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Der längste Tag des Jahre

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Sonntagmorgen. Es ist 5.30 Uhr. Die Sonne geht auf über dem Langener Waldsee bei Frankfurt. Lars sitzt auf dem Boden und schaut auf sein Fahrrad, das an einem Geländer in der Wechselzone hängt. Der Helm liegt bereits auf dem Zeitfahrlenker. Sein Neoprenanzug liegt neben ihm. Er hat die Kopfhörer im Ohr und hört Musik. Dass Kathrin einige Meter weg von ihm, außerhalb der Wechselzone steht und sich mit seinen Vereinskollegen unterhält, weiß er. Aber sie weiß auch, dass er diese Zeit vor dem Wettkampf für sich alleine braucht. Diese endlose Zeit!
Lars ist dankbar und glücklich Kathrin als Freundin zu haben. Die meisten seiner Triathlon-Kollegen hatten entweder permanenten Stress mit ihren Partnerinnen oder waren bereits getrennt. Kathrin hatte zu Anfang auch Probleme damit gehabt, das er mehr Zeit im Schwimmbad, auf dem Fahrrad und auf der Laufstrecke verbrachte, als mit ihr. Doch sie hatte eines Tages akzeptiert, dass sie nur mit ihm zusammen sein konnte, wenn sie seine Sucht nach diesem Sport tolerierte. Lars liebte sie seit diesem Tag noch viel mehr.
Es ist 6.15 Uhr. Lars steht auf und dreht am Hinterrad seines Kuota Queen K. Was für ein tolles Geräusch! So einen Sound hatte nun mal nur ein Fahrrad dieser Marke, er liebt es! Dieses gute Stück wird ihn heute sicher auch wieder gut in die Wechselzone zum Laufen bringen!
Er wirft einen kurzen Blick über den Zaun. Da steht nun seine Kathrin ganz alleine. Seine Vereinskollegen haben sich jetzt auch zurückgezogen. Ihre Frauen sind noch nicht da. Sie werden sicher erst an der Laufstrecke irgendwo auftauchen oder gar erst im Ziel auf ihre Männer warten. Doch SEINE Kathrin ist da! Sie war eigentlich total unsportlich und hatte sogar deutlich ein paar Pfunde zu viel – während er neben ihr meistens nur wie ein großer dünner Spargel wirkte, weil er kaum ein Gramm Fett an sich hatte.
Lars verlässt die Wechselzone und zieht sich seinen Neo über die Beine Es ist 6.40 Uhr. In fünf Minuten starten die Profis und dann 15 Minuten später alle anderen – auch er!
„Schatz, ich muss gleich zum Start!“ Er lächelt sie liebevoll an. Kathrin umarmt ihn und küsst ihn. „Viel Erfolg!“ wünscht sie.
„Wir sehen uns heute Nachmittag auf dem Römer! Ich freue mich schon auf deinen Kuss, wenn ich im Ziel bin!“ Er zwinkert ihr zu, wendet sich ab und geht in Richtung Wasser.
Pünktlich um 7.00 Uhr fällt der Startschuss. Nun liegt sie vor ihm: die Endlosigkeit des Sees, die Endlosigkeit von 3,8 km Schwimmen! Bei jedem Zug seines linken Armes sieht er auf das geflochtene Lederband, das Kathrin ihm als Glücksbringer zu seinem ersten Ironman im letzten Jahr geschenkt hatte. Er hatte es seit dem nicht wieder abgenommen, denn es brachte ihm wirklich Glück. Mit jedem Wettkampf, ob Sprint-, Mittel- oder Langdistanz wurde er besser und für heute hatte er sich auch ein Ziel gesteckt: Hawaii! Außerdem ist Kathrin ja dabei, da kann es ja nur gut gehen! Nach dem Wettkampf in Kona möchte er ihr dann einen Heiratsantrag machen – ganz romantisch beim Dinner unter Palmen!
Die Beine sind schwer, sein rechtes Bein rutscht kurz ab, beim Verlassen des Wassers. Schnell zieht er auf dem Weg zum Fahrrad den Reißverschluss seines Neoprenanzuges auf, reist sich die Schwimmbrille und die Badekappe vom Kopf. An seinem Fahrrad angekommen lässt Lars seinen Neoprenanzug fallen, zieht schnell die Socken über die Füße, den Radhelm auf den Kopf und noch die Sonnenbrille auf die Nase. Dann schnappt er sich sein Kuota und läuft damit zum Ausgang der Wechselzone. Dort darf er endlich aufsteigen. Noch ruhen seine Füße nur auf den Radschuhen, doch sobald er sich etwas von den Zuschauern und seinen Verfolgern freigestrampelt hat, schlüpft er in die Klickschuhe und verschließt sie ordentlich.
„Super Schatz!“ Kathrin steht etwas abseits der anderen Zuschauer und klatscht, als er an ihr vorbei fährt. Lars wirft ihr einen Kuss zu und winkt. Jetzt tritt er richtig in die Pedale. Es ist 8.13 Uhr und die Endlosigkeit der Straße liegt vor ihm. Die Endlosigkeit von 180 km Radfahren. Seine Beine sind topfit und sein Rad läuft wie von alleine. Es ist ein gutes Gefühl die Anderen zu überholen.
Kathrin ist sicher gleich bei ihrer Freundin Andrea in Bad Vilbel und wartet dort darauf ihm zujubeln zu könne.
Kurz hinter der Einfahrt in Bad Vilbel überholt Lars sogar noch einen Vereinskameraden, dann geht es direkt auf den engen Pflasterstein-Anstieg zu, den alle „Heartbreak Hill“ nennen.
„Heee Larsi!“ Andreas lautes Stimmorgan hört er schon von weitem und er ist froh darüber, sonst hätte er in diesem Getümmel Kathrin und ihre Freundin nie entdeckt! Kathrin hält Andreas zweijährige Tochter auf dem Arm. Sie winkt ihm zu. Täuscht er sich oder glänzen Kathrins Augen heute noch mehr als sonst? Sie sieht aber auch total süß aus mit dem Kind auf dem Arm! Wenn sie in zwei oder drei Jahren auch ein Kind haben würden, dann könnte er es kurz vor der Ziellinie auf den Arm nehmen und mit dem Kleinen ins Ziel einlaufen.
Es geht auf die zweite Runde und nochmal durch Bad Vilbel und noch einmal den „Heartbreak Hill“ hinauf! Lars wirft Kathrin wieder einen Handkuss zu. Er wird sie erst in ein oder zwei Stunden an der Laufstrecke wieder sehen. Hoffentlich kommt sie gut durch den Verkehr und findet einen guten Parkplatz!
Über die Friedberger Landstraße geht es in die Finanzmetropole Frankfurt hinein. Direkt am Main befindet sich die Wechselzone zum Laufen. Schon einige hundert Meter davor öffnet Lars seine Radschuhe und schlüpft hinaus. An der aufgezeichneten Linie springt er vom Rad und läuft nur mit besockten Füßen zum Stellplatz für sein Fahrrad. Ein Helfer bringt ihm einen Turnbeutel mit seinen Laufsachen. Schnell nimmt er im Wechselzelt auf einer Bank Platz, zieht die Radsocken aus und die Kompressionstrümpfe zum Laufen an. Die sind natürlich lila, passend zu seinem schwarz-lila-farbenen Einteiler, den er wie zu allen Wettkämpfen trägt. Jetzt noch die Laufschuhe, die Ironman-Schirmmütze und natürlich die Oakley-Sonnenbrille. Und raus geht es auf die Laufstrecke. Seine Beine fühlen sich an wie Gummi, aber nach drei oder vier Kilometern wird das vorbei sein! Es ist 14.35 Uhr und die Endlosigkeit des Asphaltes liegt vor ihm! Die Endlosigkeit von 42,5 km Laufen! Die Endlosigkeit von vier Runden durch Frankfurt!
Nach gerade mal 11 km hat Lars das Gefühl, als würden seine Beine immer schwerer. Hat er sich doch zu viel zugemutet? War er die Radstrecke zu schnell angegangen? Er blickt starr vor sich hin. Jetzt nur nicht schlapp machen!
„Lars, super! Mach weiter so!“ Kathrin! Er schaut auf, sieht ihr Lächeln und schon geht es wieder leichter! Sie gibt ihm ein Zeichen, das sie erst einmal hier stehen bleibt. Heute trägt sie wieder diesen hübschen lila-weisen weit fallenden Sommerrock, der ihr bis zu den Knöcheln reicht, darüber trägt sie ein weises Top. Auf ihrer Nase sitzt die gleiche Sonnenbrille, wie die Seine. Jeder, der genau hinsah, konnte sehen, dass sie zu ihm gehörte! Von Anfang an hatte er sich in ihre weiblichen Rundungen, ihre blauen Augen und die langen dunkelblonden Haare verliebt. Das war nun fünf Jahre her und er wollte keinen Tag davon missen.
Vor zwei Jahren, als Lars mit dem Training für einen Ironam begonnen hatte, hatte Kathrin ihn vor die Wahl gestellt: „Entweder Ironman oder ich!“. Lars hatte ihr damals erklärt, dass er weder auf den Ironman, noch auf sie verzichten wolle, aber wenn sie ihm nur diese Wahl ließe, dann würde er den Ironman wählen. Daraufhin hatte sie zwei Nächte auf der Couch geschlafen, während er im Bett gar kein Auge zu getan hatte, aus Angst, dass sie ihn wirklich verlassen würde. Dann am Sonntagmorgen, als er von einer Laufeinheit nach Hause gekommen war, war sie ihm um den Hals gefallen und hatte ihm unter Tränen erklärt, das ihre Schwester sie bequatscht hätte, ihm Druck zu machen wegen seinem Triathlon-Tick, doch sie hatte doch gar nichts dagegen und würde ihn ab jetzt auch unterstützen! „Ich liebe dich Lars und du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben! Das dumme Geschwätz meiner Familie und irgendwelcher Pseudo-Freunde interessiert mich nicht!“ hatte sie gesagt. Schon an diesem Tag hatte er beschlossen, dass er diese Frau eines Tages heiraten würde. Diese oder keine! Mit ihr wollte er seine private Endlosigkeit leben. Die Endlosigkeit einer langen Liebe und einer treuen Ehe.
Er ist nun vier Runden gelaufen. Vier Mal an Kathrin vorbei. Vier bunte Bänder zieren seinen Arm. Auf einem langen roten Teppich umsäumt von vielen Zuschauern geht es einen leichten Anstieg hinauf. Lars nimmt seine letzten Kraftreserven zusammen. Die Beine schmerzen schon. Hinter der Ziellinie steht Kathrin. Es ist 18.09 Uhr. Kathrin umarmt ihn und muss ihn noch halb stützen, weil seine Beine ihn kaum noch halten. Er spürt nur noch die Endlosigkeit ihres Kusses. Im Hintergrund hört er wie der Sprecher verkündet, das er, Lars Müller, den Slot für Hawaii bekommen hat!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Triathlonfans

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