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Ein altes Kind




An einer belebten Kreuzung steht ein älterer Mann und wartet mit anderen Passanten auf das Ampelgrün für Fußgänger.
Seine leicht ergrauten, etwas zu langen Haare, bedecken die Ohren und reichen ungeordnet fast bis auf die Schulter. Jeanshose und Jacke, sind modisch wie die dazu passenden Turnschuhe. Das sommerlich leger am Hals geöffnete Hemd, gibt ihm diese „ewig jung“ Ausstrahlung.
Eine Hand in der Hosentasche, in der anderen trägt er eine schwarze Kollegmappe, blickt er unverwandt auf die gegenüberliegende Straßenseite, als ihn ein junger Mann anspricht.
„Entschuldigen Sie, können sie mir sagen wie spät es ist und wie komme ich am schnellsten zur Grunewaldstrasse?“
Sich dem jungen Mann zuwendend, zwinkert er mit den Augen und sagt:
„Selbstverständlich kann ich Ihnen sagen wie spät es ist“,
zieht seine Hand aus der Hosentasche und blickt auf seine Armbanduhr,

“ doch ein älterer Herr, Ihnen rät,
mit ständigen Blick auf die Zeit,
kommen Sie vielleicht, niemals zu spät.
Doch im Leben, im Leben nicht weit.“



Freundlich lächelnd, das verdutzte Gesicht seines Gegenübers bemerkend, setzt er fort:

„Weil wir Menschen immerzu hetzen.
Das Leben indessen, bewegt sich in großmaschigen Netzen.
Wir sind stets in Eile,
doch alles dauert seine Weile.
Viele von den unnötigen Wegen,
nicht gehen - vorher überlegen.“



Freundschaftlich seine Hand auf die Schulter des Fragers legend sagt er noch:
“ Zehn Minuten vor neun, mein junger Freund.
Ist` s zu spät, hast Du zu lange herumgestreunt.“



Inzwischen ist die Ampel auf grün umgesprungen und die Fußgänger setzen sich in Bewegung.
Die Beiden beginnen mit etwas Verspätung ebenfalls die Straße zu überqueren.
Der junge Mann geht einen Schritt hinter dem älteren her und mustert ihn verstohlen.
Wer ist das, denkt er, warum antwortet er in Versform und nicht in normalen Sätzen?
Der ist doch bescheuert!

Als wüsste der, was dem Jüngeren durch den Kopf gegangen ist, bleibt der Alte auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen.
Sich langsam umdrehend, sieht er den Jungen Mann freundlich und erwartungsvoll an. Erkennend, dass der Junge das Gehörte zu verarbeiten bemüht ist und nach den richtigen Worten sucht, wartet er geduldig auf dessen Fragen.
„Verzeihen Sie, “ platzt es dann auch aus dem jungen Mann heraus, “ warum reden Sie so merkwürdig?“
Der Alte betrachtet sein Gegenüber eine Weile, rückt seine Brille zurecht und sagt mit betont ruhiger Stimme:

„ Junger Freund, hören Sie sich um,
nicht ich

rede merkwürdig dumm.
Die Menschen nur noch in verstümmelten Sätzen sprechen,
das aber, gleicht einem verbalen Erbrechen.“



Die gegeelten, in alle Himmelsrichtungen zeigenden blonden Haare des Jünglings, sind passend zu seinem poppigen Äußeren. Sein Gesichtsausdruck aber, dümmlich nichtverstehend mit halb geöffnetem Mund, will ganz und gar nicht passen.
„Wie meinen Sie das?“ Mit ungläubig aufgerissenen Augen den alten Herren anschauend, mehrfach trocken schluckend stellt er noch eine sehr direkte und nicht gerade schmeichelhafte Frage:
„Sie sind nicht ein bisschen verrückt, nein? Niemand wird sich jemals ernsthaft so unterhalten!“
„Lieber junger Freund“, der Alte antwortet mit unbewegtem Gesicht, “wenn ich höre, wie sich die Menschen austauschen,“ und ergänzend, „wie sich die jungen Leute unterhalten - einfach grausig.“
„Ihre Art zu sprechen finde ich ebenfalls grausig“, gibt sich der Junge betont angriffslustig.
Der Alte Mann der eben nicht in der Versform sprach, weist ungerührt dessen was der junge Mann gesagt hat, auch schon darauf hin.

„ Eben noch habe ich nicht gereimt.
Doch nun, im Gespräch vereint,
möchte ich sagen,
ohne mich zu beklagen,
mit Vokabeln wie es inzwischen Sitte,
ist es höchstens unterhaltsam - für Dritte.“



In die Pause hinein, mit einer Handbewegung unterstreichend, gibt ihm der Junge Recht.
„Es ist schon was dran, was Sie sagen. Aber Ihre Ausdrucksweise ist doch noch unnatürlicher. Das ist doch bekloppt!“ Dabei tippt er sich mit dem Finger an die Stirn.
Der Alte ignoriert auch das und spricht in mitleidigem Ton:
"Bei jedem Satz, vorne, in der Mitte oder hinten, heißt es: weißt du, - sag ich mal, - verstehst du, - Alter ey, - ey Dicker, hab `n Date, ist das nicht cool - und so weiter und so weiter. Wie soll ich

das finden?“ Fragt ihn der Alte und fixiert den Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen und vorgeschobenen Kopf.
„ Na gut,“ sagt der Junge einlenkend, “einigen wir uns darauf, Sie sind ein verrückter alter Mann und wir junge verrückte Leute.“
Der Alte macht Anstalten zu gehen, bleibt aber noch mal stehen und sagt:

“Hören Sie, lieber junger Freund,
das Leben hat es gut mit Ihnen gemeint.
Die Jugend scheint in Ihrer dialektischen Einfachheit vereint,
und ich versuche es, verständnisvoll gereimt.
Vielleicht werden wir uns wieder begegnen,
möge Gott für Ihre Zukunft, die Wege ebnen.“



Sprach er und verschwand ohne Eile, zwischen den vielen sich den Gehweg entlang schiebenden Passanten.

„ Was mich so entzückt:
du bist so herrlich verrückt.“



Erschrocken legt der junge Mann seine Hand auf den Mund. „Nun habe ich ebenfalls gereimt“, sagt er lächelnd zu sich selbst, während er dem Alten nachdenklich hinterher sieht.
Ihm war so, als hätte der Alte ohne sich umzusehen, lachend noch einmal die Hand zum Gruß erhoben.


Harry Reinert
September 2005

Impressum

Texte: Copyright by Harry Reinert
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2009

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