„Herr Dreist?“, meldete ich mich. „Ja, Cara?“ „Darf ich bitte nach draußen? Mir ist grade ziemlich schwindlig.“ Die Untertreibung des Jahrhunderts. ‚Ziemlich schwindlig‘? ‚Extrem beängstigend schwindlig‘ hätte es wohl besser getroffen. Schlagartig fing nämlich alles vor meinen Augen an zu flimmern, sodass ich nicht mal mehr normal sehen konnte, und ich fühlte mich, als wäre ich gerade aus einem dieser Spielplatzkarusselle gestiegen. Mein Mathelehrer sah von seinem Buch auf und meinte: „Ja, sicher. Du bist total blass! Aber geh bitte mit ihr mit, Mimi, nicht dass sie noch umkippt.“ Mimi nickte und stand neben mir von ihrem Stuhl auf. Ich stand ebenfalls auf, musste mich allerdings an der Stuhllehne festhalten, um nicht umzukippen. Als ich stand wurde der Schwindel fast noch schlimmer. Ich nahm meine Jacke vom Stuhl, und wollte zur Tür gehen, doch da ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, musste mich Mimi am Arm festhalten. Ich spürte die Blicke meiner Klassenkameraden von allen Seiten, als wir zur Tür torkelten. Ich war noch nie betrunken, aber so musste es sich wahrscheinlich anfühlen. ‚Was ist mit dir los, Cara!? Meine Güte, du bist doch sonst nicht so!‘, meinte die Stimme in meinem Kopf. ‚Halt die Klappe‘, dachte ich. Ich wusste selbst nicht, was da gerade mit mir abging. Mir wurde noch nie schnell schwindlig, ich hatte noch nie Kreislaufprobleme oder so, und ein Flimmern vor den Augen, so sehr, dass ich nur noch die Hälfte erkannte, hatte ich auch noch nie. Was ich allerdings noch erkannte, bevor Mimi die Tür hinter uns schloss, war Toni, der mich fragend und gleichzeitig sorgevoll ansah. Toni – Antonio, mein bester Freund seit dem Kindergarten. Wir waren fast Nachbarn. Seit ich auf der Welt war. Er wusste meistens genau was mit mir los war – besser als Mimi. Nur dieses Mal konnte er sicher nicht einmal ahnen was mit mir los war. Ich konnte es ja selber nicht wissen. „Ist dir nur schwindlig?“, fragte mich Mimi auf dem Weg durch den Schulflur. „Nein. Mein Magen flattert und mir ist kotzübel.“ Kotzübel wurde mir nämlich auch noch, als wäre dieses Magenflattern, Augenflimmern und Schwindelgefühl ja nicht genug! „Oh. Oh-Oh!“, machte Mimi und fing mich ab, als ich nach hinten umzukippen drohte. Wir gingen die fünf Treppenstufen nach draußen auf den Schulhof. „Willst du dich hinsetzen oder gehen?“, wollte Mimi wissen. „Gehen.“, murmelte ich. Es war fast unerträglich. Mein Magenflattern wurde immer schlimmer, und langsam fing mein Kopf auch an zu schmerzen. Wir gingen auf dem Pausenhof herum, und sagten kein Wort. Was aber auch gut war, denn ich konnte sowieso nicht mehr richtig denken. Und es wurde nicht besser, eher noch viel schlimmer. „Warte kurz!“, brachte ich plötzlich heraus und hielt mich an einer Säule, die den Gang zwischen Schulgebäude und Turnhalle stütze, fest. Inzwischen waren wir nämlich wieder fast am Eingang angekommen. Außer mir und Mimi war niemand auf dem Pausenhof, natürlich, es war ja Unterricht. Plötzlich wurde der Schwindel noch stärker, auch wenn ich dachte, das wäre überhaupt nicht mehr möglich. Es fühlte sich an, als würde ich auf einer Achterbahn mit ungefähr 300km/h. 300! Ich hielt mich nun mit beiden Händen an der Säule fest, weil es sich anfühlte, als würde mir gleich der Boden unter den Füßen weggezogen. „Mimi…“, hauchte ich ängstlich. Was passierte mit mir?! „Cara? Cara, was ist los!?“, hörte ich Mimis Stimme von weit weg. Als stünde sie gar nicht neben mir, sondern würde von weit weg etwas zu mir herüber schreien. Sie umklammerte meinen Oberarm und schüttelte mich. „Cara!“ In meinem Kopf drehte sich alles, genau wie in meinem Magen. Mein Herz fing an schneller zu schlagen. ‚Was soll das denn alles?!‘, dachte ich entsetzt. Ehrlich, ich dachte ich würde sterben. Vielleicht fühlt es sich so an, wenn man stirbt. Dass einem plötzlich schwindlig wird, und man sich fühlt, als würde man in ein Loch eingesogen. Einfach so. Weg. Aber ich starb nicht. Ich bekam nur noch alles nebenbei mit. Mimi kreischte weiter meinen Namen, aber es hörte sich an, als wäre sie ewig weit weg. Ich merkte, dass sie zwar meinen Arm immer noch fest umklammert hielt, aber ich spürte nur eine leichte Berührung. Dann sah ich Bilder vor mir. Bilder, die ich noch nie gesehen hatte. Bilder ohne Zusammenhang. Zuerst sah ich einen Stuhl, auf dem eine Frau saß, gefesselt mit Seilen. Es sah aus, als wollte sie um Hilfe rufen. Doch sie konnte nicht, weil jemand ihr den Mund verbunden hatte. Ich konnte die Frau nicht genau erkennen, ihr Gesicht war verschwommen. Das einzige was ich an der Frau erkennen konnte war, dass es eine Frau war, und dass sie auch noch ziemlich jung war. Dann verwischte der kurze Film von der Frau, es wurde schwarz und wie im Kino ging es über zur nächsten Szene. Ich sah einen weißen Stein, der schimmerte als würde die Sonne drauf scheinen, irgendwie glitzerte er. Dann sah ich, wie eine Hand den Stein umfasste, ihn in die Hand schloss und in der Faust fest drückte. Als ich an der Hand hinauf sah, erkannte ich eine alte Frau mit langen, weiß-grauen Haare, die sich zu mir drehte und mich anlächelte – aber sofort wieder verschwand. Cut. Nächste Szene. Ein Mann, der ziemlich normal aussah, aber mich trotzdem irgendwie schaudern ließ. Kannte ich diesen Mann nicht irgendwoher? Er kam mir bekannt vor, lang konnte ich darüber allerdings auch nicht nachdenken, weil schon wieder die nächste ‚Szene‘ kam. In der sah ich einen Blitz. Er schlug in etwas ein, was es war, konnte ich nicht erkennen, eine Art Kette mit einem Medaillon oder etwas Ähnliches. Das Medaillon war groß, mit einem blauen Stein und es pendelte an der Kette hin und her. Hin und her. Und das alles im Schnelldurchlauf, es waren nur einzelne kurze Filmchen. Ziemlich unheimlich. Dieser ganze kurze Filmchen zusammenschnitt dauerte nicht länger als drei Sekunden. Komisch, das ich in dieser Zeit überhaupt etwas erkennen konnte, jede ‚Szene‘ dauerte nur höchstens eine Sekunde. Was danach passierte wusste ich nicht mehr. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass der Schwindel plötzlich weniger wurde, das Magenflattern aufhörte, mir schwarz vor Augen wurde und sich irgendwie meine Hände von der Säule lösten.
„Sie öffnet ihre Augen!“, hörte ich Mimis Stimme wieder von weit weg. „Psst, seid leise, sie soll sich nicht erschrecken!“, flüsterte eine weibliche Stimme. Wo war ich!? Aber Mimi hörte anscheinend nicht darauf, denn sie rief weiter. „Cara! Cara, bist du wieder wach!?“ ‚Mimi, ja ich bin wach! ‘ wollte ich sagen, ‚aber hör bitte auf zu schreien! ‘, doch ich konnte nicht. Ich konnte weder meine Augen richtig öffnen, noch meinen Mund bewegen. „Mädchen!“, mahnte nun eine andere Stimme. „Du darfst nicht so schreien!“ „Aber…“ „Psst!“, meinte dann wieder die weibliche Stimme. Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich war zu erschöpft um sie einer Person zuordnen zu können. „Cara.“, hörte ich Antonios leise Stimme neben mir, und spürte, wie mir eine Hand über die Haare strich. Dann folgte eine kurze Stille, aber ich merkte, dass mich wieder alle ansahen. „Wa… Was…“, ich versuchte etwas zu sagen, doch mehr brachte ich noch nicht heraus. ‚Was ist passiert? Wo bin ich? ‘, wollte ich sagen. Ich konnte meine Augen langsam immer mehr öffnen, doch noch immer noch nicht ganz. Außerdem wurde ich von Licht geblendet. Soweit ich sehen konnte, lag ich irgendwo, in einem Raum, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er hatte nur ein kleines Fenster, vor dem man wieder das Novembergrau erkennen konnte. Und es gab nur eine Tür. Es waren außer mir also noch mindestens vier Personen in diesem Zimmer – Mimi, Antonio, die weibliche Stimme und die andere Stimme, die ich nicht zuordnen konnte. „Psst.“, machte Toni. „Du bist ohnmächtig geworden und…“ Langsam erkannte ich mehr. Ich sah Antonios dunklen Lockenkopf und Mimis plappernden Mund. „Ja, mitten auf dem Pausenhof! Ich wusste gar nicht was ich tun sollte! Du bist einfach umgekippt und ich hab dich versucht abzufangen, aber du hattest überhaupt keine Kraft mehr und warst total weg! Ich hab um Hilfe gerufen und mich hat keiner gehört, und dann ist zufällig Frau Eleonor gekommen und die hat Frau Kuhn gerufen und Toni ist auch gekommen, weil Herr Dreist gesagt hatte, er soll mal schauen, weil wir schon so lange weg waren! Und Frau Kuhn und Frau Eleonor haben dich dann rein getragen und…“, plapperte Mimi. Sie redete fast schnell, sodass mein Kopf wieder zu schmerzen anfing. Gut, dass die weibliche Stimme sie unterbrach. „Psst! Nicht so schnell, sie ist gerade erst aufgewacht! Cara, wir haben dich hierhergebracht, und jetzt warst du ein paar Minuten bewusstlos.“ Jetzt wusste ich, wem die weibliche Stimme gehörte: Frau Eleonor, unserer Englischlehrerin. „Du bist im Krankenzimmer.“ Das war wieder die andere Stimme. Es war Frau Kuhn aus dem Sekretariat, sie hatte eine sehr tiefe Stimme für eine Frau. Langsam erinnerte ich mich wieder. Das Krankenzimmer. Der kurze Film. Ich fasste mir an meinen dröhnenden Kopf und stöhnte. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich lag auf der Krankenliege im Krankenzimmer, und mein Nacken wurde von ein paar Kissen gestützt. „Ich glaub, jemand sollte dich sofort abholen. Am besten du schläfst noch etwas!“, meinte Frau Kuhn. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. „Antonio, kannst du bitte Caras Eltern Bescheid geben?“ Toni nickte und machte sich auf in Richtung Sekretariat. Ich stöhnte abermals und setzte mich wieder auf. In meinem Kopf drehte sich immer noch alles. Nur der Schwindel im Bauch und die Übelkeit hatten endlich aufgehört. Frau Eleonor, Frau Kuhn und Mimi wussten nicht recht was sie tun sollten. Sie standen einfach da. Dann sah unsere Englischlehrerin auf ihre Armbanduhr, strich sich eine Strähne ihrer dunklen Haare aus dem Gesicht und meinte: „Gleich beginnt die vierte Stunde. Ich muss in meine nächste Klasse, und du zurück in den Unterricht, Miriam.“ Und damit machte sich Frau Eleonor mit einem „Gute Besserung, Cara!“ auch aus dem Staub. Mimi sah mich hilflos an und seufzte. „Tja, ich dann wohl auch. Ich ruf dich heute Nachmittag noch an, versprochen!“ Sie umarmte mich und verließ ebenfalls das Krankenzimmer. Nur Frau Kuhn stand noch herum, ohne zu wissen, was sie tun sollte. „Ich glaube, dass du ohnmächtig geworden bist lag sicher an deinem Blutdruck. Deine Freundin hat mir erzählt, dass dir plötzlich schwindlig und übel wurde, und dass dir das noch nie passiert ist. Sicher mal wieder der Blutdruck. Haben viele. Wenn das öfter passiert solltest du mal zum Arzt.“, meinte sie schließlich gelangweilt. Und dann: „Ich bring dir ein Glas Wasser.“, mürrisch machte sie sich auf den Weg. Frau Kuhn war generell eigentlich immer mürrisch. Sie war um die 50, hatte kurze, lockige, mausbraune Haare und war etwas dicker. Ich hatte sie noch nie gemocht. Und plötzlich war ich wieder alleine im Krankenzimmer. Aber das war mir eigentlich nur recht. Auch wenn mein Kopf noch so schmerzte, wollte ich darüber nachdenken, was das Ganze zu bedeuten hatte. Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Und wenn ja, wie hing das alles zusammen? Die alte Frau, der Mann, der Blitz, die Kette, die gefesselte Frau und der komisch schillernde Stein? Lange hatte ich nicht Zeit zu überlegen, denn schon kam Toni wieder ins Zimmer. „Deine Mutter ist in zwanzig Minuten hier.“, meinte er. „Zwanzig? Von zuhause bis hierher braucht man höchstens zehn Minuten!“, fragte ich erstaunt. „Ach bitte.“, grinste Toni. „Du kennst doch deine Mutter!“ Und er hatte Recht. Meine Mutter hatte irgendwie die Gabe nie pünktlich sein zu können. Egal wie sehr sie vorher alles plant – sie schafft es nie, sich weniger als fünf Minuten zu verspäten. Ich grinste. „Ist dir noch schwindlig?“, meinte Toni und setzte sich neben mich auf die Krankenliege. „Hmm. Nicht mehr stark.“, murmelte ich, doch mein Kopf hämmerte immer noch als würde er bald zerspringen. Es klingelte. Und mit dem Klingeln kam Frau Kuhn auch wieder zurück ins Zimmer, in der Hand ein Glas Wasser, das sie mir überreichte. „Shshsh!“, sagte sie zu Toni. „Geh zurück in deine Klasse!“ Wie zu einem Hund. Antonio seufzte und ging. „Gute Besserung!“, rief er noch, während ich einen Schluck Wasser trank. Wieso musste das eigentlich jeder sagen!?
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2011
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