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Die erste Suche

Lange schon durchstreifte Agatha das wirre Grün des Maisfeldes. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die blonden Zöpfe des Mädchens. Vom Schweiß durchnässt, klebte das geblümte Sommerkleid an ihrem zarten Körper. Schon seit fast einer Stunde durchstreifte sie nun das Feld auf der Suche nach Jan, ihrem kleinen Bruder. Die Kinder waren am nahen See zum Baden gewesen. Auf dem Weg nach Hause beschlossen sie die Abkürzung durch das hoch gewachsene Maisfeld zu nehmen.


     Es war schon spät am Nachmittag und die Kinder hätten schon lange zu Hause sein müssen. Die Großmutter würde wieder mit ihnen zanken. Aber was sollte Agatha tun? Sie konnte doch unmöglich ohne Jan nach Hause. Hatte die Großmutter ihr nicht aufgetragen, sie solle auf ihren Bruder acht geben? Aber Jan machte es Spaß Agatha zu ärgern. Immer wieder versteckte er sich vor seiner großen Schwester.


Wieder blieb das Mädchen stehen und versuchte durch das dichte Grün der Maispflanzen Jan zu entdecken. Sie legte ihre Hand an die Augenbrauen um die Augen vor dem noch immer grellen Sonnenlicht zu schützen. Immer wieder drehte sie sich im Kreis, aber von ihrem Bruder war nichts zu entdecken. „Jan, Jan“, erneut rief sie seinen Namen, doch der Junge blieb verschwunden, er schien sie einfach nicht zu hören. Oder er wollte es nicht?
Verzweiflung stieg in Agatha auf. Sie machte sich Vorwürfe. Warum hatte sie nur auf Jan gehört und war mit ihm durch das Feld gegangen? Tränen rannen dem Mädchen über die Wangen. Sie war verzweifelt, wusste sie doch, dass die Großmutter wieder mit ihr schimpfen würde. Jan war ihr Liebling auf den sie nichts kommen ließ. Und seit Agatha wusste, dass sie adoptiert war, verstärkte sich dieser Eindruck immer mehr, mit jedem Sommer, den die Kinder nun schon bei den Großeltern lebten. Oft erzählte die Großmutter ihr die Geschichte, wie ihre Mutter sie am Rande des Maisfeldes gefunden hatte, wie sie geschrien und der Großmutter jede Nacht den Schlaf geraubte hatte. Oma war nie dafür gewesen, dass ihre Mutter Agatha bei sich behielt. Schließlich war sie damals noch nicht mit Vater verheiratet und hatte ja noch so viele Pläne für ihr Leben, die sie alle Agatha zu liebe opferte. Und seit die Eltern gestorben waren, lebten die Kinder jetzt schon bei den Großeltern und immer hatte Agatha das Gefühl, als wenn die Großmutter sie nicht leiden konnte. Die Frau machte auch keinen Hehl daraus und ließ Agatha immer spüren, dass sie ja nur ein Findelkind war.
Wieder und wieder rief Agatha Jans Namen. Langsam mischte sich Wut in ihre Verzweiflung. Warum nur sollte sie wieder für Jan bestraft werden? Nein, länger würde sie nicht mehr nach ihrem Bruder suchen. Sollte er doch zu spät nach Hause kommen. Vielleicht würde die Großmutter dann auch einmal mit Jan schimpfen. Freilich würde Oma Agatha schellten, dass sie ohne Jan kam, aber was blieb ihr anderes über. Wütend und doch sogleich fest entschlossen ihren soeben beschlossenen Plan in die Tat umzusetzen, stampfte Agatha mit ihrem Fuß fest auf den Boden auf.
„Jan, ich gehe jetzt. Du kannst sehen, wie du nach Hause kommst. Oma wird schön wütend auf dich sein“, rief Agatha laut in das Grün des Maisfeldes hinein. Noch ein letztes Mal drehte sie sich im Kreis und suchte mit ihren Blicken die Umgebung ab. Niedergeschlagen und verzweifelt hob Agatha die Badesachen, die sie einfach hatte fallen lassen, vom Boden auf. Und noch einmal hielt sie suchend nach dem Bruder Ausschau. Dann hob sie verzagend die Schultern und wandte sich in Richtung des Wegs und verließ das Maisfeld.
Am Rande des Feldes drehte sich das Mädchen noch einmal um und rief so laut es konnte nach ihrem Bruder. Aber auch diesmal regte sich nichts. Es war fast so, als hätte der Mais ihren kleinen Bruder verschlungen und wollte ihn nicht wieder hergeben.
Ängstlich machte sich Agatha auf den Weg nach Hause. Immer wieder gingen ihr die wildesten Beschimpfungen, die ihr die Großmutter entgegenbringen würde durch den Kopf. Tränen rannen dem Mädchen über die Wangen. Ab und an blieb sie stehen und drehte sich um. Vielleicht folgte ihr Jan ja. Wusste sie doch, welchen Spaß es dem Jungen bereitete seine große Schwester zu ärgern. Aber der Weg hinter ihr blieb leer, so leer, als wenn es keinen anderen Menschen mehr auf dieser Welt gab, als wenn Agatha das einzige lebende Wesen auf dieser Welt war. Diese Vorstellung machte ihr Angst und doch wünschte sie sich im Moment nichts sehnlichster. Dann konnte niemand mit ihr schimpfen, niemand sie ärgern. Warum war sie nur auf Jans Vorschlag eingegangen? Warum war sie mit dem Jungen in dieses dumme Maisfeld gegangen? Hatte er nicht schon am Vortag mit ihr diesen Streich gespielt? Vielleicht saß er ja irgendwo und freute sich über die Ängste, die sie sich um hin machte.
Schließlich erreichte Agatha das Haus der Großmutter. Von weitem hatte sie die Frau schon im Garten gesehen. Wie immer um diese Zeit, saß die Großmutter auf der Gartenschaukel und strickte.
Langsam öffnete Agatha das Gartentor und betrat den Hof. Sie ging hinüber in den Garten. Großmutter sah nicht zu ihr auf. Sie war vertieft in ihre Strickerei. Verlegen trat Agatha von einem auf das andere Bein.
„Großmutter, ich bin da.“ Flüsterte sie vor sich hin. Doch ihre Oma schien sie nicht zu hören. Agatha räusperte sich und öffnete den Mund um wieder etwas zu sagen. Doch sie kam nicht dazu. Großmutter sah von ihrer Arbeit auf. Streng sah sie das Mädchen an.
„Geh ins Haus und mach den Tisch zurecht. Dann kannst du eure Badesachen an die Leine hängen.“ Suchend blickte sich die Frau um. „Wo ist Jan? Ist er schon ins Haus gegangen?“ fragend sah sie Agatha an.
„Ist Jan noch nicht hier?“ ängstlich sah Agatha ihre Großmutter an.
„Was soll das heißen? Ist dein Bruder nicht mit dir nach Hause gekommen? Wo ist er?“ verärgert sah sie ihre Enkeltochter an.
Das Mädchen zitterte am ganzen Leib. Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Er ist ins Maisfeld gegangen. Ich habe ihn gesucht, ihn aber nicht gefunden. Ich dachte er wäre einfach nach Hause gelaufen.“ schluchzte Agatha.
„Du wagst es dir ohne deinen Bruder nach Hause zu kommen? Mach dich weg hier und suche ihn. Wage dir ja nicht ohne ihn nach Hause zu kommen. Er ist dein kleiner Bruder. Du hattest die Aufsicht über ihn!“ schrie die Großmutter das Mädchen an. Agatha schluchzte.
„Aber, aber…“ weiter kam sie nicht. Die Großmutter schnitt ihr das Wort ab.
„Mach dich aus meinen Augen und wag es ja nicht ohne deinen Bruder wieder hier aufzutauchen.“
Agatha drehte sich um und ging ohne auch nur noch ein Wort zu sagen. Sie zitterte am ganzen Leib. Wo sollte sie ihren Bruder suchen? Was wenn ihm etwas zugestoßen war? Langsam verlies Agatha den Garten. Sie lief über den Hof und ging durch das Gartentor zurück auf die Straße. Mit zitterten Schritten ging sie langsam die Straße entlang zurück zu dem großen Maisfeld wo sie Jan verloren hatte. Immer noch liefen ihr die Tränen über die Wangen. Ab und an zog sie ihre laufende Nase hoch. Ihre Gedanken liefen Amok. Sie hatte furchtbare Angst ohne ihren Bruder wieder nach Hause gehen zu müssen. Nein, ohne Jan brauchte sie gar nicht wieder bei ihrer Großmutter aufzutauchen. So in Gedanken erreichte Agatha das Maisfeld. Die Sonne hatte sich schon merklich zum Horizont gesenkt. Das Mädchen fröstelte obwohl es immer noch sehr warm war. Unschlüssig blieb sie stehen und sah den dicht stehenden Mais an. Langsam ging sie einige Schritte am Feld entlang, bis sie die Stelle fand, wo sie vorhin das Feld verlassen hatte. Ohne noch lange zu überlegen betrat sie das Maisfeld. Sie ging immer weiter in das Feld hinein. Immer wieder blieb sie stehen und sah sich aufmerksam um. Von ihrem Bruder war nichts zu sehen.
Agatha lief weiter. Irgendwo musste Jan doch sein. Irgendwo musste sie doch die Spuren von ihrem Bruder finden. Plötzlich erschrak das Mädchen. War da nicht gerade ein Geräusch? Suchend sah sie sich um. Sie rief Jans Namen – nichts. Sie drehte sich im Kreis und rief immer wieder nach ihrem Bruder – doch es war nichts zu hören oder zu sehen. Furcht stieg in ihr auf. Sie drehte sich immer schneller. Immer in dem Gefühl etwas sei hinter ihr. Doch sie konnte nichts entdecken. Agatha wurde schwindlig. Schließlich lies sie sich zu Boden sinken und schloss die Augen. Nur für einen Moment, dann riss sie ihre Lider wieder auf. Was war dass? Agatha saß nicht weit von ihr ein kleines Häuschen stehen. Das war doch vorhin noch nicht da. Langsam begann sie darauf zuzugehen. Wo war das Haus hergekommen? Es war doch früher noch nicht da gewesen. Fand sie hier ihren Bruder wieder? War er vielleicht in diesem seltsamen Haus? Diese Fragen bohren in ihr.
Schließlich hatte sie das kleine Häuschen erreicht. Mit klopfenden Herzen trat sie an eines der kleinen Fenster und sah hinein. Wer mochte hier wohl wohnen? Viel konnte sie durch das Fenster nicht erkennen. Im Haus war es dunkel.
Unschlüssig trat Agatha wieder einige Schritte von dem Fenster zurück. Was sollte sie jetzt tun? Agatha überlegte nicht lange. Entschlossen trat sie zu der kleinen Tür und klopfte mit wild schlagendem Herzen an. Nichts rührte sich. Agatha wartete eine Weile, dann klopfte sie noch einmal und dieses mal stärker an. Doch auch jetzt rührte sich nichts. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Mit einem mächtigen Quietschen schwang die Tür auf und gab den Blick in die Hütte frei. Nichts rührte sich. Es schien niemand da zu sein.
Vorsichtig betrat Agatha das Häuschen und sah sich aufmerksam um. Viel gab es hier nicht zu sehen. An der einen Wand unter dem Fenster stand ein Tisch mit einigen Stühlen. An der anderen Wand stand ein großer Schrank. Der Tür gegenüber war ein Kamin mit einem leise vor sich hin brennenden Feuer. Über dem Feuer hing ein großer Kessel aus dem es herrlich duftete. Als sich Agatha weiter umsah, sah sie hinter der Tür ein für das Häuschen großes Bett stehen. Darauf lag jemand und schlief. Agatha trat zu dem Bett und glaubte kaum ihren Augen trauen zu können. Auf dem Bett lag niemand anderes als ihr Bruder Jan. Agathas Herz machte einen freudigen Sprung. Sie hatte ihn gefunden.
Aufgeregt begann sie den Jungen zu rütteln um ihn zu wecken. Es dauerte nicht lange und Jan begann sich zu rühren. Benommen rieb er sich die Augen.
„Was soll das? Ich will schlafen. Lass mich in Ruhe.“ sagte er.
„Jan, Jan, komm steh auf. Wir müssen nach Hause. Großmutter wartet schon auf uns.“ rief Agatha aufgeregt. Jan sah sie verschlafen an.
„Was ist los?“ fragte er das Mädchen. „Wo bin ich und wie bin ich hier hingekommen?“ Jan setzte sich auf und sah sich um. Auf dem Gesicht des Jungen erschien keine Furcht, nur ein Ausdruck tiefer Neugierde zeichnete sich auf seinen Zügen ab.
„Ich weiß es nicht.“ gab Agatha zu. „Aber wir müssen hier weg. Ich glaube hier sind wir nicht sicher. Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Jan schwang seine Beine vom Bett und stand auf. Agatha fasste seine Hand und die Kinder gingen zum Ausgang.
Sie hatten die Tür fast erreicht, als ein unheimliches Geräusch erklang und eine Gestallt vertrat ihnen den Weg.
„Wo wollt ihr hin? Ich werde es nicht zulassen, dass du mein Söhnchen, mich verlässt.“ Eine Frau war in der Tür erschienen. Sie wirkte nicht sehr groß aber sie war wunderschön. Blondes Haar fiel ihr wallend ins Gesicht. Sie trug ein sonderbar aussehendes Kleid, das ihr bis auf den Boden reichte. Sie sah irgendwie geheimnisvoll und schön aus. Neben der Frau stand eine schwarze Katze und fauchte die beiden Kinder gefährlich an.
„Wer sind sie?“ fragte Agatha ängstlich. Jan drückte sich an seine Schwester. Er zitterte leicht.
„Ich bin die Fee des Mais und du mein Sohn wirst bei mir bleiben. Du gehörst mir. Ich werde dich nicht gehen lassen.“ Die Frau funkelte die Kinder mit ihren Augen böse an. Agatha nahm all ihren Mut zusammen und trat entschlossen einen Schritt auf die Fee zu.
„Nein, Jan kann nicht hier bleiben. Er gehört zu mir. Großmutter wartet schon auf uns. Wir müssen nach Hause und Jan wird mit mir gehen.“
„Das wird nicht geschehen. Ich lasse ihn nicht gehen. Und außerdem, wie wollt ihr ohne meine Hilfe zurück nach Hause kommen. Ihr könnt mein Reich nicht mehr verlassen. Lange habe ich mein Kind gesucht und jetzt, wo ich es gefunden habe, werde ich es nicht wieder gehen lassen.“ Die Maisfee trat einen Schritt auf Jan zu und entriss ihn seiner Schwester.
„Aber Jan muss mit mir nach Hause gehen. Ohne ihn kann ich nicht zurück zu Grußvater und Großmutter. Er gehört doch zu mir. Jan kann nicht hier bleiben.“ Tränen der Verzweiflung rannen Agatha über die Wangen. Mit aller Kraft zerrte sie an ihrem Bruder um ihn der Fee wieder zu entreißen. Jan sagte zu all dem nichts. Er sah nur ängstlich und verdutzt von Agatha zur Fee und wieder zurück. Er war doch nicht das Kind dieser seltsamen Frau. Er wollte doch zurück zu seiner Großmutter. Jan wollte nicht hier bleiben.
„Und wenn ich für ihn hier bei ihnen bleibe? Lassen sie dann meinen Bruder gehen? Ich gehöre ja doch nicht zu den Großeltern und sie werden mich bestimmt auch nicht vermissen. Aber Jan muss wieder zurück zu ihnen.“
„Du willst statt seiner bei mir bleiben?“ ungläubig sah die Fee das Mädchen an.
„Warum nicht? Meine Mutter hat mich im Mais gefunden, warum soll ich dann nicht auch wieder im Mais leben.“ Auffordernd sah Agatha die Frau an.
„Du wurdest im Mais gefunden? Dann bist du mein Kind. Komm, lass dich in die Arme nehmen. Ich habe so nach dir gesucht.“ Mit einem strahlenden Lächeln trat die Maisfee auf Agatha zu und schloss das Mädchen in ihre Arme. Agatha spürte die Liebe, die die Maisfee für sie empfand uns so sagte sie zu ihr:
„Lass mich mit meinem Bruder gehen. Ich bringe ihn nach Hause. Dann komme ich zurück zu dir und bleibe bei dir.“
„Ja gut. Sei bitte bald wieder bei mir. Ich warte auf dich.“ Mit diesen Worten lies sie das Mädchen los und die beiden Kinder standen plötzlich wieder mitten im Maisfeld. Von dem Haus war nichts mehr zu sehen. Schnell gingen die Kinder aus dem Mais heraus. Hatten sie das alles nur geträumt? Agatha wusste es nicht. Sie machten sich auf den Weg zu den Großeltern. Am Gartentor blieb Agatha stehen und sprach zu ihrem Bruder:
„Geh hinein. Ich aber will wieder zurück zu dem Maisfeld gehen und sehen, ob ich wieder zur Maisfee finden kann. Die Großeltern mögen mich sowieso nicht und vielleicht kann ich bei der Fee ein schöneres Leben führen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief wieder zurück zu dem Maisfeld. Als sie dort angekommen war, ging sie ohne lange nachzudenken in das Feld hinein. Sie rief nach der Maisfee. Schaute hierhin und dorthin. Drehte sich immer wieder im Kreis. Aber von dem Haus der Maisfee war nichts zu sehen. Traurig lies Agatha den Kopf hängen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Noch einmal drehte sie sich im Kreis und schloss die Augen. Doch wie erstaunt war sie, als sie die Lider wieder öffnete. Nicht weit von ihr stand das kleine Häuschen der Maisfee. Schnell lief das Mädchen darauf zu. Die Fee stand schon vor der Tür und wartete auf sie. Als das Mädchen das Haus erreicht hatte, schloss die Fee es fest in seine Arme.
„Jetzt lasse ich dich nie wieder gehen.“ Sanft strich sie dem Mädchen über das blonde Haar.
Von dem Tag an blieb Agatha bei der Maisfee, die sich liebevoll um sie kümmerte. Sie lass ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Ab und an dachte Agatha noch an die Großeltern und an ihren Bruder. Aber sie empfand nie Heimweh nach der alten Familie.

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Tag der Veröffentlichung: 31.07.2009

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