Moment mal
Sie stand plötzlich vor mir, vorher sie kam, weiß ich nicht.
Im Gegensatz zu mir schien sie anlässlich dieser Begegnung nicht überrascht zu sein.
In ihren Augen konnte ich die Innigkeit lesen, die bei einem Menschen zu sehen ist, wenn er einen lieben Freund wieder trifft.
Mich erfüllte ein Gefühl von großer Freude. Zu keiner Bewegung fähig, stand ich vor ihr und sah sie nur ungläubig an.
Mir lächelnd zuzwinkernd, konnte ich erkennen, dass sie mit mir sprach.
Doch ein Dröhnen in meinem Kopf übertönte alles.
„Atschie“, konnte ich sie, als sie mit leicht schiefgelegtem Kopf mich prüfend ansah, endlich verstehen.
Es war eine große Herzenswärme in ihrer Stimme und die nahm augenblicklich Besitz von mir.
„Atschie“, wiederholte sie, “ was ist los mit dir? Du siehst mich so merkwürdig an?“
Sie lachte dabei leise.
Entschieden ging sie auf mich zu und legte, mich behutsam zu sich heranziehend, ihre Arme um meine Taille und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Meine Überraschung noch immer nicht überwunden, gab ich ihr ebenfalls einen Kuss auf die Wange und trat einen Schritt zurück.
Sie reichte mir nur bis zur Brust und entsprechend sah sie mich von unten her erwartungsvoll an.
Sie war eine unglaublich kleine und zierliche - eine fast jungenhafte Person.
„Hast du deine Stimme verloren?“
drang ihre Stimme in mein Bewusstsein.
„Nein“,
sagte ich mit brüchiger Stimme und räusperte mich, um einigermaßen bei Stimme fortzufahren:
“Ich bin völlig überrascht dich hier zusehen. Wo kommst du so plötzlich her?“
„Wo will ich hin, wäre die richtige Frage.“
Als sie mich dabei ansah, kam ich mir so klein und unbedeutend vor. Ich war schrecklich verunsichert.
„Dich wollte ich treffen“,
sprach sie weiter und während sie das sagte, trat sie neben mich, legte ihren Arm erneut um meine Taille und mich sanft drängend, gingen wir gemeinsam in die Richtung in die ich wollte, bevor wir uns trafen.
„Wie ist es dir ergangen? Was machst du so?“
Wollte sie von mir wissen.
„Es interessiert mich, erzähle es mir.“
Mein Arm lag um ihre zierlichen Schultern, als müsse ich sie festhalten. Der Reihe nach wollte ich erzählen, blieb aber schon bald in dem Chaos meiner Gedanken stecken.
„Wo soll ich anfangen?“
Begann ich zaghaft nach einer Weile. Es wollte mir nicht gelingen, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
„Wo wohnst du jetzt?“
Fragte sie so, als wolle sie mir behilflich sein.
„Oh ja, ich habe inzwischen eine tolle Wohnung mit einem Zimmer mehr“,
nahm ich dankbar die Hilfe an,
“es ist urgemütlich bei uns. Ich lebe auch nicht mehr allein. Ich bin wieder verheiratet.“
„Das wurde auch Zeit. Alleine leben ist nicht gut. Wie geht es dem Rest der Familie?“
Fragte sie, aber mit fiel keine Antwort ein.
So gingen wir eine Weile schweigsam nebeneinander her, während ich krampfhaft bemüht war, das Gespräch sinnvoll fortzusetzen.
„Na ja, was soll ich sagen“,
begann ich schließlich nach einer Weile,
“du weißt ja dein Papa hatte schon immer ein gespaltenes Verhältnis zu mir. Aber der ist leider nicht mehr unter uns. Und deine Schwester …. Ich musste schlucken,
„Deine Schwester liebte mich wirklich und hielt vorbehaltlos zu mir.“
Während ich sprach, blieb ich stehen.
Wir lösten uns voneinander, sie drehte sich zu mir und wir sahen uns an.
Ich musste wieder schlucken und hatte einen Kloß im Hals als sie sagte:
„Aber du nicht immer zu ihr.“
Wissend lächelnd sah sie mich an und umfasste dabei meine beiden Handgelenke,
„doch du bist du und sie ist sie. So ist das Leben. Manchmal lebt man sich auseinander.
Nur viel früher hättet ihr einen Schlussstrich ziehen sollen. Wäre für alle in Bezug auf ein neues Leben das einzig Richtige gewesen.“
Lange schauten wir uns in die Augen. Sie hat mir immer das Gefühl gegeben, mich zu verstehen. Genau so erging es mir auch jetzt.
„Ihr Beiden bleibt auch so wie ihr seid.“
Lächelte sie zu mir herauf, ließ mich dann los und ich, ich betrachtete sie einfach nur.
Ihre gewellten und nicht sehr kräftigen langen Haare trug sie offen. Die reichten ihr fast bis auf die Schultern und umrahmten ihr ohnehin sehr schmales Gesicht, so dass es noch schmaler wirkte. Im Einklang dazu, war sie sehr eigenwillig gekleidet.
Mode ist immer das, was mir gefällt, hatte sie einmal zu mir gesagt.
Sie trug die ersten beiden Knöpfe einer dezent geblümten Bluse in Beigen und braunen Farben, geöffnet. Darüber eine gehäkelt wirkende dunkelbraune Wolljacke, welche über die Hüften reichte und länger war, als die Jacke die sie darüber trug. Den Abschluss bildeten eine blaue Jeans und braune Schuhe.
In ihrem Gesicht hatten Sorgen und vielerlei Erlebtes ihre Spuren hinterlassen. Eine blasse Gesichtsfarbe war ihr schon immer eigen, wie die leichten Schlupflider. Kleine Falten um Mund und Nase waren etwas zu tief gekerbt, aber so natürlich entstanden wie die vielen kleinen Lachfalten um ihre Augen. Sie lachte so gerne und war das vorurteilsfreieste Geschöpf, dem ich jemals begegnet bin.
Genau so hatte ich meine damalige Freundin und Schwägerin Petra in Erinnerung.
Sie wurde von uns allen aber immer nur Pitti gerufen.
„Atschie“,
holte sie mich aus meinen Gedanken zurück,
“wir wollen weitergehen.“
„Stimmt“,
und ich musste lachen,
„sonst kann ich dir meine Wohnung nicht mehr zeigen.“
Meinen Arm wieder um ihre Schulter legend, schob ich die kleine Person an.
„Ich freue mich“,
sagte sie neben mir her gehend,
„dass es dir gut geht. Auf mich wirkst du sehr ausgeglichen. Fühlst du dich auch so gut?“
„Habe mich nie besser gefühlt“,
antwortete ich ehrlich,
“in meinem Leben ist Ruhe eingekehrt.“
Mein Versuch sie in ein großes Kaufhaus an dem wir vorbeikamen zu drängen, stieß auf heftigen Widerstand.
„Nein Atschi, da möchte ich nicht durch. Lass uns auf dem normalen Weg in deine Wohnung gehen, “ bat sie mich.
Doch ich versuchte ihr klar zu machen, dass ein Fahrstuhl des Kaufhauses eine Abkürzung von großem Ausmaß sei und wir viel zeitiger einen Kaffee trinken könnten.
„Ach Atschi nein“,
versuchte sie noch ein letztes Mal mich vom Gegenteil zu überzeugen.
Doch ich schob sie lachend und gutgelaunt, mit sanfter Gewalt in das Menschengewühl.
Hätte ich doch ihrem Wunsch folgend den Umweg in Kauf genommen.
Denn in dem Kaufhaus verschwand sie so plötzlich wie sie aufgetaucht war.
Erschrocken drehte ich mich im Kreise, aber mich umsehend konnte ich sie nirgendwo entdecken. Eben war sie doch noch da?
Völlig verwirrt sah ich mich in alle Richtungen um, rief ihren Namen so laut dass die Menschen um mich herum auf mich aufmerksam wurden. Aber es half alles nichts.
Sie blieb verschwunden.
Aber wo, um Himmels Willen, steckte sie.
Ich verließ das Kaufhaus.
Todtraurig und wieder allein stand ich vor dem Eingang.
Keine drängelnden Menschen mehr, keine lauten Stimmen,
keinerlei Geräusche.
Nur noch eine unnatürliche Stille umgab mich.
Wo war Pitti?
Ich erinnerte mich nun an das, was sie eben noch vor der Tür zu mir gesagt hatte:
„Atschi, mache es gut. Lebe dein Leben, ich bin irgendwie immer da.“
Dem hatte ich keinerlei Bedeutung zugemessen. Hatte wie so oft nicht auf die leisen Untertöne oder Nebengeräusche gehört.
Mir war zum Weinen zumute.
Eben war ich noch glücklich in ihrer Gesellschaft und hoffend auf eine Unterhaltung oder einen Austausch wie früher. Auch mit dem unausweichlichen Abschied, glaubte ich gewappnet für den Moment, besser umgehen zu können.
Doch nun stand ich hier.
Allein und weit und breit keine Menschenseele. Durch die gläserne Tür in das Kaufhaus sehend, konnte ich lärmende, sich drängelnde Menschen sehen.
Aber hier auf der Strasse - war es menschenleer und es herrschte eine Totenstille.
„Pitti, wo bist du Pitti?“ Hörte ich mich noch leise und weinerlich, zaghaft ihren Namen in die Stille rufen.
Dann wachte ich auf.
In meinen Bett liegend, öffnete ich die Augen und schaute an die Zimmerdecke. Mir wurde klar, dass ich nur geträumt hatte.
Pitti war mir im Traum begegnet.
Nun erinnerte ich mich auch, dass ich im Traum ohne Übergang plötzlich auf einem Sandweg spazieren ging.
Links und Rechts von mir Hecken, Sträucher und Bäume, welche die dahinter liegenden Häuser verdeckten.
Und ebenfalls, eine menschenleere Wohnsiedlung.
Dazu, diese unnatürliche Stille.
Erst als unerwartet Pitti vor mir stand, bewegten sich die Menschen wieder in unserer Umgebung.
In Verbindung mit einer Geräuschkulisse.
Ich schloss die Augen wieder, zog meine Decke über das Gesicht und versuchte in den Traum zurückzukehren.
Vergeblich.
Das Gefühl, dass ich befindlich in der Gegenwart habe, ist ein schönes und zufriedenes.
Aus irgendeinem Grunde habe ich den unbedingten Wunsch, meinen Traum niederzuschreiben.
Aber das gehabte Glücksgefühl, das weiß ich genau, ist mit Worten - und sind sie noch so gut gewählt, nicht auszudrücken und ist noch weniger festzuhalten.
Pitti ist heute das erste Mal bei mir gewesen.
Im Nachhinein war es eine unglaublich atmosphärische, glücklich machende, im hellen Licht strahlende Begegnung.
Mit .... ja, ..... mit Pitti !
Nun muss ich daran denken, wie häufig ich - ohne das irgend jemand davon wusste - sie an ihrem Grab besucht und auf den Hacken sitzend geweint habe, weil es sie nicht mehr gab.
Und es bedauert habe, nicht mehr mit ihr lachen und vor allen Dingen reden zu können.
Sie ist ein wirklicher Verlust für jeden der sie kannte.
Das mussten ihre zurück gebliebenen unmündigen Kinder nachdrücklich und am Schlimmsten erfahren.
Texte: Copyright bei Harry Reinert
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2009
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