lärmende Menschen scheinen ihm Angst einzuflössen.
Sein zerschlissener und befleckter Mantel, den er mit einer Hand krampfhaft am Hals zuhält, passt ebenso wenig ins Bild, wie seine unvollständige Kleidung. Barfuss und nackte Beine erwecken den Eindruck, der Mantel ist sein einziges Bekleidungsstück. Lange bis auf die Schultern gewachsene Haare und ein Bart, vervollständigten das Bild eines Obdachlosen.
Bewegungslos, nur seine Augen sind ständig in Bewegung, steht er zwischen achtlos Weggeworfenem in einer abgelegenen Ecke. Niemand nimmt Notiz von ihm.
„Herr“, flüsterte er den Kopf in den Nacken gelegt, „so hatte ich es mir nicht vorgestellt“,.
„Wie soll ich so wie ich aussehe mich eingliedern? Über Geld verfüge ich auch nicht.“ Den Kopf wieder senkend, sieht er plötzlich lächelnd auf die vorbeieilenden Passanten.
„So werde ich vorgehen, Herr“, sprach er leise. Seine Hand verschwindet in seiner Manteltasche und als sie wieder hervorkommt, hält er ein stattliches Bündel Geldscheine in der Hand.
Die Hand verschwindet wieder in der Manteltasche, Langsam nahezu verängstigt wirkend, verlässt er seine abgelegene, schmuddelige Nische.
*
In einer Zeit wie der unsrigen, machen Menschen einen Bogen um Individuen seines Aussehens. So auch, im zielstrebig betretenen Kaufhaus. Das Personal geht sofort auf Distanz. Und sein Bitten finden auch erst Gehör und werden widerstrebend erfüllt, als er sein Geldbündel vorzeigt. Nun geht alles sehr rasch. Von Abteilung zu Abteilung eilend, ist er innerhalb kürzester Zeit neu gekleidet. Nicht wieder zu erkennen ist der Alte, gäbe es nicht weiterhin die langen Haare und den Bart. Ein Besuch bei einem geeigneten Friseur, wird einen anderen Menschen aus ihm machen.
Menschen? ?
*
Verändert und angepasst aussehend, steht er nun in einem Wohngebiet vor einem alten Haus.
Die Eingangstür ist übersät mit unverständlichen Informationen. Kritteleien und fehlende Pflege, lassen die eigentliche Farbe nur noch erahnen. Ebenso, die mit fragwürdigen Kunstwerken verzierten Wände.
Ein beklemmendes Gefühl erzeugen bei ihm, die vielen identischen Häuser. Aussortierter und herumliegender Wohlstandmüll ist dem Gesamtbild zugehörig.
Die herumlungernden Jugendlichen, die Aggressivität der kleineren „spielenden“ Kinder und die unbeschäftigt zusammen stehenden Erwachsenen, lassen dem Verwandelten unwillkürlich an das viele Geld in seinen Taschen denken.
Aber nun ist er hier und er wird seinen Besuch machen. Energisch, als wäre er hier zu Hause, steuert er auf die Tür zu und verschwindet im Treppenhaus.
Vor einer schmuddeligen Tür in der zweiten Etage bleibt er schwer atmend stehen. Wie durch Geisterhand öffnet sich die Tür und von unterhalb des Türdrückers, schaut ein kleines Mädchen zu ihm auf. Eine Weile taxiert ihn das Kind, dann streicht sie sich mit den kleinen Händen ungeschickt die Haare aus dem blassen Gesicht und fragt mit einem dünnen Stimmchen: „ Bist du der Engel der mir helfen soll“, und nach einer kurzen angstvollen Pause leiser, „weil ich noch so klein bin?“ Der alte Herr schluckt beim Klang der furchtsamen Stimme, nickt mit dem Kopf und antwortet, sich vor dem kleinen Menschen niederkniend:
„Ja …“, mit der Hand über das Haar streichend, „…. ja der bin ich.“ Die Tür ganz öffnend, in die Wohnung zurücktretend, flüstert das Kind leise: „Dich darf ich rein lassen.“
Ihn aufmerksam betrachtend, fragt sie schließlich: "Aber warum kommst du nicht einfach reingeflogen? Engel haben doch Flügel und brauchen keine Türen. Wo sind deine eigentlich?“
Vor sich hinlächelnd schließt der Engel die Tür hinter sich und schiebt das kleine Mädchen behutsam nach nebenan ins angrenzende Zimmer. „Meine Flügel kannst du nicht sehen, außerdem brauche ich sie nicht, du bist ja da.
"Stimmt es eigentlich, dass du erst 5 Jahre alt bist und Maria heißt?“
„Aber das weißt du doch. Eigentlich heiße ich Marianne, doch Mama sagte immer Maria zu mir.“
Sie stehen nun vor einem grauen schmutzigen Bett.
Auf einem kleinen Tisch daneben, stehen ausser vereinzelt schimmeligen Brot auf mehreren kleinen Tellern, auch einer, mit neu bestrichen Brot. Im Bett liegt sorgfältig zugedeckt eine junge Frau. Die Augen im eingefallenen Gesicht sind geschlossen. Zu erreichenden Haare sind gekämmt und ihre fleckigen Hände liegen gefaltet auf der Brust. Schon vor Tagen war sie verstorben und wahrhaftig kein schöner Anblick mehr.
Der Engel nimmt die Hand der Kleinen und kniet sich erneut nieder um sie dann in den Arm zu nehmen. Das kleine Mädchen schmiegt sich zitternd an ihren erwarteten Besucher und schluchzt leise ohne ein Wort zu sagen.
„Weißt du, meine kleine Maria“, begann der Engel mit weicher beruhigender Stimme, „wir zwei werden nun zu deiner Mama reisen. Sie wartet schon auf dich und will wieder mit dir spielen. Du warst nun so lange alleine, weil es niemanden gibt der sich um dich kümmern kann. Solange das Geld reichte, konntest du dir und deiner Mama etwas zu essen machen. Nun hast du aber schon lange keines mehr. Der Herr hat deine Gebete gehört und mich zu dir geschickt. Damit Mama sich wieder um dich kümmern kann.“
Liebevoll schloss sie ihn in die Arme.
Glücklich lächelnd trat sie mit ihm ihre Erste und letzte Reise an. harry reinert
harry reinert
Texte: Copyright by harry reinert
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2010
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unserem Präst
Mogens Armstrup Jacobsen