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Kalt pfiff der eisige Wind um das kleine Häuschen am Waldrand. Tief verschneit stand es einsam und still unter den mächtigen Bäumen. Nichts war mehr von dem Leben, das es im Sommer erfüllte geblieben. Das Lachen der Kinder war verstummt. Wieder war der alte Hannes mit seinen Tieren alleine. Traurig dachte er an die vergangene Zeit, als André, Petra und Klaus, seine Enkelkinder, bei ihm die Sommerferien verbrachten. Wieder und immer wieder sah er vor seinen Augen die lachenden Gesichter der Drei. Wie schwer war es ihnen gefallen von einander Abschied zu nehmen, als die Ferien zu Ende waren. Wussten sie doch, dass es fast ein ganzes Jahr dauern würde, bis sie sich wieder sehen konnten. Die Kinder wohnten mit ihren Eltern in einer weit entfernten Stadt und nur in den großen Ferien konnten sie den Großvater besuchen.
Der alte Hannes lebte seit vielen Jahren alleine hier draußen am Waldrand. Schon vor langem war seine Frau gestorben. Jetzt war er sehr oft einsam. Sein Sohn Frank hatte ihm oft vorgeschlagen, mit ihm und seiner Familie in der Stadt zu wohnen. Doch der alte Hannes brachte es nicht über das Herz sein kleines Häuschen zu verlassen, auch wenn er oft darüber nachdachte, wie schön es sein könnte mit den Kindern das Weihnachtsfest gemeinsam zu verbringen.
So saß der alte Mann am warmen Ofen und wiegte sich in Gedanken versunken in seinem alten Schaukelstuhl. Auf seinem Schoß schnurrte friedlich der alte Kater Max und zu seinen Füßen lag der treue Hund Bastie. Viele Jahre teilten die Beiden schon die Abgeschiedenheit der Hütte mit ihrem Herrn.
„Ach mein guter alter Max. Gut, dass ich wenigstens euch beide habe“, sprach er zu dem Kater. Liebevoll strich er dabei über das vom Alter strubblig gewordenen Fell des Tieres.
Bastie, der geschlafen hatte, hob den Kopf und sah zu seinem Herrn. Der Hund spitzte die Ohren, dann sprang er plötzlich auf und lief aufgeregt zur Tür. Winselnd blieb er davor stehen und kratzte mit der Pfote am Holz.
„Was ist los mit dir Bastie? Du hast wohl ein Tier draußen gehört. Komm lieber wieder her zum warmen Ofen. Bei der Kälte brauchst du nicht da hinaus“, sagte Hannes. Lächelnd sah er zu seinem Hund. Doch Bastie wurde immer aufgeregter und fing an zu bellen. Mühsam stand Hannes von seinem Stuhl auf und ging zu ihm.
„Was hast du heute nur? Wenn du unbedingt willst, dann lass ich dich eben nach draußen. Aber beschwere dich dann nicht, wenn du nachher wieder ganz durchgefroren bist.“ Hannes streichelte den Hund, doch dieser ließ nicht ab an der Tür zu kratzen. Schließlich schob Hannes den Riegel zurück und öffnete sie. Ein eisiger Wind blies in die Hütte. Der Hund schüttelte sich und fing laut an zu bellen.
„Du bist mir vielleicht ein Verrückter. Erst willst du unbedingt nach draußen, und nun bellst du den kalten Wind an. Entscheide dich, ich habe keine Lust die ganze schöne Wärme nach draußen zu lassen.“
Hannes wollte gerade die Tür wieder schließen, als er das Brummen eines näher kommenden Autos hörte. Erstaunt mühte er sich draußen etwas zu erkennen. Bastie wurde ständig aufgeregter. Immer wieder lief er vor der geöffneten Tür hin und her. Schließlich fing er wieder laut an zu bellen.
„Was ist nur heute los? Wer kommt denn bei diesem Wetter zu uns? Jetzt verstehe ich auch, warum du so verrückt bist.“ Beruhigend streichelte Hannes den Kopf des Hundes, dann trat er vor die Tür. Das Auto kam schnell näher. Gut, dass erst vor einer Stunde der Schneepflug den Weg zu seiner Hütte geräumt hatte.
Hannes war erstaunt, als er den Wagen erkannte. Aber das konnte doch nicht möglich sein. Es war das Auto seines Sohnes und im Inneren erkannte er seine Enkelkinder. André, Petra und Klaus winkten ihm aufgeregt zu. Sie hüpften auf ihren Sitzen hin und her. Und als das Auto endlich zum stehen kam, sprangen sie schnell heraus und umringten den alten Mann.
„Großvater, Großvater stell dir vor, wir sollen bei dir wohnen!“ Hannes Sohn trat schnell zu den Vieren.
„Überfallt den Opa doch nicht so. Lasst uns erst einmal ins warme Haus gehen, wo ich in Ruhe mit ihm reden kann.“ Er fasste Petra und Klaus bei den Händen und zog sie ins Haus. Auch André und Hannes gingen hinein. Alle setzten sich an den Tisch.
„Ich mache euch erst einmal einen warmen Kakao. Bei der Kälte da draußen müsst ihr ja ganz durchfroren sein.“ Hannes konnte sich nicht vorstellen, dass im Inneren eines Autos angenehme Temperaturen herrschen könnten. Er selber hatte nie in seinem langen Leben einen Wagen besessen. Hier draußen im Wald brauchte er ihn nicht. Bis ins Dorf war es zwar ein weiter Weg, aber einmal jede Woche kam der Krämer mit einem Wagen vorbei und brachte Hannes alles was er die Woche über zum leben brauchte. Manchmal nahm er ihn auch mit in den Ort, wenn er geschäftlich auf der Bank zu tun hatte, oder einen Termin wahrnehmen musste. „Ihr glaubt ja gar nicht, was für eine riesige Überraschung euer Besuch für mich ist. Ich freue mich so sehr darüber.“ Hannes lächelte die Kinder an. Dann ging er hinüber zu dem alten verrußten Herd. Zu seinem Sohn sprach er: „Du kannst mir dabei ja erzählen, was euch zu dieser Jahreszeit zu mir treibt.“ Hannes setzte einen Topf auf den Herd und schüttete Milch hinein.
„Ach Vater“, begann Frank und rutschte dabei nervös auf seinem Platz hin und her. „Du weißt doch, wie lange sich Maren schon einen Kreuzfahrturlaub wünscht und jetzt hat es sich ergeben, dass mich meine Firma für zwölf Monate nach Amerika schickt. Diese Reise können wir über die Feiertage für einen Urlaub nutzen. Wir möchten gerne mit einem Schiff in die Staaten fahren. Doch leider können wir auf diese Fahrt die Kinder nicht mitnehmen. Da wir erst eine Wohnung drüben suchen müssen, wollten wir die Kinder im Januar mit dem Flieger nachholen. Maren und ich haben uns gedacht, dass die Drei die Feiertage bei dir verbringen könnten. Ich meine Vater, wenn es dir recht ist.“ Er sah zu seinem Vater, der gerade fünf Tassen mit duftendem heißem Kakao füllte.
„Aber Junge, das ist doch keine Frage. Du weißt doch, wie gerne ich die Kinder bei mir habe. Natürlich können sie bleiben.“ Hannes reichte Frank eine Tasse. „Aber wie sollen die Kinder dann zum Flughafen kommen?“
„Mach dir darüber keine Sorgen Vater. Dafür habe ich schon gesorgt. Ein Kollege, du hast ihn schon einmal kennen gelernt, wird sie dann am fünften Januar abholen und sich um alles Weitere kümmern. Ich hätte dir ja gerne schon früher Bescheid gegeben, aber die Reise ergab sich ganz plötzlich. Ich bin so froh, dass du die Kinder nimmst, schließlich werden wir ja erst in einem Jahr wieder da sein und du hättest sie dadurch nicht wie immer im Sommer.“ Vorsichtig trank er von dem süßen Kakao der verführerisch in seiner Tasse duftete. Nachdem er sie zur Hälfte geleert hatte, stellte er sie auf den Tisch, dann sprach er zu seinen Kindern:
„Ich hoffe, dass ihr dem Opa keinen Ärger macht und schön auf das, was er euch sagt, hört. Ich kann mich doch auf euch verlassen Kinder?“
André, der Älteste von den Dreien, er war schon vierzehn Jahre, sah zu seinem Vater.
„Du kannst dich auf uns verlassen. Ich werde mich schon um die Kleinen kümmern. Das habe ich doch Mama versprochen.“ Petra und Klaus grinsten in ihre Tassen hinein. Stellte sich André wirklich vor, dass sie taten, was er sagte? Freilich ihren Großvater wollten sie nicht ärgern, aber es ging doch nicht an, dass sie nach Andrés Pfeife tanzten. Das konnten ja dann schöne Tage werden, wenn ihr großer Bruder sie nur herumkommandieren sollte. Um ihren Vater aber zu beruhigen, sagten sie: „Mach dir keine Sorgen, wir werden schon ganz lieb sein.“ Klaus sah verschmitzt zu seiner Zwillingsschwester. Die Beiden waren mit ihren zehn Jahren manchmal richtige kleine Teufel, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihren Bruder zu ärgern.
Nachdem ihr Vater seinen Kakao ausgetrunken hatte, begann er die Sachen der Kinder aus dem Auto zu räumen. Hannes half ihm dabei, und so konnte Frank noch einmal von den Kindern unbemerkt mit seinem Vater reden. Er drückte Hannes einen kleinen Koffer in die Hand und sprach:
„Hier sind die Weihnachtsgeschenke für die Kinder drin. Verstecke sie gut, damit sie die Sachen nicht vorher finden und sich die ganze Überraschung schon vor dem Heiligabend verderben.“
Doch so unbeobachtet wie sie glaubten, waren die Männer nicht. Der pfiffige Klaus hatte alles mit angehört und behielt nun den Koffer genau im Auge, um auch ja nicht zu verpassen, wo ihn sein Großvater verstecken würde.
Nachdem alle Gepäckstücke aus dem Auto im Haus waren machte sich Frank daran den Rückweg anzutreten. Er wollte noch vor dem Dunkelwerden die Autobahn erreichen. Fest umarmte er zum Abschied die Kinder und reicht seinem Vater die Hand.
„Ich habe dem Krämer Bescheid gesagt, dass er dir genügend Vorräte vorbeibringt. Ich werde dir schreiben, sobald wir in New York angekommen sind. So, ich mache mich jetzt auf den Weg. Du weißt ja, dass ich nicht gerne im Dunkeln fahre und bei dem Wetter heute.“ Mit diesen Worten drehte er sich zur Tür. Während er sie öffnete, wendete er sich noch einmal zu den Kindern um.
„Denkt daran, was ihr mir versprochen habt. Ich verlasse mich auf euch.“ Dann ging er. Hannes und die Kinder standen noch einen Moment in der Tür und sahen dem sich entfernenden Wagen nach, aber schon nach ein paar Augenblicken trieb sie die eisige Kälte in das Haus zurück.
Hannes trug die Koffer in die Kammer, die sich gleich an das Wohnzimmer anschloss. Die Kinder begannen sich mit ihren Sachen zu beschäftigen. Petra spielte mit ihren Puppen, André begann in einem Buch zu lesen und Klaus fing an in seinem Comic zu blättern. Hannes wartete auf einen unbeobachteten Moment um den Koffer mit den Weihnachtsgeschenken zu verstecken. Er ging die Treppe hinauf in seine Kammer. Doch wenn er dachte, dass keines der Kinder etwas davon mitbekam, so täuschte er sich. Klaus hatte die ganze Zeit den Koffer im Blick behalten. Um keinen Preis der Welt wollte er versäumen, das Versteck der Geschenke herauszubekommen. Schnell sah er zu seinen Geschwistern und versicherte sich, dass sie nicht merkten, dass er dem Großvater nachging.
Wachsam folgte er Hannes. Er musste sehr vorsichtig sein, um lautlos über die knarrende alte Stiege, die zu dem oberen Zimmer führte, zu schleichen. Sein Großvater war zwar schon alt, aber er hatte noch sehr gute Ohren.
Als Hannes die letzte Stufe erreicht hatte und durch die Tür zur Kammer verschwunden war, sprang Klaus hastig und fast ohne einen Laut der Treppe hinauf. Er war selbst überrascht, dass er es ohne ein verräterisches Knarren schaffte. Vorsichtig lugte er durch die einen Spalt weit geöffnete Tür. Er konnte nicht viel vom Raum überblicken, aber es reichte um zu sehen, dass sein Großvater sich an dem alten Schrank zu schaffen machte. Sachte öffnete er die Tür soweit, dass er durch den Spalt schlüpfen konnte. Schnell rutschte er unter das große Bett, welches direkt neben der Tür stand. Alles was ihm jetzt noch zu tun blieb, war abzuwarten, bis sein Großvater wieder die Kammer verlassen würde. Er war aufgeregt. Sein Herz schlug so laut, dass es ihm schien, als wenn der ganze Raum wie unter einem Trommelhagel schallte, als wenn jeder Schlag wie die Glocken der Dorfkirche dröhnte. Der Staub unter dem Bett kitzelte ihn in der Nase. Klaus hatte große Mühe, dem heftigen Verlangen, zu niesen, Herr zu werden. Ihm schien es wie eine Ewigkeit. Jeder Augenblick zog sich endlos in die Länge. Ungeduldig wartete er darauf, dass sein Großvater endlich die Kammer verließ und wieder nach unten ging. Seine Ungeduld und Neugierde wuchsen ins unermessliche. Wie lange sollte er hier unter dem Bett noch liegen müssen, ehe er endlich den ersehnten Blick in den Koffer mit den Weihnachtsgeschenken werfen konnte?
Mit jedem Atemzug hatte er mehr und mehr Mühe sein Niesen zu unterdrücken. Der kleinste Laut konnte doch zum Scheitern seines Planes führen. Klaus wusste, dass sein Großvater sehr von ihm enttäuscht sein würde, wenn er ihn jetzt hier entdeckte. Hannes war ein sehr gutmütiger Mann, aber wenn eines der Kinder unehrlich zu ihm war, konnte er sehr unangenehm werden.
Klaus hatte das Gefühl schon Stunden hier unter dem Bett zu liegen. Immer wieder versuchte er darunter hervor zu schauen, aber alles was er sah, waren die Füße seines Großvaters. Was tat er nur an dem alten Schrank? So lange konnte es doch gar nicht dauern, einen einfachen Koffer hineinzustellen. Wozu gab er sich nur solche Mühe, ihn zu verstecken? Großvater wusste doch, dass er den Kindern verboten hatte an den Schrank zu gehen, in ihn hineinzuschauen. Schon im Sommer hatte es Klaus immer in den Fingern gejuckt, einen, wenn auch nur flüchtigen Blick in den Schrank zu werfen. Immer und immer wieder war er um den Schrank geschlichen. Was mochte er wohl für ein Geheimnis bewahren, von dem die Kinder nichts erfahren sollten?
Endlich, nach einer Ewigkeit, schloss Hannes die Tür des alten Schrankes. Dann verließ er den Raum. Klaus lauschte seinen Schritten auf der Treppe. Als das knarrende Geräusch der Stiege verstummt war, kroch er vorsichtig unter dem Bett hervor. Leise ging er zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Er lauschte nach den anderen hinunter und als er sicher war, dass er die nächste Zeit ungestört sein würde, schloss er die Tür und wandte sich dem alten großen Schrank zu.
Klaus hatte sich schon immer gefragt, wie sein Großvater das Möbelstück wohl in die Kammer bekommen hatte. Die Maße des Schrankes waren so groß, dass er bestimmt nicht zur Tür herein getragen worden war. Wahrscheinlich hatte ihn der Großvater hier in der kleinen Kammer zusammengebaut.
Aufmerksam sah er sich den Schrank an. Groß war er. Klaus konnte sich nicht erinnern je in seinem Leben einen solch wuchtigen Schrank gesehen zu haben. Das Holz des Möbelstückes war von den vielen Jahren dunkel geworden. Man konnte die Maserung nur noch erahnen. Die Türen waren mit wunderbaren Schnitzereien verziert. Geheimnisvolle Ornamentleisten umrahmten sie. Selbst der Knauf hatte eine eigenwillige Form. Klaus erinnerte sie an den Kopf eines Teufels, den er einmal in einem Marionettentheater gesehen hatte.
Ein unheimlicher Schauer lief dem Jungen über den Rücken. Noch nie, solange er denken konnte, hatte er einen Blick in den Schrank werfen können. Schon immer waren die Kinder neugierig gewesen. Besonders Klaus, der alles genau unter die Lupe nehmen musste, hatte große Mühe seine Neugierde zu beherrschen. Aber jetzt stand er vor diesem geheimnisvollen Schrank. Nichts würde ihn jetzt noch davon abhalten können dem Geheimnis des Möbelstückes auf den Grund zu gehen. Schließlich war darin der Koffer mit den Weihnachtsgeschenken.
Es war schon wie eine Tradition für ihn, das Geheimnis der Geschenke vor dem Heiligen Abend zu lüften. Sollte er nur wegen dem Verbot seines Großvaters diese jetzt brechen? Nein, das konnte und wollte er nicht. Seine Neugierde hatte ihn doch schon die letzten Wochen gequält, schon von dem Tag an, als seine Eltern diesen geheimnisvollen Einkaufsbummel gemacht hatten. Zu Hause bot sich ihm nicht die Gelegenheit, die Geschenke auszuspionieren. Durch die Reisevorbereitungen seiner Mutter hatte sich ihm nicht die Möglichkeit gegeben, ungestört im Zimmer seiner Eltern nach den Geschenken zu suchen. André und Petra hatten sich schon lustig über ihn gemacht, weil er immer im elterlichen Schlafzimmer herumschlich, ohne auch nur den kleinsten Blick auf die Weihnachtseinkäufe werfen zu können. Durfte er das auf sich sitzen lassen? Nein! Jetzt hatte er die wahrscheinlich letzte Chance und die wollte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Freilich musste er damit rechnen, entdeckt zu werden und großen Ärger mit seinem Großvater zu bekommen, aber daran wollte er jetzt nicht denken, das war jetzt nicht wichtig.
Alle Verbote außer Acht lassend, trat er näher an den großen Schrank heran und griff nach dem Knauf. Noch einmal zögerte er. Für einen kurzen Augenblick dachte er daran seinen Plan aufzugeben. Aber dann siegte doch seine Neugierde und entschlossen öffnete er den großen Schrank.
Die Tür war schwer und der Junge hatte einige Mühe sie zu öffnen. Neugierig sah er in den Schrank. Doch was war das? Er hatte erwartet, einen ganz normalen Schrank mit allerlei Krimskram vorzufinden, aber was er vor sich sah, verschlug ihm die Sprache. In dem Schrank konnte er nichts erkennen. Eine tiefe Schwärze breitete sich vor seinen Augen aus.
Ängstlich tastete Klaus in das Innere. Er konnte nichts erfühlen. Da war kein Boden, keine Sachen, kein Widerstand auf den seine Finger stoßen konnten. Da war nichts, schlicht und einfach nichts - nur Leere. So weit sich der Junge auch in das Innere des Schrankes beugte. Und dann geschah, was geschehen musste. Klaus verlor das Gleichgewicht - er stürzte in die Dunkelheit, die ihn förmlich verschlang. Angst engte sein Herz ein. Entsetzt rief er um Hilfe, so laut er nur konnte. Dann verlor er die Sinne. Da war nur noch das Gefühl zu fallen. Ihm war, als wenn er mit einer unheimlichen Geschwindigkeit in die Tiefe sauste. Jedes Zeitgefühl verlierend stürzte er unaufhörlich hinab. Wohin konnte er nicht erkennen. Um ihn herum war nur diese undurchdringliche Schwärze. Nichts war zu sehen. Kein Ton drang an seine Ohren. Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Er fiel und fiel und er hatte das Gefühl mit jedem Meter an Geschwindigkeit zuzunehmen. Panische Angst erfüllte den Jungen. Sollte nun sein letztes Stündlein geschlagen haben? Sollte sein so junges Leben durch seine Neugierde nun ein schreckliches Ende finden? Klaus fiel unaufhörlich immer tiefer und tiefer. Irgendwann verlor er das Bewusstsein.

Petra saß beim Ofen auf dem weichen, warmen Schaffell und spielte mit Ken und Barbie. Bastie lag bei ihr und der alte Kater Max schnurrte friedlich auf der Ofenbank. André war in sein Buch vertieft. Hannes räumte die Kakaotassen in die Spüle und machte sie sauber. Eine friedliche Stille lag in dem Raum. Nur das Knistern des Feuers, das im Ofen brannte und seine Wärme in den Raum sandte, war zu hören. Plötzlich durchschnitt ein herzerweichender Hilferuf die Stille. Erschrocken hielt Hannes in seinem Tun inne und sah lauschend zur Treppe. Aber es war kein Laut mehr zu hören. Nach einer kurzen Weile sah er sich nach den Kindern um und als er sich gerade wieder seiner Arbeit zuwenden wollte, wurde ihm bewusst, dass ein Kind fehlte. Aufgeregt fragte er: „Wo ist Klaus?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Petra. Verwirrt sah sie den Großvater an. André schaute aus seinem Buch auf.
„Vorhin war er doch noch da? Vielleicht ist er nach draußen und spielt im Schnee. Auf der Fahrt hierher hat er nur davon geredet, dass er einen großen Schneemann bauen wollte.“
Hannes ging mit raschen Schritten zur Tür, doch draußen waren keine Spuren zu sehen. Nur ein eisiger Wind wehte Schneeflocken in die Stube. Schnell schloss er die Tür wieder. Nach einem kurzen Zögern stürzte er die Treppe nach oben und ging rasch in die Kammer. André und Petra folgten ihm. Als sie in die Kammer eintraten, stand Hannes da und starrte entsetzt die offenen Türen des Schrankes an. Das Innere war mit allerlei Kram angefüllt, doch etwas an dem Anblick ließ ihn erstarren. Irgendetwas stimmte hier nicht. André sah sich schnell im Zimmer um. Klaus war nicht zu sehen. Wo war er? Das Haus bestand eigentlich nur aus dem Wohnzimmer mit der Küche, einer kleinen Kammer unten und diesem Raum hier oben. Vor dem Heraufkommen hatte André in der unteren Kammer nachgesehen. Klaus war nicht dort. André schaute fragend zu Hannes. Wie erschrak er, als er den entsetzten Blick seines Großvaters sah.
„Wo ist Klaus“, fragte er ihn schüchtern. André spürte, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Instinktiv sah er nochmals zu der offenen Schranktür. Petra war dicht zum Schrank getreten und streckte wie in Trance ihren Arm aus um hineinzugreifen. Hannes sprang zu ihr und zog sie schnell zurück. Fest drückte er sie an sich. Erst nach einer Weile fand er die Kraft sie loszulassen und anzusehen. Erschrocken sagte er zu ihr: „Mädchen, geh nicht dahin. Das ist gefährlich.“ Dann starrte er wieder auf den Schrank. „Mein Gott, was soll ich nur tun. Klaus - er ist verloren.“
André verstand die Welt nicht mehr. Was sollte an einem alten einfachen Schrank gefährlich sein? Wieso war Klaus verloren? Was hatte Petra so Entsetzliches gesehen? Fragend sah er seinen Großvater an. Nur langsam schien dieser, seine Fassung wieder zu finden. Noch einen Augenblick starrte er den Schrank an, dann wandte er sich zu André um. Zögernd sagte er: „Klaus ist in dem Schrank. Er ist in ihm gefangen und wir können nichts mehr für ihn tun.“ Tränen rannen aus seinen Augen. Auch Petra weinte.
André verstand gar nichts. Wieso war sein Bruder in einem Schrank gefangen? Unverständig schüttelte er den Kopf.
„Aber das kann doch nicht sein. Ich müsste ihn doch sehen können, wenn er dort drinnen wäre. Da sind doch nur viele alte Sachen. Wie kann Klaus darin verloren sein? Großvater, was ist hier los?“
Langsam wandte sich Hannes dem verstörten Kind zu.
„Siehst du es denn nicht? Klaus hat das Tor geöffnet.“ André sah zu seinem Großvater empor, dann zu Petra, die immer noch wortlos dastand und in den Schrank starrte. Irgend etwas sahen die Beiden dort. Aber was war es? War in dem alten Schrank etwas, dass er mit seinen Augen nicht wahrnehmen konnte? Warum konnte er es nicht sehen? Von was für einem Tor redete sein Großvater? André verstand überhaupt nichts mehr.
Langsam wandte er seine Blicke wieder dem Schrank zu. Aber was war das? Die Dinge schienen vor seinen Augen ihre Farben und Formen zu verlieren. Das Innere des Möbels verschwand langsam und eine tiefe, unheimliche Schwärze erfüllte das Innere. Ein eisiger Schauer lief dem Jungen über den Rücken. Entsetzt trat er einige Schritte zurück, bis er an die anderen stieß. Hannes legte beruhigend seine Hand auf Andrés Schultern.
„Kommt, lasst uns hinunter gehen. Wir müssen überlegen, wie wir Klaus wieder befreien können.“ Sanft schob er die beiden Kinder aus der Kammer. Langsam gingen sie die Treppe hinunter.
Den Kindern hatte es die Sprache verschlagen. Angst lag auf ihren Gesichtern. Was war mit ihrem Bruder geschehen? Wo war er? Fragen über Fragen drängten sich den Kindern in die Gedanken. Würde ihnen Hannes all die vielen Rätsel erklären können? Welches Geheimnis verbarg er all die Jahre vor ihnen? Was war da oben in diesem Schrank?
Schleppend setzten sich die Drei an den Tisch. Schweigend und abwartend sahen die Kinder ihren Großvater an. Petra liefen immer noch dicke Tränen über die Wangen. Für sie war es besonders schwer von Klaus getrennt zu sein. Noch nie in ihrem Leben waren die Zwillinge länger als einen Tag voneinander getrennt gewesen. Alles taten sie gemeinsam. Immer wusste der Eine, was der Andere dachte oder fühlte. Den Eltern waren sie oft unheimlich. Zwischen den Kindern gab es eine so enge Verbundenheit, dass sie nicht ohne einander sein konnten. Nie hatte es André geschafft mit seinen Geschwistern so verbunden zu sein, wie es die Beiden untereinander waren. Petra fühlte sich leer und verlassen. Der Verlust ihres Bruders hatte sie schwer getroffen. Tief in sich ahnte sie, dass Klaus in großen Schwierigkeiten saß. Alles hätte sie dafür gegeben um ihm zu helfen. Aber sie ahnten ja nicht, was geschehen war.
Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen. Kein Wort war über ihre Lippen gedrungen. Alles was sie begriffen hatte war, dass Klaus nicht mehr in ihrer realen Welt war. Wie gelähmt wirkte sie.
Eine bedrückende Stimmung erfüllte den Raum. Unheimlich wirkte die Stille auf die Kinder, aber keines der Beiden wagte es seine Stimme zu erheben um seine Fragen laut zu stellen. Sie sahen nur ihren Großvater an und warteten, dass er ihnen endlich alles erklären würde. André und Petra hatten so viele Fragen an ihn, dass sie nicht wussten, welche sie zuerst stellen sollten.
Hannes schien die Verwirrtheit der Kinder zu spüren, denn nachdem er sich einige male geräuspert hatte, begann er endlich zu sprechen: „Ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Es ist alles so schwierig. Ich habe immer versucht euch zu schützen, nicht auch in den Bann dieser Welt zu kommen. Es tut mir so leid, dass ich es nicht geschafft habe. Ihr müsst wissen, Klaus ist für uns für immer verloren, wenn wir ihn nicht schnell wieder zu uns zurückholen. Aber ich weiß einfach nicht wie.“ Hannes sah die beiden Kinder an. Tränen glänzten in seinen Augen.
André fand endlich seine Fassung wieder. Langsam ordneten sich die Gedanken in seinem Kopf.
„Wo ist Klaus? Was meinst du mit dieser Welt? Opa, erkläre es uns.“ André sah Hannes an. Auch Petra begann langsam aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufzutauchen. Sie sah ihren Großvater mit ihren großen, fragenden Augen an. Dann stand sie auf und setzte sich auf Hannes Schoß.
„Opa, bitte erzähl doch endlich!“
„Gut, ich will euch nun endlich alles erzählen. Ich kann Klaus nicht zurückholen, dass könnt nur ihr tun. Hört mir genau zu.“ Hannes räusperte sich, dann begann er zu erzählen: „Es ist nun bestimmt schon sechzig Jahre her. Ich war damals genauso alt wie du Petra.“ Wieder machte Hannes eine Pause. Es fiel ihm sichtlich schwer die richtigen Worte zu finden. Wie sollte er auch den Beiden alles, was er so viele Jahre vor ihnen und ihren Eltern verborgen hatte, erklären. Er selbst hatte es doch die letzten Jahre verdrängt.
In einer Welt, wo nur die Realität zählte, war es schwer von Dingen, die mit Wundern und Zauber verbunden waren, zu sprechen. Was würden seine Enkel von seiner Erzählung halten? Würden sie ihm glauben oder alles nur als die Fantasien eines alten Mannes abtun? André sah ja noch nicht einmal den Eingang zu dieser Welt und Petra war noch so jung. Konnten die Kinder die ganze Tragweite von Klaus Handlung verstehen? Nein, wie sollten sie auch. Sie wussten nichts von der Gefahr, in welcher der Junge steckte. Wie sollte er ihnen nur von dieser Welt berichten? Er musste nun wieder daran denken, wie es damals war, als ihm sein Vater die ganze Geschichte berichtete. Wie ungläubig hatte er dem Bericht des Vaters gelauscht. Er hatte die ganze Geschichte als ein Märchen abgetan. Erst viele Jahre später kam ihm er den Mut, die Erzählung seines Vaters zu überprüfen. Nur langsam konnte er sich entschließen, seinen Bericht fortzusetzen.
„Mein Vater zeigte mir damals das Tor zu einer geheimnisvollen, wunderbaren aber auch gefährlichen Welt. Er warnte mich, ich solle nie meinen Fuß dorthinein setzen. Gefahren lauerten darauf, mich ins Verderben zu stürzen. Aber ich glaubte ihm nicht. In mir lebte von dem Tage an nur noch die Neugierde. Wie konnte ich ahnen, dass ich damit meine ganze Zukunft, meine Kinder und Enkelkinder in Gefahr bringen sollte. In mir lebte nur noch der Wunsch diese mystische Welt kennen zu lernen.
Eines Tages, ich war mittlerweile zu einem jungen Burschen von achtzehn Jahren herangewachsen, gingen meine Eltern zu Verwandten auf eine Hochzeit. Vor dem nächsten Morgen wollten sie nicht wieder nach Hause kommen. Das war die Gelegenheit, auf die ich schon so viele Jahre gewartet hatte. An diesem Tag lenkte ich mein Schicksal in eine andere zauberhafte Bahn. Aber an diesem Tag brachte ich auch alle die nach mir kommen sollten in große Gefahr.“
Hannes machte wieder eine Pause. Er musste seine Gedanken sammeln. Zu viele Bilder der Erinnerung drängten sich in seinen Kopf. Er versuchte sie zu ordnen um die Kinder nicht zu verwirren.
„Großvater so erzähl doch weiter.“ Die Kinder blickten ihn mit ihren großen Augen an. Hannes nahm einen Schluck von dem Wasser, das André vor ihm auf den Tisch gestellt hatte. Dann begann er wieder zu erzählen:
„Kurz nachdem meine Eltern das Haus verlassen hatten, ging ich in die Kammer hinauf. Vorsichtig öffnete ich den großen alten Schrank. Noch nie hatte ich ihn von innen gesehen. Es war mir verboten auch nur in seine Nähe zu gehen. Langsam öffnete ich die Türen. Schwer waren sie. Der Anblick der sich mir bot, erschreckte mich zutiefst. Diese Schwärze, die sich meinen neugierigen Blicken bot ließ mir kalte Schauer über den Rücken laufen. Aber nichts konnte mich mehr zurückhalten. Die Neugierde auf das was dahinter lag, war stärker als alle Furcht, die in mir aufkam. Die Erzählungen meines Vaters von dieser mystischen Welt, die in diesem alten Schrank verborgen lag, hatten mich alle Vorsicht vergessen lassen. Jede Warnung meines Vaters war aus meinem Gedächtnis gestrichen. Vor mir lag der Weg in ein Abenteuer. Ich musste nur meinen Fuß durch das schwarze Tor setzen und ich würde eine Welt entdecken, von der kein Mensch je zu träumen gewagt hätte. Beherzt trat ich in den Schrank, in die alles verschlingende Dunkelheit ein ...“

Langsam kam Klaus zu sich. Vorsichtig bewegte er erst den einen dann den anderen Arm. Er schüttelte behutsam seine Beine. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass alle seine Glieder noch ganz waren, setzte er sich sachte auf. Er war von dem Sturzflug noch ganz benommen. In seinem Kopf drehte sich alles. Er konnte es noch nicht so recht glauben, dass er diesen unheimlichen Sturz überlebt hatte. Aber wo befand er sich jetzt?
Alles um ihn herum war ihm fremd und eigenartig. Er lag auf einer Wiese mit den sonderbarsten Blumen. In allen Regenbogenfarben blühte es um ihn herum. Keine der Blüten kannte er, obwohl sein Großvater im Sommer oft mit den Kindern auf den Waldwiesen spazieren ging und ihnen jede Pflanze genau erklärte. Eigenartige Insekten schwirrten um ihn herum. Die seltsamsten Vögel flogen über ihm am Himmel. Alles war so wunderbar und schön.
Klaus überkam ein tiefes Gefühl des Friedens und des Glückes. Sah er sich am Anfang noch etwas ängstlich um, so fühlte er sich jetzt mit jedem Augenblick, den er so saß, immer wohler. Ihm wurde immer leichter um sein Herz. All die Angst, die er bei dem schier endlos scheinenden Flug empfunden hatte, verblasste langsam in seinem Gedächtnis. Fragte er sich in den ersten Momenten noch, wo er war, so war es ihm jetzt schon fast gleichgültig. Hier war es doch so schön und wunderbar. Warum sollte er sich noch Gedanken darüber machen, wo er sich befand? Es gefiel ihm hier und warum einen kostbaren Augenblick mit dumme Gedanken verschwenden? Unmerklich begann Klaus alles zu vergessen. Seinen Namen, wo er herkam, was geschehen war. Alles verblasste in seinem Gedächtnis und er merkte nicht, wie sich eine unheimliche Leere in seinem Kopf ausbreitete. Vergessen waren sein Großvater, sein Bruder und sogar an Petra vermochte er sich nicht mehr zu erinnern. Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit breitete sich in dem Jungen aus. Ihm wurde immer leichter um sein Herz, schließlich legte sich auf sein Gesicht ein glückliches Lächeln.
Klaus sprang fröhlich auf und begann auf der Wiese wild zu springen und zu tanzen. Er jagte hinter den Schmetterlingen her, die wie um mit ihm zu spielen um ihn herumflogen. Wunderbare Schmetterlinge waren es. Klaus hatte sie noch nie gesehen. In allen nur erdenklichen Farben glitzerten sie im Licht der warmen Sonne die hoch am Himmel stand. Immer wieder beugte er sich um an der einen oder anderen Blume zu riechen. Ihr Duft war verwirrend. Süß und fremd stieg er ihm tief in seine Nase. Und mit jedem Atemzug wurde es Klaus immer freier und unbeschwerter ums Herz.
Plötzlich hielt er in seinen Bewegungen inne. Vor ihm war wie aus dem Nichts ein alter Mann erschienen, groß und breit von seiner Statur. Freundlich sah er dem Treiben des Jungen zu. Sanft lächelte er Klaus an, ehe er auf ihn zuging. Klaus betrachtete den Alten neugierig. Langes weißes Haar lag wallend auf seinen Schultern und ein langer und ebenso weißer Bart zierte sein Gesicht. Die Augen des Alten sahen den Jungen freundlich an. Gekleidet war der Mann mit einem Umhang, in den er so gehüllt war, dass man nicht sagen konnte, ob er darunter Hosen oder Röcke trug. Bunt bestickt und mit vielen glitzernden Steinen war der Umhang verziert. Jeder Sonnenstrahl brach sich in den vielen Kristallen, sodass es aussah, als wenn der Fremde von einem Regenbogen umgeben war.
Klaus ging auf den Mann zu. Er empfand keine Furcht vor dem Fremden. Er kannte das Gefühl nicht mehr. Wie alle schlechten Gefühle, so war auch die Furcht aus seinem Empfinden verschwunden. Nur Freude und Glück konnte er in seinem Herzen finden. Da war keine Spur von Misstrauen in ihm. Und obwohl er den Mann noch nie in seinem Leben gesehen haben konnte, fühlte er sich ihm gegenüber doch vertraut und sicher. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, nahm ihn der Alte an die Hand und mit einer gekonnten Bewegung schlug er seinen weiten Mantel um den Jungen und dann verschwanden die Beiden von dieser wunderschönen Märchenwiese.
Als der Umhang sich wieder öffnete, standen die Beiden vor einem prächtigen Schloss. Klaus konnte das mächtige Gebäude nur aus dünnen Augenschlitzen betrachten. Im hellen Sonnenlicht strahlte die weiße Fassade und blendete ihre Betrachter. Blinzelnd betrachtete der Junge dieses riesige märchenhafte Schloss. Weit streckten sich die Zinnen und Türme in den blauen Sommerhimmel. Die goldenen Dächer strahlten in der warmen Mittagssonne. An den Wänden glitzerten viele Kristalle in allen Farben des Regenbogens. An den Fenstern waren goldene Läden. Mächtig und schön stand das Schloss direkt mitten in einer wunderbaren, von den herrlichsten Blumen bewachsenen Wiese. Keine Schutzmauer und kein Graben umgab es. Der Junge konnte sich an der Pracht überhaupt nicht satt sehen.
Klaus und der Zauberer standen an der Seite des Schlosses, an dem sich ein große Tor befand. Im Torbogen stand eine junge Frau. Sie trug ein prächtiges langes Kleid. Es war aus weißem, mit bunten glitzernden Fäden durchwirktem Stoff. Leicht und luftig und zart wie eine Spinnwebe wirkte es. Der sanfte Wind spielte in seinen Falten und dem langen blondem Haar der Frau. Freudig winkte sie dem Jungen zu. Ohne sich auch nur noch einmal dem Zauberer zuzuwenden, lief er mit raschen Schritten zu ihr. Er kannte keine Scheu vor der Fremden. Ihm war, als wenn er sie schon sein ganzes Leben kannte. Klaus hatte das Gefühl hierher zu gehören. An sein richtiges Zuhause hatte er ja keinerlei Erinnerung mehr. Offen stellte er sich vor die junge Frau und lächelte sie freudig an. Sie erwiderte seinen Blick. Sanft lächelnd nahm sie den Jungen an die Hand.
„Schön, dass du endlich da bist, Klaus. Ich habe schon solange auf dich gewartet. Viel Zeit ist ins Land gegangen, seit du mir versprochen wurdest. Komm ich zeige dir dein neues Zuhause.“
Klaus sah sie fragend an. Wieso hatte sie auf ihn gewartet? Wo sollte er die ganze Zeit gewesen sein? Er konnte sich nicht erinnern, jemals an einem anderen Ort gewesen zu sein. Aber schnell verwarf er diese Fragen wieder. Warum sollte er sich um irgend etwas Gedanken machen? Er nahm die Hand der Frau und folgte Alisa, so hatte sie sich ihm vorgestellt, in den großen sonnendurchfluteten Innenhof des Palastes. Hier spielten viele lachende Kinder. Sie sprangen und tanzten. Nur Glück und Spaß schien an diesem märchenhaften Ort zu existieren. Die Junge trugen leichte Hosen und Hemden. Die Mädchen waren in kurze Kleider eingehüllte. Alles war aus demselben leichten Stoff, wie Alisas Kleid. Überall glitzerte und funkelte es. Alles schien aus tausenden strahlenden Kristallen zu bestehen. Das Licht der Sonne ließ auch im Hof alles in den Farben des Regenbogens erstrahlen.
Klaus sah sich neugierig um. Alles war so schön, schien ihm so vertraut. Er hatte nur das Verlangen mit den Kindern zu spielen, den bunten Schmetterlingen nachzujagen, zu tanzen und zu springen. Er fühlte sich von allem so angezogen.
Klaus wollte gerade zu den Kindern gehen, als er sanft von Alisa zu einer großen Tür am anderen Ende des Hofes geschoben wurde. Sie führte ihn in das Innere des Schlosses. War der Palast schon von außen so schön, dass man die Blicke nicht von ihm wenden konnte, so war das, was sich im Inneren seinen Augen bot, noch unvorstellbarer. Sie betraten eine große Halle. Mit prächtigen Bildern waren die Wände und die Decke bemalt. Die schönsten Märchenwesen waren auf ihnen zu sehen. Zwischen den Bildern waren die Wände mit goldenen Stoffen bespannt. Der Boden bestand aus feinen glänzenden Marmorplatten. Ein langer roter, mit goldenen Fäden durchwirkter Läufer zeigte den Eintretenden den Weg zur nächsten Tür und zu der großen geschwungenen Treppe.
Alisa ging mit leichtem, fast tanzendem Schritt auf die Treppe zu. Klaus folgte ihr. Die Stufen bestanden aus weißem Marmor. Das Geländer war mit vielen sonderbaren Ornamenten und Blüten verziert. Klaus kamen sie bekannt vor, doch konnte er sich nicht erinnern, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Er machte sich keine Gedanken darüber. Warum auch? Gab es hier doch so viele wunderbare Dinge zu entdecken.
Klaus folgte Alisa, die mit leichtem Schritt die Treppe empor stieg. Sie erreichten rasch das Ende der Stufen und standen nun vor einer großen, die genau wie das Geländer, reich verzierten Tür. Langsam öffnete Alisa diese und trat ein. Klaus folgte ihr ohne zu zögern.
Der Raum war kleiner als die Halle, durch die sie das Schloss betreten hatten. Aber er war nicht minder prächtig gestaltet. Der Tür gegenüber waren große Fenster, durch die das helle Licht der Sonne schien. Zu seiner Rechten sah Klaus einen reich verzierten Kamin mit allerlei Dingen darauf. Davor standen zwei hohe Sessel mit einem niedrigen Tisch. Klaus konnte nicht erkennen, ob jemand in ihnen saß. An den Wänden standen mehrere goldfarbene Stühle. Von der Decke hing ein im Sonnenlicht funkelnder Kronleuchter. Zu seiner Linken, dem Kamin gegenüber, stand ein Schreibtisch, hinter dem ein großer, bequem aussehender Sessel stand. Im Vergleich zu dem Rest der Einrichtung wirkte er einfach.
„Komm herein und setz dich mein Junge.“ Ein Mann war von dem Sessel, den Klaus nicht hatte einsehen können, aufgestanden und machte eine einladende Bewegung. Im Vergleich zu den hell gekleideten Kindern und zu Alisas weißem Kleid, wirkte er düster. Aber da Klaus keine Angst mehr kannte, ging er ohne zu zögern zu dem Mann und seiner Einladung folgend, setzte er sich in einen der großen Sessel. Ruhig nahm er Platz. Der Fremde lächelte.
„Ich freue mich dich endlich bei mir zu haben. Ich bin Landro, der Herrscher über Fairyana. Ich habe lange auf dich warten müssen, aber ich habe immer gewusst, dass du eines Tages den Weg zu mir finden würdest, so wie es deine Bestimmung war.“ Lächelnd sah er den Jungen an. Dann sprach er weiter: „Du musst wissen, dass du mir schon vor vielen Jahren versprochen wurdest. Damals hat dein Großvater mir mein Kind gestohlen. Du bist der Preis, den ich dafür von ihm gefordert habe.“ Der Mann machte eine Pause, dann sprach er weiter: “Ich hoffe, du wirst dich hier bei mir wohl fühlen. Du darfst alles tun, was dein Herz begehrt. Jeder Wunsch soll dir erfüllt werden. Du bist der Prinz, mein Nachfolger, auf den wir so viele Jahre gewartet haben. Alisa zeigt dir deine Gemächer und deine neuen Sachen. Wir sehen uns später zum Essen.“ Freundlich strich Landro Klaus über das Haar. Klaus stand auf und ging zurück zu Alisa. Instinktiv spürte er, dass de Unterhaltung mit Landro beendet war.
Alisa wartet bei der Tür. Klaus nahm ihre Hand. Sie führte ihn die Treppe weiter empor, dann gingen sie in ein Zimmer. An der einen Seite stand ein großes Bett. Dem gegenüber war größeren Kleiderschrank, außerdem standen noch ein Tisch mit zwei Stühlen in der Mitte. Nahe dem Bett befand sich noch ein prächtig verzierter Kamin.
Alisa ging zu dem Schrank und nahm ein Gewand heraus. Klaus zog es ohne lange zu überlegen an. Es war eines der Kleider, wie sie die Jungen draußen im Hof trugen. Er sah sich noch einmal kurz im Zimmer um, dann ging er hinaus, sprang die Treppe hinunter und raste in den Hof. Ohne lange zu zögern begann er mit den anderen Kindern zu spielen. Er sprang mit ihnen hinter den Schmetterlingen her, tanzte durch den Hof, sprang auf den Rand des Brunnens, welcher sich in der Mitte des Hofes befand, und spritzte mit dem Wasser nach den anderen Kindern, um sie zu necken. Ihm war, als wenn er schon ewig hier lebte.

Wieder war Stille in die kleine Hütte des alten Hannes eingekehrt. Gebannt sahen Petra und André den Großvater an, aber keines der Kinder wagte es, den Alten anzusprechen. Abwartend saßen die Beiden auf ihren Stühlen. Dann endlich räusperte sich Hannes kurz und sprach weiter:
„Ich fiel und fiel. Mir schien es, als wenn ich viele, viele Kilometer in die Tiefe stürzte. Irgendwann verlor ich die Besinnung. Und als ich wieder zu mir kam, befand ich mich auf einer großen, mit den wundersamsten Blumen bewachsenen Wiese. Langsam, nach dem ich begriffen hatte, dass ich noch lebte, setzte ich mich auf. Es war warm und ein blauer Himmel überspannte die Wiese. Überall blühten die herrlichsten Blumen. Schmetterlinge flatterten munter um mich herum. Es war wie im Märchen. Mich erfüllte ein Gefühl tiefen Friedens. Mir wurde mit jeder Minute leichter um mein Herz. Tief zog ich die warme Luft in meine Lungen. Mir schwanden fast die Sinne von dem schweren Duft der Blumen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals an einem solch schönen Ort gewesen zu sein. Rasch stand ich auf und lief auf der Wiese umher. Ich suchte nach anderen Menschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich die einzige Person an einem solch wunderbaren Ort sein sollte.
Lange irrte ich auf der Wiese umher. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich umhergelaufen bin. Langsam dämmerte der Abend. Ich wurde müde. Suchend hielt ich nach einem Platz, wo ich übernachten konnte, Ausschau. Weit in der Ferne erkannte ich ein Gebäude. Ich entschloss mich, zu dem Haus hinzugehen. Mein Magen knurrte und ich sehnte mich nach einem Bett, also setzte ich meinen Weg in Richtung des Gebäudes fort. Mit jedem Meter, den ich meinem Ziel näher kam, wurde das Bauwerk immer größer, bis ich schließlich vor einem prächtigen Schloss stand. Die Fenster waren hell erleuchtet und fröhliche Musik tönte an meine Ohren. Vorsichtig näherte ich mich einem der Fenster. Ich reckte mich und versuchte einen Blick in das Innere zu erhaschen. Die Pracht, die sich meinen Augen bot war unbeschreiblich. Viele Leute wiegten sich im Takt einer seltsamen, aber wunderschönen Melodie. Spaß und Frohsinn schien den Raum zu erfüllen. Ich schaute eine ganze Weile dem Treiben der Menschen zu. Besonders eine junge Frau beobachtete ich. Sie war wunderschön. Ihr goldenes Haar wehte mit jeder Bewegung. Sanft wiegte sie sich zu der Musik. Ihr weißes Kleid umschmeichelte ihre schlanke Figur. Immer wieder wanderten meine Blicke zu der schönen Fremden hin, bis ich alle Vorsicht vergaß und nicht mehr darauf achtete, ob ich entdeckt wurde.
Ich weiß nicht, wie lange ich am Fenster gestanden hatte und der Schönen zusah. Wie erschrak ich, als sich unsere Blicke trafen. Schnell sprang ich vom Fenster fort, aber es nützte mir nichts. Meine Anwesenheit war entdeckt. Eine unendliche Angst nahm von mir Besitz. Was würden diese Leute mit mir tun? Ich hatte sie heimlich beobachtet. Ich ein einfacher Bauernbursche. Wie sehr musste meine Anwesenheit stören? Aber meine Ängste sollten sich als grundlos herausstellen. Ich überlegte was ich nun tun sollte. Aber schneller als ich erwartete kam die Gesellschaft zu mir. Sie umringten mich und betrachteten mich neugierig. Ein kleiner Junge trat auf mich zu und berührte meine Jacke. Meine Kleidung musste fremd auf die Leute wirken, denn alle waren in helle leichte Stoffe gekleidet. Nur zwei Männer stachen in ihrer Kleidung aus der Menge heraus. Freundlich trat der eine zu mir. „Wer bist du Fremder? Welcher Weg führte dich zu uns?“ Fragend blickte er mich an. Ängstlich sah ich ihn an. Aber dann fasste ich all meinen Mut zusammen und antwortete ihm. Ich erzählte ihm, woher ich kam und dass ich den ganzen Tag umhergeirrt war, auf der Suche nach einem lebenden Wesen. Ich entschuldigte mich für mein Stören. Der Mann lächelte, dann sprach er: „Du brauchst keine Furcht zu haben. Bei uns ist jeder willkommen, der den Weg zu uns gefunden hat, denn jeder folgt nur seiner Bestimmung und dieser dürfen wir uns nicht in den Weg stellen. Ich bin Landro, der Herrscher über Fairyana, diese Welt. Sei unser Gast. Du bist uns herzlich willkommen.“
Noch etwas zögernd folgte ich der Gesellschaft ins Innere des Palastes. Die Pracht und Herrlichkeit, die sich mir bot, übertraf alles, was ich mir je hätte erträumen können. Durch ein großes Tor gelangten wir in den Innenhof des Schlosses, dann in den großen Ballsaal. Dort traf ich auch wieder auf das schöne Mädchen, das ich die ganze Zeit beobachtet hatte.
Freundlich lächelte sie mich an und kam mit fast schwebenden Schritten auf mich zu. Sanft nahm sie mich bei der Hand und ohne ein Wort zu sagen, begann sie mit mir zu tanzen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich zu Musik bewegt. Zu Hause war dafür keine Zeit. Wenn ich mit der Schule fertig war, musste ich meinen Eltern bei der Arbeit auf dem Feld helfen. Aber wie durch ein Wunder bewegten sich meine Füße ganz von alleine. Fast schien es mir, als wenn ich über den Boden schwebte. Mit jedem Tanzschritt wurde ich sicherer. Immer wieder sah ich in die Augen meiner schönen Tanzpartnerin. Tiefe dunkelblaue Augen strahlten mir entgegen. Das Licht der Leuchter funkelte wie tausend Sterne am Nachthimmel in dem unbeschreiblichen Blau ihrer Augen. Ich war gefangen von ihren Blicken. Alles um mich herum vergaß ich. Für mich existierten nur noch diese Augen. Ich verliebte mich unsterblich. Obwohl ich ihren Namen nicht kannte, war mir mit einmal klar, dass diese Frau meine Zukunft war. Nie zuvor hatte mich ein Mädchen so gefesselt.
Von meiner Müdigkeit war nichts mehr zu spüren. Die ganze Nacht tanzte ich mit meiner schönen Unbekannten. Nicht einen Tanz ließen wir aus. Als die Kapelle eine Pause einlegte, führte sie mich in einen anderen Raum. Hier war eine große Tafel mit den herrlichsten Speisen und Getränken. Mein Magen knurrte mächtig bei all den Leckereien. Jetzt erst fühlte ich meinen großen Hunger.
„Du musst hungrig sein. Hier findest du alles, was dein Herz begehrt. Ich hoffe, es ist nach deinem Geschmack. Wir haben hier nicht oft Fremde in unserem Palast.“
Sanft fasste sie meine Hand und führte mich zu der Tafel. Die Auswahl an Speisen war so überwältigend, dass ich mich nicht entscheiden konnte, welche ich probieren sollte. Nur zögernd nahm ich mir etwas von dem weißen Brot und von dem duftenden Braten.
„Wie ist dein Name?“ Fragend sah mich das Mädchen an.
„Ich heiße Hannes“, sagte ich. „Aber wie nennt man dich und wo bin ich hier?“
„Oh, ich bin …“ Weiter kam sie nicht. Landro hatte den Raum betreten und sich uns unbemerkt genäherte.
„Ich hoffe, unsere Speisen munden dir. Ich sehe, Mariella meine Tochter sorgt gut für dich. Sie wird dir, wenn dein Appetit gestillt ist dein Zimmer zeigen. Du musst müde sein, wenn du schon den ganzen Tag auf den Beinen warst. Wir werden uns morgen, wenn du dich ausgeruht hast, über all deine Fragen unterhalten können. Ich muss nun wieder zu meinen Gästen gehen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Raum genauso still und unverhofft, wie er ihn betreten hatte.
Ich verzehrte die mir angebotenen Speisen, trank den süßen Wein, den Mariella mir eingeschenkt hatte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Köstlichkeiten zu mir genommen. Nachdem ich anfänglich zögerte von den Köstlichkeiten zu nehmen, siegte schließlich mein riesiger Hunger. Ich hatte ja den ganzen Tag nichts gegessen. Doch immer wieder wanderte dabei mein Blick zu Mariella, die an meiner Seite saß. Sie lächelte. Dann fragte sie mich: „Wo kommst du her? Ach bitte erzähle mir doch etwas von dir. Ich bin so neugierig. Noch nie war ein Fremder bei uns.“
Mit vollem Mund wollte ich ihr antworten, aber ich brachte nur unverständliche Laute hervor. Schnell schlang ich die letzten Bissen herunter. Mariella lachte über meine Hast.
„Ich wohne mit meinen Eltern am Waldrand in einem kleinen Häuschen. Mein Vater hat da einen Schrank stehen, in den bin ich gegangen. Aber auf einmal lag ich auf einer herrlichen Blumenwiese. Ich weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin. Den ganzen Tag habe ich damit verbracht, eine menschliche Seele zu finden, die ich nach dem Weg nach Hause fragen konnte. Erst als es dunkelte fand ich euren Palast. Es ist so schön bei euch. Noch nie in meinem Leben habe ich solch eine Pracht gesehen.“ Ein Gähnen übermannte mich. Ich fühlte wieder die tiefe Müdigkeit in mir. Mariella entging es nicht. Sanft sagte: „Komm, ich bringe dich in deine Gemächer. Morgen, wenn du dich ausgeruht hast, können wir über alles reden. Dann kannst du mir von deiner Welt erzählen. Ich werde morgen versuchen all deine Fragen zu beantworten. Wir haben ja noch viel Zeit.“ Mit diesen Worten stand sie von der Tafel auf. Zart fasste sie meine Hand. Wie in Trance folgte ich ihr, ohne etwas von meiner Umgebung wahrzunehmen. Alles was ich sah, war sie.
Wir gingen zwei Treppe hinauf, zu einem langen breiten Gang. Sie ging mit mir zu einer Tür. Langsam öffnete sie diese und trat ein. Gedämpftes Licht erfüllte den Raum, das nur wenig von seinem Inneren preisgab. Ich sah nur noch das große Bett, welches an der einen Wand stand.
„Ich wünsche dir eine gute Nacht.“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von mir. Ich ging ohne zu zögern auf das Bett zu und ließ mich darauf fallen. Augenblicklich schlief ich ein.
Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Es musste schon fast Mittag sein. Ich hatte ein feines weißes Nachthemd an. Aber wann ich mich umgezogen hatte, daran konnte ich mich nicht erinnern. Noch etwas benommen sah ich mich in dem Raum um. Neben dem Bett, auf einem Stuhl lagen frische saubere Kleider. Meine Hose und das Hemd waren verschwunden. Ich zog die Sachen über. Dann sah ich mich in dem Zimmer weiter um. Es war groß und aufs prächtigste eingerichtet. An den Wänden befanden sich große Bilder. An den Fenstern hingen goldfarbene, wie Spinnenweben feine Gardinen. Die Möbel waren ebenfalls golden und mit allerlei seltsamen Blumen bemalt. An der Decke schwebten Engel. Jeder hatte ein Instrument in der Hand und fast glaubt ich ihre Musik hören zu können. Mir war, als wenn ich noch träumte. In Gedanken wartete ich darauf jeden Augenblick von meiner Mutter geweckt zu werden. Das konnte ja nur ein Traum sein. Wie kam ich, ein Junge aus dem Wald, in ein so wunderbares Schloss? Ich saß auf dem Bett, aber schon nach ein paar Minuten übermannte mich die Sehnsucht nach der schönen Mariella. Tief in meiner Seele hoffte ich sie nicht nur in einem Traum kennen gelernt zu haben. Schnell öffnete ich die Tür und ging hinaus.
Ich fand mich in einem weiten Flur wieder. Ich sah nach rechts und links, aber ich konnte keinen Menschen entdecken. Es gab viele Türen hier. Vorsichtig ging ich zur Tür zu meiner Rechten. Sachte klopfte ich an, aber keinen Laut konnte ich aus dem Inneren vernehmen. Vorsichtig öffnete ich sie. Dahinter lag ein prächtiges Zimmer. Nicht minder reich eingerichtet, wie das, in welchem ich geschlafen hatte. Ich verließ den Raum und versuchte mein Glück bei der nächsten Tür, aber auch da fand sich keine menschliche Seele. Die Zimmer waren wie ausgestorben. Schließlich erreichte ich die Treppe, die ich am Abend mit Mariella herauf gekommen war. Durch das Geländer sah ich zur nächsten Etage hinunter. Auch dort konnte ich niemanden entdecken. Schnell sprang ich die Treppe hinunter.
Wieder lag ein großer breiter Gang vor mir. Hier gab es aber nur eine prächtig verzierte Tür. Vorsichtig klopfte ich an. Statt einer Antwort öffnete sie sich wie von Geisterhand. Zögernd trat ich ein. Ein großer Raum lag vor mir. Die freundliche Stimme Landros klang vom Kamin zu mir. Ich konnte ihn nicht sehen, da er in einem der großen Sessel, welche vor dem Kamin standen, saß.
„Komm zu mir Hannes. Du hast lange geschlafen. Die Anderen sind alle draußen im Garten. Du kannst mir Gesellschaft leisten und wir können uns unterhalten. Sicher hast du viele Fragen.“ Mit diesen Worten stand er auf und wies mir den anderen Platz zu. Noch etwas zögernd nahm ich die Einladung an.
Landro ging zu dem Schreibtisch, welcher dem Kamin gegenüber stand. Dort nahm er eine kleine Glocke und läutete. Es dauerte nicht lange und ein junges Mädchen betrat den Raum. Landro gab ihr einige Anweisungen, und sie verließ das Zimmer wieder. Aber schon nach kurzer Zeit kam sie zurück und trug ein Tablett mit duftenden Speisen herein. Sie stellte es auf den Tisch, der zwischen den Sesseln stand. Landro kam zu mir zurück und setzte sich wieder auf seinen Platz. Dann sprach er zu mir: „Du musst hungrig sein. Das Frühstück hast du ja verschlafen. Ich habe alle angewiesen dir deine Ruhe zu lassen. Dein Weg zu uns war gewisslich nicht einfach. Iss, dann werden wir uns unterhalten. Du hast bestimmt eine Menge Fragen an mich.“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Schon der Duft der Speisen hatte mir das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Mein Magen knurrte unaufhörlich. Schnell hatte ich meinen Teller geleert. Ich trank von dem süßen Most und als mein Appetit gestillt war, lehnte ich mich in den großen breiten Sessel zurück. Landro lächelte mich an. Seine Kleidung wirkte auf mich zwar etwas düster, aber in seinen Augen sah ich nur Freundlichkeit. Die Wärme die er ausstrahlte sorgte dafür, dass ich mich langsam wohl zu fühlen begann. Stille lag im Raum. Ich wagte nicht als erster das Wort an Landro zu richten. Zwar hatte ich keine Angst vor ihm, aber der Respekt vor dem Herrscher dieses Landes gebot mir zu warten, bis ich von ihm angesprochen wurde.
„Ich hoffe, das Mahl war nach deinem Geschmack. Aber jetzt erzähle mir, wie du den Weg zu uns gefunden hast. Ich dachte, ich hätte alle Pforten zu eurer Welt geschlossen. Die Anderen wissen es nicht mehr, aber vor vielen Jahren habt ihr oft unsere Welt besucht. Wir nahmen euch immer freundlich auf, aber ihr konntet mit unserer Lebensweise und unseren Gesetzen nichts anfangen. Immer öfter gab es Zank und Streitereien zwischen uns und euch. Dies brachte unsere Welt in Gefahr, so zu werden, wie es bei euch ist. Ich musste mein Volk davor schützen und so beschloss ich, den Zugang zu Fairyana für alle Zeit für euch zu verschließen.“
Ich erzählte Landros meine ganze Geschichte. Als ich meinen Bericht beendet hatte, sah er mich eine Weile in Gedanken versunken an, dann sprach er: „Wir haben dich hier bei uns freundlich aufgenommen. Du musst verstehen, dass ich es nicht zulassen kann, dass du jemals wieder in deine Welt zurückkehren kannst. Die Gefahr, dass andere deinem Weg folgen ist zu groß. Ich kann nicht noch einmal das Leben meines Volkes in Gefahr bringen. Ich habe Angst, dass es wieder so werden könnte wie damals. Ich kenne euch Menschen und wenn ihr es auch nicht mit Absicht wollt, so liegt es doch in eurer Natur alles Fremde zu zerstören.“ Ernst sah er mich an. Auf meinem Gesicht musste wohl so etwas wie Entsetzen gelegen haben. Nie wieder sollte ich nach Hause zu meinen Eltern kommen. Ich konnte die ganze Tragweite seiner Worte noch nicht recht erfassen.
Plötzlich öffnete sich die Tür und Mariella trat herein. Ihr Lächeln verwischte alle meine schlechten Gedanken, die noch vor einem Augenblick in meinem Kopf umhergingen. Mir wurde bei ihrem Anblick leicht ums Herz. Auf einmal war der Gedanke, nie wieder nach Hause zu können, nicht mehr so schlimm. Ich fühlte, dass Mariella mein Schicksal war.“
Hannes machte eine Pause. Tränen rannen an seinen Wangen hinunter. Die Kinder sahen, dass es ihrem Großvater sichtlich schwer fiel weiter zu erzählen. So sehr sie auch den Fortgang der Geschichte erfahren wollten, so beherrschten doch sie ihre Ungeduld und ließen Hannes Zeit, sich zu beruhigen.

Die Tage vergingen. Sie waren angefüllt mit Ausgelassenheit und Frohsinn. Klaus hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er genoss den Spaß und das Spiel mit den anderen Kindern. Oft ging er mit Landro spazieren. Er zeigte ihm die schönsten Plätze in dieser Welt, lehrte ihn die Namen der Pflanzen. Manchmal machten sie lange Ausflüge in die Wälder um zu jagen. An den Vormittagen unterrichtet Landro den Jungen. Er lehrte Klaus die Geschichte des Landes und brachte ihm alles bei, was von Nöten war, um ein solches Land einmal regieren zu können. Klaus sollte schließlich eines Tages die Herrschaft über dieses wunderbare Reich übernehmen. Dem Jungen gefiel der Gedanke, einmal König zu sein. Und mit jedem Tag wuchs er mehr und mehr in die ihm zugedachte Rolle hinein.
Hatte er sich anfangs noch ab und an Gedanken darüber gemacht, wo er herkam, so verschwendete er immer weniger Zeit damit sich über seine Vergangenheit, von der er ja doch nichts mehr wusste, den Kopf zu zerbrechen. Warum sollte er auch der Vergangenheit nachhängen. Ihm ging es gut hier, wo er war. Nur manchmal überkam ihn ein eigenartiges Gefühl. Jedes Mal, wenn er vor einen Spiegel trat, glaubte er ein anderes Gesicht zu sehen. Es war seinem zwar sehr ähnlich, aber doch konnte er fast fühlen, dass es nicht seines war. Doch immer, wenn er versuchte sich zu erinnern, zu wem es gehören könnte, verschwand es. Und wie es aus seinem Blick entschwunden war, so hatte er es auch schon wieder vergessen. Klaus hätte es nicht beschreiben können, selbst wenn er sich bemühte, er konnte das Gesicht nicht in sein Gedächtnis zurück rufen. Alles was ihm blieb, war dieses unwohle Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben. Einmal sprach er Alisa darauf an, aber sie tat es nur mit einer Bemerkung ab, dass er es wohl nur geträumt hatte. So versuchte er dieses Gefühl zu verwerfen. Manchmal glückte es ihm auch. Aber immer wieder, wenn er vor einen Spiegel trat, tauchte das Gesicht auf, wie ein Geist aus einer Vergangenheit, von der er ja doch keinerlei Erinnerungen hatte.
Immer seltener versuchte er sich an seine Vergangenheit zu erinnern. Hatte er anfangs noch versucht etwas darüber herauszubekommen, so wurden diese Versuche immer seltener. Es hatte ja auch keinen Sinn. Jedes mal, wenn er versuchte mit Landro oder Alisa darüber zu reden, sagten sie nur, er solle sich darüber keine Gedanken machen. Er war jetzt hier, und hier läge seine Zukunft. Schon nach wenigen Tagen fand er keinen Grund mehr, an seine Vergangenheit auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Er hatte ja eine Aufgabe hier und jetzt. Warum also vergangenem nachtrauern?
Die Tage vergingen. Für Klaus war es eine Zeit, die er aus vollem Herzen genoss. Soweit es der Unterricht bei Landro erlaubte, besuchte er den Zauberer Kardan, der ihn damals von der Blumenwiese zum Palast gebracht hatte. Klaus fand seinen Spaß daran allerlei Zaubertricks von ihm zu lernen. Und schon bald war er selbst ein kleiner Meister in dem einen oder anderem Kunststück. Hier in diesem Land gab es Magie - richtige Magie. Zauberei war hier nicht nur ein Trick, sondern hier konnten tatsächlich Dinge verschwinden, auftauchen oder sich vor den Augen des Zuschauers in andere Dinge verwandeln. Das konnte Klaus jedoch nicht. Kardan erklärte ihm, dass er noch nicht lange genug in dieser Welt aus Wundern war. Aber das Blut, welches in seinen Adern floss, würde schon bald dafür sorgen, dass auch er ein richtiger Zauberer werden konnte. Schließlich stammte er ja von einer großen gutmütigen Fee ab.
Aber von all dem hatte Klaus noch keine Ahnung. Er genoss das Leben, welches er hier führte aus vollen Zügen. Jeder neue Tag brachte ihm neue Abenteuer und neue Erfahrungen. Am meisten machte es ihm Spaß, das Schloss zu durchstöbern und immer wieder auf neue Entdeckungstouren zu gehen. Jeden Tag erkundete er einen anderen Teil des Palastes. Landro hatte ihm den Zugang zu allen Räumen gestattet. Nur in die Kellergewölbe durfte Klaus nicht gehen. Streng hatte Landro es ihm verboten. Zu viele Gefahren würden in den alten Gängen unter dem Schloss auf ihn lauern. Klaus reizte das Verbotene zwar sehr, aber er beschloss erst einmal nicht gegen die Anweisungen von Landro zu verstoßen.
Gerade war er dabei, sich auf den Weg zum Dachboden zu machen. Dort hatte er ein paar alte Truhen entdeckt, die nur darauf warteten, ihren Inhalt dem Jungen preiszugeben. Er rannte die große Treppe hinauf, vorbei an Landros Zimmer, die nächste Treppe empor, dann den langen Flur entlang, bis er zu der kleinen versteckten Treppe kam, die zum Dachboden führte. Flink sprang er die Stufen hinauf und stieß die Tür, die ihm sein Ziel versperrte, auf. Knarrend gab sie seinem Stoß nach und sprang auf. Eine große Staubwolke stob ihm entgegen und kitzelte in seiner Nase, so dass er heftig niesen musste. Fast verlor er den Halt auf der steilen Stiege. Heftig mit den Armen rudernd, versuchte er das Gleichgewicht wieder zu erlangen.
Nach wenigen Augenblicken löste sich die Wolke auf und Klaus fand seinen Halt wieder. Mit den Händen rieb er sich den Staub aus den Augen, nieste noch einmal heftig, dann stieg er die letzten Stufen hinauf.
Auf dem Dachboden angekommen, schloss er die Tür hinter sich. Er wollte hier ungestört sein. Klaus mochte es zwar sehr immer jemanden zu haben, mit dem er reden und spielen konnte, doch manchmal brauchte er auch Ruhe um alleine zu sein. Hier oben auf dem Dachboden hatte er einen Platz gefunden, wo er seinen Gedanken nachhängen konnte, wo er ganz für sich alleine war. Außerdem lagerten hier viele interessante Dinge, die Klaus in ihren Bann gezogen hatten. Schon oft war er hier herauf gekommen, um die alten Bilder zu betrachten, in den alten Schränken und Truhen zu stöbern. Vor allem die eine Truhe, welche er vor ein paar Tagen in einer dunklen Ecke entdeckte, hatte es ihm angetan.
Nachdem er sich an das auf dem Dachboden herrschende Dämmerlicht gewöhnt hatte, machte er sich auf den Weg zu der Stelle, wo die Truhe stand. Viele staubige Spinnweben hingen wie Gardinen von den Balken. Überall war es verstaubt und schmutzig. Oft musste er über altes Spielzeug steigen, vorbei an einer Menge alter Bilder. Hier herrschte ein riesiges Durcheinander und eine dicke Staubschicht lag auf allen Gegenständen. In den wenigen Sonnenstrahlen, die durch die eine oder andere Ritze drang, tanzten dicke Staubflocken, welche Klaus auf seinem Weg aufwirbelte. Ein leichter Luftzug ließ die dünnen Gespinste der Spinnen schweben. Lange schon musste es her sein, dass eine lebende Seele diesen Dachboden aufgesucht hatte. Klaus musste der erste Seit vielen Jahren sein, den die Neugierde an diesen Ort trieb.
Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg in die hinterste Ecke. Nur von weitem hatte er vor ein paar Tagen die alte Truhe stehen sehen. Er versucht zwar sie zu erreichen, aber dann störte ihn Dimos, ein Junge, mit dem er öfter spielte. Er war ihm unbemerkt hier herauf gefolgt in der Annahme, Klaus würde mit ihm alleine spielen. Damit war die Ruhe, die er an diesem Ort gesucht hatte, vorbei. Aber heute wollte er sich durch nichts stören lassen. Vorsichtshalber hatte er einen Stuhl vor die Tür geschoben, damit niemand herauf kommen konnte.
Nur langsam kam er seinem Ziel näher. Immer wieder versperrten ihm Kisten den Weg und er musste über sie hinübersteigen oder einen Weg an ihnen vorbei finden. Alte Bilder standen ihm im Weg, so dass er sie beiseite schieben musste. Doch endlich erreichte er sein Ziel. Endlich stand er vor der Truhe, die Klaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Selbst durch den zentimeterdicken Staub glänzte sie golden und ihre Form unterschied sich sehr von der der anderen. Sie sah anders aus, als all die anderen, die hier gelagert waren. Groß war sie und irgendwie zog sie Klaus magisch in ihren Bann.
Warum hatte Landro diese schöne Truhe hierher bringen lassen? War sie nicht viel zu schade für einen solchen Ort? Sachte strich er mit der Hand den Staub vom Deckel. Darunter kam die ganze Pracht der Truhe zu Tage. Der Deckel war mit den schönsten Mustern und Blumen verziert. Irgendwo hatte Klaus das Muster schon einmal gesehen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern wo. In seinem Kopf herrschte eine gähnende Leere, was seine Vergangenheit betraf. Klaus hatte oft angestrengt versucht, an seine Erinnerungen zu gelangen. Er war überzeugt, dass sie noch irgendwo tief in seinem Kopf verborgen waren. Manchmal tauchte ein Bild oder ein Gefühl von damals wie ein Blitz auf, aber jedes Mal, wenn er diese sie zu fassen versuchte, verschwanden sie wieder ins nichts.
Klaus kniete sich neben die Truhe. Hastig wischte er mit beiden Händen den Staub vollends von der Truhe. Klaus musste von den umher wirbelnden Flocken häufig niesen und seine Augen begannen zu Tränen. Endlich legte sich die Staubwolke wieder und gab dem Jungen den Blick auf die Truhe frei, die jetzt in ihrer ganzen Herrlichkeit vor dem Jungen stand. So dick die Staubschicht von den vielen Jahren, die die Truhe schon unbeachtet hier gestanden haben musste war, so hatte sie doch nichts von ihrer Schönheit verloren. Noch immer leuchteten die bunten Farben, noch immer glänzte das Gold der Beschläge in den kärglichen Sonnenstrahlen, die wie goldene Fäden das Dämmerlicht durchschnitten. Es schien fast so, als wenn die zerstörerische Kraft der Zeit um diesen Gegenstand einen Bogen geschlagen hätte.
Sanft strich Klaus mit den Händen über das Holz, ließ seine Finger um den Knauf, an dem das Schloss befestigt war, spielen. Prüfend betrachtete er sich das Schloss. Es wirkte sehr stabil. Er rüttelte daran, aber er bekam es nicht auf. Klaus sah sich in der näheren Umgebung um, ob er einen Schlüssel oder einen anderen Gegenstand fand, mit dem er das Schloss öffnen konnte, aber er fand nichts. Enttäuscht rüttelte er noch einmal kräftig daran. Vielleicht war es ja überhaupt nicht verschlossen, vielleicht ging es ja auf, wenn er nur genug daran rüttelte? Und mit einer letzten verzweifelten Hoffnung rüttelte und schüttelte er noch einmal kräftig mit beiden Händen an dem Schoß. Enttäuscht lies Klaus die Hände sinken. Schon seit Tagen hatte er seine Neugierde kaum zügeln können, ja manchen Tag hatte er das sichere Gefühl gleich vor Spannung zu platzen. Wie lange hatte er warten müssen, bis sich ihm die Gelegenheit bot, ungestört seine Entdeckung genauer unter die Lupe zu nehmen. Sollte seine Geduld nun doch nicht belohnt werden? Hatte er es nicht verdient, dass seine Neugierde endlich gestillt wurde? Traurig stand Klaus auf und wendete sich von der Truhe ab. Er war betrübt. Keine der anderen Schränke und Truhen, die hier umher standen, waren verschlossen. Überall konnte Klaus sich mit seinen neugierigen Blicken satt sehen. Alles durfte er untersuchen und betrachten. Nichts gab es hier und auch im Rest des Schlosses, dass Klaus nicht hätte ansehen dürfen. Nur diese eine Truhe sollte vor ihm verschlossen sein? Dem Jungen war noch nicht einmal aufgefallen, ob es in diesem Land überhaupt irgendwelche Schlösser gab.
Kurz drehte sich Klaus noch einmal zu der Truhe um. Wütend versetzte er dem Schloss einen Tritt mit dem Fuß. Da geschah es. Ein lautes Knacken ertönte und das Schloss fiel vom Knauf. Wie durch Zauberhand öffnete sich der Deckel der Truhe. Ein goldenes Strahlen blendete Klaus die Augen. Es tat weh und er musste sie schließen. Erst nach einigen Minuten öffnete er vorsichtig wieder die Augen. Mit den Händen rieb er sich die brennenden Augen. Dann sah er zur Truhe. Sie stand offen vor ihm und bot dem Jungen freizügig ihren Inhalt dar. Sachte beugte sich Klaus hinunter. Ein magisches Strahlen drang mit sanftem Licht aus der Truhe heraus und ließ das Dämmerlicht um ihn herum verschwinden. Klaus sah sich vorsichtig um, dann streckte er seine Hände nach dem Inneren der Truhe und nahm einen Gegenstand heraus. In seinen Händen ruhte ein Bild. Es zeigte eine junge, wunderschöne Frau. Klaus ließ seine Blicke über das schöne Antlitz gleiten. Dann fingen sich seine Blicke in den Augen der Dame.
Erschrocken ließ er das Gemälde zurück in die Truhe fallen. Ein tiefer Schmerz fuhr in seinen Kopf. Schützend legte er die Hände auf sein Haupt. Tränen der Pein rannen Klaus aus den Augen. Und immer wieder tanzten fremde Gesichter vor seinen geschlossenen Augen. Bilder von unbekannten Orten schossen durch seine Gedanken. Dann, nach einem unendlichen Augenblick war es still in seinem Kopf. Die fremden Bilder verblassten. Vorsichtig öffnete er wieder die Augen. Vor ihm stand die verschlossene Truhe, mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Hatte er das alles nur geträumt? Aber nein, in seinem Kopf war immer noch dieser stechende Schmerz und ließ ihn diese Antwort schnell verwerfen. Vorsichtig griff er nach dem Schloss an der Truhe, aber es war fest verschlossen. War alles nur ein Zauber?
Klaus sah sich auf dem Dachboden um. Alles sah aus wie immer, wenn er hier war. Sachte stand er auf und machte sich daran, zur Tür zurück zu gehen. Mühsam war der Weg, immer wieder versperrten ihm die verschiedensten Hindernisse seinen Weg. Aber endlich erreichte er die Tür. In seinem Kopf hämmerte noch immer dieser unaufhörliche Schmerz. Zwar hatte er an Intensität abgenommen, doch er war noch immer stark genug, dass Klaus fast die Sinne schwanden. Vorsichtig schob er den Stuhl, mit dem er den Zugang zum Dachboden versperrt hatte, beiseite. Langsam öffnete er die Tür und tat vorsichtig den ersten Fuß auf die schmale, steile Treppe. Ihm zitterten vor Schmerz die Knie. Als er auch den zweiten Fuß auf die Stufen setzen wollte schwanden ihm endgültig die Sinne. Eine tiefe Schwärze nahm den Jungen gefangen. Klaus verlor jedweden Halt und stürzte die Treppe hinunter.

Hannes stand von seinem Platz auf und ging zum Schrank.
„Ihr müsst etwas essen“, sagte er zu André und Petra. Er nahm vier Teller heraus, doch nach einem kurzen zögern stellte er einen wieder zurück. Petra wollte gerade protestieren, aber André hielt sie zurück.
„Lass mal Petra, lass Opa erst mal zur Ruhe kommen. Hilf ihm lieber.“ Mit diesen Worten stand er auf und begann den Tisch zu decken. Auch Petra stand von ihrem Platz auf und ging den Beiden zur Hand. Schnell war der Tisch gedeckt. Die Drei setzten sich wieder. Nur zögernd griffen die Kinder zum Brot. Auch Hannes bediente sich nur langsam. Keiner hatte rechten Appetit. In den Augen der Kinder konnte Hannes die Ungeduld lesen, mit der sie auf den Fortgang der Erzählung ihres Großvaters warteten. Aber Hannes konnte nicht. Er musste erst einmal seine Gedanken sammeln. Als alle mit Mühe einen Bissen gegessen hatten, fing er an, den Tisch wieder abzuräumen. Petra sprang schnell von ihrem Stuhl auf und begann das Geschirr zur Spüle zu tragen.
„Lass mich das machen, Opa, ich mach das schon. Bleib ruhig sitzen“ Auch André stand auf und begann seiner Schwester zu helfen. Schnell spülten sie das Geschirr und stellten es zurück in den Schrank. Hannes ging zum Ofen. Sachte öffnete er die Klappe und legte ein paar Scheite Holz in das Feuer. Prasselnd nahm die Glut ihre neue Nahrung auf. Max, der Kater hob nur kurz gelangweilt seinen Kopf, legte ihn aber gleich wieder auf die Pfoten und schloss die Augen. Ein zufriedenes Schnurren drang aus seiner Ecke zu den Kindern herüber. Auch Bastie streckte seine alten Glieder der Wärme des Ofens entgegen. Hannes setzte sich in seinen Schaukelstuhl neben dem Feuer und zündete sich seine alte Pfeife an. Schon oft bewunderten die Kinder die seltsam geformte Pfeife. Hannes hatte ihnen einmal erzählt, dass diese Pfeife schon seinem Großvater gehört hatte. Der leichte Rauch des Tabaks umnebelte sein Gesicht. Als André und Petra ihre Arbeit beendet hatten, setzten sie sich zu ihrem Großvater auf die Ofenbank.
„Opa, erzähl doch bitte weiter“, drängelten die Kinder. Sie konnten ihre Ungeduld und Neugierde nicht mehr zügeln. Langsam zog Hannes noch einmal den Tabakrauch tief in seine Lungen, dann begann er wieder zu erzählen:
„Mariella führte mich im ganzen Palast umher. Ich war geblendet von der Pracht, die sich meinen Augen überall bot. Dann verließen wir das Schloss und gingen über den Hof. Nicht weit entfernt befand sich ein großer Pferdestall. Die schönsten Tiere standen dort. Noch nie vorher hatte ich solch herrliche Pferde gesehen. Schimmel, Rappen, feurige Hengste und zahme Stuten standen in einer langen Reihe von sauberen Boxen. Mariella führte mich zu einem besonders schönen Schimmel. Die Mähne des Tiers funkelte im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster des Stalles schien.
„Das ist Sternchen, mein Pferd.“ Mariella streichelte dem Tier sanft über den Kopf.
„Es ist ein schönes Tier“, sagte ich verlegen.
„Komm lass uns reiten. Ich möchte dir gerne alle meine Lieblingsplätze zeigen. Strahlend lächelte sie mich an. Schnell waren zwei Pferde gesattelt und im Galopp verließen wir die Stallungen.
Es war ein schönes Land in dem Mariella lebte. Wir ritten über weite satte grüne Wiesen, bis hin zu einem kleinen Wäldchen. In dessen Mitte auf einer Lichtung ein silberklarer kleiner See lag. An den Ufern wuchsen wunderbare und für mich unbekannte Blumen. In den herrlichsten Farben spiegelten sie sich in der klaren ruhigen Oberfläche des Wassers. Wir stiegen von den Pferden. Die Tiere gingen gleich zum See und begannen ihren Durst zu stillen. Dann zogen sie sich in eine Ecke der Lichtung zurück und labten sich am saftigen Gras.
Mariella und ich legten uns ans Ufer des Sees. Schüchtern betrachtete ich das wunderschöne Mädchen. Ihre zarten, weichen Gesichtszüge gaben ihr ein sanftes, gutmütiges Aussehen. Sie hatte ihre Augen geschlossen und genoss die warmen Strahlen der Sonne auf ihrer Haut. Ich konnte mich an ihrer Schönheit nicht satt sehen. Immer und immer wieder glitten meine Blicke über ihr ebenmäßiges Gesicht. Plötzlich öffnete sie ihre Augen. Sie sah mich an und schon wie am Abend als ich sie das erste Mal gesehen hatte, erschrak ich. Schnell wendete ich meine Blicke von ihr ab und sah zum stillen Wasser.
„Es ist schön hier.“ sagte ich: „Es erinnert mich sehr an mein zu Hause.“ Dann wurde ich wieder still.
„Was ist los mit dir?“ Fragend sah mich Mariella an.
„Ich mache mir Gedanken, wie es meinen Eltern geht. Sie werden mich vermissen.“ Traurig senkte ich meine Blicke.
„Sei nicht traurig. Es tut mir weh, dich so zu sehen. Ich weiß nicht, was da in mir ist. Ich fühle mich wohl in deiner Nähe und ich möchte dich nie wieder gehen lassen. Versprich mir, dass du mich nicht verlässt.“ Auffordern sah mich Mariella an. Nun sah ich ihr direkt in ihre schönen blauen Augen. Und ich las in ihnen wie in einem offenen Buch. Sie liebte mich genau wie ich sie. Zögernd noch nahm ich sie in den Arm und gab ihr sanft und schüchtern einen Kuss. Und genauso zögernd erwiderte sie ihn. Dann lagen wir uns in den Armen und hielten uns fest, so fest wie ich noch nie im Leben einen Menschen gehalten hatte. Und mit einmal wusste ich, dass ich Mariella nie wieder gehen lassen wollte. Auch wenn es bedeuten würde, für immer in dieser Welt gefangen zu sein. So lange ich nur bei ihr sein konnte, war mir alles andere gleich. In diesen Minuten war mein Heimweh wie weggeblasen. Vergessen war mein zu Hause, vergessen waren meine Eltern. Nur noch Mariella zählte. Nur sie existierte in meinen Gedanken. Es brauchte keine Worte mehr zwischen uns. Wir wurden eins. Ich wusste, nie wieder in meinem Leben werde ich einen anderen Menschen so lieben wie sie.
Wir blieben bis zum Sonnenuntergang auf dieser Lichtung und genossen unsere Zweisamkeit. Erst als die Sonne schon lange ihre letzten Strahlen zur Erde geschickt hatte, verließen wir diesen Ort. So oft wir konnten, begaben wir uns später wieder zu dem kleinen See, an dem wir uns unsere Liebe gestanden hatte.
So vergingen die Tage. Ich genoss das Zusammensein mit Mariella. Wir waren unzertrennlich. Jede Minute verbrachten wir zusammen. Wir konnten nicht genug von einander bekommen. Immer wieder aber keimte auch das Heimweh in mir auf. Doch jedes Mal, wenn ich in die Augen Mariellas sah, verschwanden alle meine dunklen Gedanken.
Eines Tages rief mich Landro zu sich.
„Ich habe gesehen, dass du und Mariella euch sehr nahe steht. Ich werde sie dir zur Frau geben, aber nur unter der Bedingung, dass du nie wieder darüber nachdenkst, uns zu verlassen. Du weißt, dass ich dies nicht zulassen kann. Zu viel steht für uns auf dem Spiel. Ich weiß, dass du immer wieder darüber nachdenkst, wie du mein Reich verlassen könntest. Du wirst diese Weg nie finden, dafür habe ich sorge getragen.“ Ernst sah er mich an. Mariella, die neben ihm stand strahlt mich an. Das Glück stand ihr mit großen Lettern auf die Stirn geschrieben. Ich konnte überhaupt noch nicht glauben, was ich eben gehört hatte. Sollte es tatsächlich war sein? Sollte dieses liebe Wesen nur für mich alleine sein? Alle meine Träume schienen sich in diesem Moment zu erfüllen. Mariella trat zu mir und ergriff meine Hand.
„Liebster, alles was ich je ersehnt habe bist du. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als deine Frau zu werden.“
„Ja, für mich bist du die Erfüllung all meiner Träume. Um nichts in der Welt werde ich dich verlassen.“ Mit diesen Worten nahm ich sie in meine Arme und drückte sie fest an mich. Nie im Leben wollte ich sie wieder gehen lassen. Landro trat näher zu uns.
„Es ist schön, eure Liebe zu spüren. Lasst uns morgen die Hochzeit feiern.“ Dann wandte er sich zur Tür und zu Alisa, die grade den Raum betreten hatte: „Alisa, geh und lass alles vorbereiten. Unsere Mariella wird morgen Hochzeit halten. So Kinder geht jetzt, ihr habt bestimmt noch viel zu bereden.“
Mariella und ich sahen uns an. Wir konnten unser Glück noch nicht fassen. Dann griff sie meine Hand und wir verließen den Raum. Mit schnellen Schritten gingen wir zum Pferdestall und sattelten unsere Tiere. Wir wollten alleine sein. Das ganze Schloss war, kaum das Landro die Hochzeit bekannt gegeben hatte, in helle Aufregung verfallen. Wie in einem Bienenkorb sprangen alle durcheinander. Es gab ja viel vorzubereiten. Wir wollten uns nicht von dieser Hektik und Aufregung anstecken lassen. Warum auch? Alisa und Landro würden schon alles richten. Mariella und ich wollten die letzten Stunden dieses herrlichen Tages mit uns alleine genießen. So gingen wir wie schon so oft zu unserem kleinen See auf der geheimen Lichtung mitten im Wald.
Wir sattelten die Pferde ab und gaben ihnen ihre Freiheit. Am Ufer setzten wir uns wie schon so oft auf dem saftigen grünen Gras nieder. Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß und an einem Grashalm kauend sah ich den Wolken, die hoch über uns am Himmel entlang zogen nach. Mariella streichelte mir sanft über mein Haar und summte dabei ihre kleine Melodie. Schweigend genossen wir unsere Zweisamkeit. Morgen würde ein aufregender Tag werden. Sicher fanden wir dann keinen Augenblick für uns alleine. Ich kannte ja schon die Feste in Landros Schloss. Sie dauerten immer die ganze Nacht hindurch. Mit Musik und Tanz, Lachen und Spielen war die Nacht angefüllt. Erst wenn die Sonne schon ihre morgendlichen Strahlen ausstreckte, kehrte Ruhe in dem Palast ein. Oft gab es hier etwas zu feiern. Und jedes Fest übertraf das vorherige noch an Pracht und Vergnügen. Alle Leute, die in Landros Reich lebten sollten zu unserer Hochzeit geladen werden.
Plötzlich überkam mich eine tiefe Traurigkeit. Die Wolken über mir nahmen neue Formen an. Langsam bildeten sich aus ihnen Gesichter. Wie erschrak ich, als ich sie erkannte. Es waren die Gesichter meiner Eltern. Ich sah sie ganz deutlich, fast glaubte ich sie rufen zu hören. Mit einmal begriff ich, dass sie nicht an meinem Glück teilhaben konnten. Sie hatten ja noch nicht einmal eine Ahnung, wo ich war. Sicher machte sich Mutter schon die größten Sorgen. War ich doch ihr einzigstes Kind. Aber was sollte ich tun. Mir war der Weg nach Hause versperrt und um keinen Preis der Welt wollte ich Mariella wieder verlieren. Ich konnte nicht von ihr verlangen ihren Vater und ihre Heimat für mich zu verlassen. Hier war sie glücklich. Was konnte ich ihr schon in meiner Welt bieten. Ich war nicht reich und lebte nur in dieser alten kleinen Hütte mit meinen Eltern. Ich konnte nicht von ihr verlangen, dies alles aufzugeben. Doch von all diesen Gedanken spürte Marielle nichts.
Langsam brach die Nacht über uns herein. Gerade wollten wir auf die Pferde steigen, da, plötzlich, verdunkelte sich das Wasser des Sees und ein wildes Dröhnen begann. Die Oberfläche schlug mit einmal wilde Wellen. Ein starker Wind fuhr uns durch die Haare. Dann ertönte ein wilder Donnerschlag. Blitze zuckten durch die Luft. Ängstlich schmiegte sich Mariella fest an mich. Ich umschlang sie schützend mit meinen Armen und zog meine Jacke wärmend über ihr Kleid. Sie zitterte vor Kälte und Furcht. Doch schon nach wenigen Augenblicken wurde es wieder Still und das Wasser lag wieder ruhig und friedlich vor uns. Auf der Lichtung stand wie aus dem Nichts gekommen, ein großer kräftiger Mann. Er war in einen prächtigen langen Umhang gehüllt und lange dunkle Haare lagen auf seinen Schultern. Der Umhang war bunt bestickt und mit vielen glitzernden Steinen verziert. Düster sah er mich an. Dann wanderte sein Blick zu Mariella hin.
„Du bist mir versprochen. Lange genug habe ich deinem Treiben mit diesem Fremden zugesehen. Ich werde es nicht zulassen, dass du diesen da zu deinem Manne nimmst. Viele Jahre warte ich schon auf den Tag unserer Hochzeit. Du weist, dass dein Vater dich mir schon bei deiner Geburt zur Frau bestimmt hatte. Nein, ich werde eure Verbindung zu verhindern wissen. Tod soll der Lohn für diesen Verrat sein. Ich werde dich und deinen Vater vernichten. Keinen von euch werde ich verschonen. Meine Rache wird bitter sein, wenn du ihm dein Jawort gibst.“ Ein mächtiger Donnerschlag ertönte und der Mann verschwand.
Mariella zitterte am ganzen Leib. Ich sah die große Angst, die in ihrem Antlitz lag. Fragend sah ich sie an: „Wer war der Mann? Was hatte das alles zu bedeuten?“
„Wir müssen weg von hier, wir müssen fliehen. Wenn du mich nicht verlieren willst, führe mich weg von hier. Bringe mich in deine Welt, dort kann Kardan uns nichts mehr anhaben, denn dort hat er keine Macht über uns. Wenn ich nicht mehr da bin, wird er auch meinem Volk nichts tun, da bin ich mir sicher.“ Tränen rannen ihr über die Wangen. „Ich will dich nicht verlieren, aber wenn ich bleibe muss ich ihn zum Manne nehmen. Auch Vater hat nicht so viel Macht, ihn an seiner Rache zu hintern. Kardan ist ein mächtiger Zauberer. Mein Vater musste mich ihm damals versprechen, sonst hätte er schon vor vielen Jahren unser Reich ins Unglück gestürzt. Bitte lass uns von hier fliehen. Ich will ihm nicht gehören. Ich liebe dich und ohne dich will ich nicht mehr sein.“ Zitternd schmiegte sie sich noch fester an mich. Nur langsam wurde mir die Bedeutung ihrer Worte klar. Sie wollte mit mir gehen, zurück in meine Heimat.
„Aber... aber – wie sollen wir von hier fort gehen? Dein Vater hat doch gesagt, dass kein Weg in meine Welt führt.“
„Doch, einen Weg gibt es. Ich kann ihn dir zeigen.“
„Du kennst den Weg? Aber warum hast du mir nie etwas davon erzählt? Du wusstest doch, wie sehr mir meine Eltern, mein zu Hause fehlen?“
„Ich wollte dich nicht verlieren, ich hatte Angst, dass du gehst und ich hier ohne dich zurück bleiben muss. Außerdem musste ich doch mein Land und mein Volk schützen. Du hast doch gehört, was Vater erzählt hatte. Er hat Angst, dass unsere Welt zerstört wird. Wie es damals war hat er dir zwar nicht geschildert. Hass, Neid und Zwietracht säte dein Volk in die Herzen der Menschen. Gefühle und Gedanken, die uns fremd sind, die uns zerstören können. Er konnte dir nicht vertrauen. Seinen Glauben an euer gutes Herz hat er damals fast mit dem Untergang von Fairyana bezahlt. Ich liebe dich über alles, aber die Sicherheit meines Volkes kann und darf ich nicht aufs Spiel setzen. Bitte verzeih mir. Ich konnte dir doch nicht den Weg in deine Welt weisen. Gerade weil ich deine Sehnsucht nach deinem früheren Leben kannte, durfte ich es nicht tun.“ Mit Tränen in den Augen sah sie mich an. Sanft fasste ich ihr Gesicht mit meinen Händen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ich verstehe dich. Wenn ich etwas von dieser Möglichkeit geahnt hätte, so hätte ich wohl keinen Augenblick gezögert und nach dem Weg gesucht. Aber um keinen Preis der Welt hätte ich dich hier zurückgelassen. Es ist schön hier bei euch. Aber ich brauche mehr zum Leben. Mir fehlen meine Familie, meine Arbeit. Den ganzen Tag nur Freizeit, ist nichts für mich. Ich brauche doch eine sinnvolle Aufgabe. Aber ohne dich will ich nicht sein, deshalb hatte ich mich schon damit abgefunden hier zu bleiben.“
Ein scheues Lächeln huschte über Mariellas Gesicht. Dann machte sich wieder der Sorgenvolle Ausdruck auf ihrem Antlitz breit.
„Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen zurück ins Schloss, bevor man uns sucht. Bitte erzähle niemanden von dem, was sich hier zugetragen hat. Ich weiß, mein Vater würde Kardan bekämpfen, aber zu viele Opfer könnte dies kosten. Das möchte ich nicht. Lieber verlasse ich meine Heimat auf ewig. Kardan wird mein Volk in Frieden lassen, wenn ich nicht mehr da bin.“
Noch einmal sah ich ihr tief in die Augen. Ich konnte ihre Angst sehen. Fest drückte ich sie wieder an mich, dann fingen wir die Pferde, die durch Kardans Auftritt erschrocken in den Wald gelaufen waren, und ritten zurück zum Palast. Dort waren alle noch in heller Aufregung. Ein geschäftiges Treiben erfüllte jeden Saal und jeden Raum. Ein wenig traurig sah ich dem bunten Betrieb zu. Sollte doch morgen meine Hochzeit stattfinden. Mariella gab mir zu verstehen, dass wir uns auf den Weg in meine Welt machen würden, sobald Ruhe in den Palast eingekehrt sei.
Ungeduldig wartete ich auf die Nacht. Schon beim Essen bekam ich vor Aufregung kaum einen Bissen herunter. Ich hatte Angst, dass ich mich durch meine Nervosität verraten würde. Die Stunden, bis endlich auch die Letzten zu Bett gingen, kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Immer wieder lief ich durch die Hallen des Schlosses. Ich fühlte mich wie ein Tier, dem man die Freiheit genommen hatte und das man nun wieder in seine Umgebung lassen wollte. Erwartungsvoll beobachte ich die Vorbereitungen. In Gedanken fand ich es schade, dass all die Mühen und Arbeiten vergebens sein sollten. Wie festlich doch der große Saal aussah. Wie lecker es aus der Küche roch. Im ganzen Schloss hatte sich der Duft von frisch gebackenem Gebäck ausgebreitet. Alle sprangen in emsiger Hast durcheinander. Die Vorbereitungen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Als Mitternacht schon lange vorüber war, wurde dann endlich auch das letzte Licht gelöscht und eine tiefe Ruhe breitete sich in allen Zimmern aus.
Mariella und ich warteten noch einige Zeit um sicherzugehen, dass wir auch von niemandem entdeckt würden. Dann machten wir uns auf den Weg in die Kellergewölbe des Schlosses. Im Vergleich zu dem übrigen Teil des Palastes war es hier dunkel und stickig. Ich zündete eine Fackel an. Hier gab es nicht wie im restlichen Teil des Schlosses dieses magische Licht, dass wie durch Zauberhand den Raum erhellte, sobald man ihn betrat.
Eine steile Treppe führte uns weit in die Tiefe. Feuchte, kühle Luft drang in meine Lungen. Ein muffiger, alter Geruch erfüllte den Gang, der sich der Treppe anschloss. Dann kamen wir in ein großes Gewölbe. Alles erweckte in mir den Anschein, dass schon lange Jahre niemand mehr die Gewölbe betreten hatte. Dicke staubige Spinnweben hingen von der Decke. Ab und an raschelte es in den Ecken und ein kleiner Schatten versteckte sich, von dem Schein der Fackel aufgeschreckt, in einer anderen dunklen Ecke. Mariella schmiegte sich ängstlich an mich. Bei jedem Geräusch zuckte sie nervös zusammen. Langsam führte sie mich durch viele weitere Keller. Ich hatte das Gefühl schon Stunden hier unterwegs zu sein. Die Welt hier unter dem Schloss schien schier endlos zu sein. Wenn wir einen Raum durchquert hatten, lag auch schon der nächste noch größere vor uns und mit jedem Bereich, den wir betraten, wurde die Luft um uns herum kälter und stickiger.
Hatten am Anfang unseres Weges noch vereinzelt Fässer und Truhen in den Gewölben gestanden, so waren die Räume jetzt leer. Die Spinnweben wurden mit jedem Mal größer. Sie hingen fast wie schwere Vorhänge an den Wänden herunter. Immer wieder stellte ich mir in Gedanken die Frage, wozu diese weiten unterirdischen Gewölbe wohl einmal gedient hatten.
Das karge Licht der Fackel konnte die großen Hallen nur spärlich erhellen, es wurde beinahe von der schwarzen Dunkelheit verschluckt. Langsam machte ich mir Gedanken, ob die Fackel noch reichen würde, bis wir unser Ziel erreichten. Schon spürte ich die Hitze der Flammen, die sich immer näher an meine Hand heran fraßen.
Oben musste schon die Sonne ihre ersten Strahlen ins Land hinaus schicken. Bald würde unser Verschwinden entdeckt werden und für Landro war es wohl nur ein kurzes Überlegen, bis er wusste, wo er uns suchen musste. Immer wieder drängte ich Mariella schneller zu gehen. Ich hatte Angst, dass unsere Flucht zu früh entdeckt werden könnte. Jetzt wo wir schon so weit waren, wollte ich nicht mehr zurück. Vor dem Zorn Landros fürchtete ich mich. Was würde er mit uns machen, wenn er uns einholte? Immer wieder drehte ich mich um und lauschte in die Dunkelheit. Aber außer einem vereinzelten Rascheln war nichts zu vernehmen.
Wir gingen immer weiter. Eine unheimliche Stille umfasste uns. Furcht machte sich in mir breit. Diese unterirdische Welt war unheimlich. Auch machte ich mir Sorgen, wie lange es noch dauern würde, bis wir von Landro und seinen Männern verfolgt würden. Was, wenn wir es nicht schafften? Würde Kardan uns dann trennen, unser Glück zerstören? Konnte sich Mariella in meiner Welt zurechtfinden, konnte sie dieses einfache Leben, dass wir führten ertragen? Würde es vielleicht unsere Liebe zerstören, wenn sie nicht mehr den Luxus, den sie immer gewohnt war hatte?
Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein unheimliches Kreischen kam schnell auf uns zu. Erschrocken blieben wir stehen. War das etwa schon Landro mit seinen Männern? Hatten sie unsere Flucht schon bemerkt? Immer wieder versuchten wir in dem Dunkel etwas zu erkennen. Doch es war einfach nichts zu sehen. Marielle und ich wechselten einen ängstlichen Blick, dann fassten wir uns an den Händen und begannen zu laufen. Immer schneller und schneller wurden unsere Schritte. Doch das Kreischen kam immer näher. Wir hatten einfach keine Chance. Und dann war es da. Nicht wie wir erwartet hatten Landros Männer, nein, ein riesiger Schwarm Fledermäuse stürzten sich auf uns. Sie umringten uns. Wild mit den Flügeln schlagend stürzten sie sich wütend auf uns und gruben ihre scharfen Krallen in unsere Haare und die Kleidung. Blut floss mir über das Gesicht. Wir waren in ihr Reich eingedrungen und sie versuchten uns zu vertreiben. Ihre dunkle Ruhe hatten wir gestört.
Mariella schrie vor Angst. Wild schlug sie mit ihren Händen nach den Tieren, aber dies machte sie nur noch wütender. Schützend legte ich meine Arme um sie, versuchte die Tiere mit der Fackel zu vertreiben. Dann rannten wir wie von sinnen weiter nach vorn, um dem Angriff zu entfliehen. Die Tiere verfolgten uns. Wieder und wieder stießen sie auf unsere Köpfe nieder. Doch endlich, als wir den nächsten Raum erreichten, gaben sie ihre Verfolgung auf. Noch lange hörten wir ihr wütendes Kreischen hinter uns.
Eine ganze Weile liefen wir mit schnellen Schritten weiter. Erst als das Geräusch der Fledermäuse langsam immer stiller wurde, stoppten wir, um eine Weile zu verschnaufen. Doch schon nach wenigen Atemzügen drängte ich Mariella weiter zu gehen. Ich hatte Angst, dass das wilde Kreischen der Tiere die Aufmerksamkeit von möglichen Verfolgern auf sich gezogen haben könnte.
Mit raschen Schritten versuchten wir die Zeit, die wir durch den Angriff der Fledermäuse eingebüßt hatten wieder einzuholen. Doch schon nach wenigen Minuten wurde Mariella langsamer. Mir schien, als wenn sie den Weg nicht mehr fand. Schon vor einiger Zeit hatten wir die Reihe der weiten Hallen verlassen und gingen nun durch ein Labyrinth aus engen, teils auch sehr niedrigen Gängen. Der Boden unter unseren Füßen wurde von dem an einigen Stellen hervor sickernden Grundwasser moosig und glatt. Immer wieder verloren wir fast den Halt auf dem rutschigen Boden. Nur mit Mühe konnten wir dem einen oder anderen Sturz entgehen. Den Palast mussten wir schon seit Stunden hinter uns gelassen haben. Die zweite Fackel, die ich in einer der Hallen entdeckt hatte, wurde von den Flammen unaufhörlich aufgefressen. Wieder und wieder fragte ich Mariella, wie lange wir noch in diesen Gängen umherirren mussten, um unser Ziel zu erreichen. Aber sie sagte nur, dass wir noch ein Stück Weg vor uns hätten.
Die Glieder wurden uns von dem langen Marsch schwer. Als wir wieder in eine größere Halle eintraten, machte ich Mariella den Vorschlag eine Rast einzulegen. Müde ließen wir uns auf einigen Steinblöcken, die an einer Wand lagen, nieder. Wir sprachen nicht miteinander. Viel zu müde waren wir. Mariella legte ihren Kopf an meine Schulter und schloss müde die Augen. Schnell verriet mir ihr gleichmäßiger Atem, dass sie fest eingeschlafen war. Sanft streichelte ich ihr über das weiche seidige Haar. Ich lehnte mich an die kalte feuchte Wand zurück. Der grob behauene Sandstein drückte sich unangenehm durch meine dünnen Kleider. Ich fröstelte. In meinen Gedanken legte ich mir schon die Worte zurecht, mit denen ich meinen Eltern mein Verbleib in den letzten Wochen erklären wollte. Ich freute mich sehr auf das Wiedersehen, auf den Augenblick, in dem ich meine Mutter und meinen Vater wieder in die Arme schließen konnte.
Plötzlich vernahm ich ein fernes Geräusch. Schnell weckte ich Mariella und sprang von meinem Sitz auf. Schritte näherten sich uns langsam aber stetig. Man hatte also unsere Flucht entdeckt. Jetzt mussten wir uns beeilen. Landro würde keine Gnade wallten lassen. In seinen Augen waren wir im Begriff sein Reich zu gefährden. Nicht einmal Mariella würde sein Herz erweichen können. Auch sie hatte keine Milde zu erwarten.
„Ist es noch weit bis zu unserem Ziel“, fragte ich Mariella leise flüsternd.
„Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir das Tor zu deiner Welt erreichen. Nur noch eine Stunde müssen wir durch diese unterirdische Welt gehen, bis wir Fairyana verlassen. Aber ich fürchte, wir werden es nicht schaffen. Ich habe Angst. Was sollen wir nur tun? Ich will Kardan nicht heiraten. Ich leibe doch dich. Wenn wir es nicht schaffen, das Tor rechtzeitig zu erreichen, wird mich Kardan mit in sein Land nehmen und wir werden uns nie wieder sehen.“ Tränen rannen ihr über die Wangen. Sanft wischte ich sie mit meinen Fingern weg.
„Mach dir keine Sorgen. Noch haben sie uns nicht. Wir schaffen es. Ich werde nicht zulassen, dass uns jemand trennt. Komm, lass uns schnell weiter gehen. Wir schaffen es schon.“ Ich versuchte so gut es ging, Mariella wieder Mut zu machen. Schnell setzten wir unseren Weg fort.
Immer wieder drehte ich mich um, um nach unseren Verfolgern zu sehen. Der Schein ihrer Fackeln kam ständig näher. Bald würden sie uns eingeholt haben. Wir begannen unsere Schritte zu beschleunigen, bis wir schließlich rannten. Immer wieder stolperten wir über lose Steine, mit denen der Boden zu unseren Füßen bedeckt war. Schmerzhaft stürzte ich hin. Mariella konnte sich nur mit Mühe noch auf den Beinen halten.
Die Schritte unserer Verfolger wurden immer lauter und lauter. Nur noch ein paar Augenblicke und sie würden uns erreichen. Wir liefen nun so schnell wir konnten. Schon lange hatte ich die Fackel aus den Händen verloren. Aber es war auch so hell genug, damit wir nicht den Weg verloren. Ein graues Dämmerlicht herrschte in der Höhle, die wir schon vor ein paar Minuten betreten hatten. Die drückende feuchte Luft machte uns das atmen schwere. Es war hier viel wärmer, als in den Gewölben, die wir schon weit hinter uns gelassen hatten. Die Kleider klebten vom Schweiß an unseren Körpern. Bleiern zerrten meine müden Glieder mich fast zu Boden. Ich glaubte jeden Moment den Halt zu verlieren. Mariella stützend rannte ich immer weiter vorwärts. Um nichts in der Welt durften uns unsere Verfolger erreichen. Wie weit war unser Ziel wohl noch entfernt? Ich verlor schon fast den Glauben, dass unsere Flucht noch Erfolg haben würde. Schon hörten wir die Rufe der Schergen, die uns schon sehr nahe gekommen waren. Wieder und wieder riefen sie uns zu, wir sollten doch unseren Lauf stoppen. Es hätte ja doch keinen Sinn. Sie würden uns bald fassen. Aber je lauter die Rufe wurden, um so schneller wurden unsere Schritte. Wir hatten schon lange aufgehört über unsere Bewegungen nachzudenken, hatten wir die Kontrolle über unsere Beine verloren. Wie in Trance setzten wir einen Fuß vor den anderen. Automatisch stolperten wir vorwärts.
Dann endlich – vor uns erschien eine Tür. Es war eine alte einfache hölzerne Tür. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solch verkommene Tür gesehen.
„Da sind wir. Das ist der Durchgang zu deiner Welt.“ Mariella konnte nur noch flüstern. Irgendwie war ich enttäuscht. Ich hatte mir die Tür irgendwie prächtiger vorgestellt. Aber ich hatte keine Zeit mir weiter darüber Gedanken zu machen. Als ich mich noch einmal zu unseren Verfolgern umdrehte, sah ich in das schon sehr nahe Gesicht Landros. Nur noch wenige Schritte trennten uns voneinander. Wenn wir nicht schnell die Tür erreichten, würden sie uns fassen und all die Qualen wären sinnlos gewesen. Mit letzter Kraft traten wir auf die Pforte zu. Ich hatte Angst, dass das alte Holz sich in der feuchten Luft verzogen haben könnte, oder dass das Schloss von den vielen Jahren eingerostet war.
Die letzten Kräfte aufbringend erreichten wir endlich den Ausgang aus Fairyana. Gemeinsam fassten wir nach der einfachen, mit Rost übersäten Klinke und zerrten so sehr es unsere schwindenden Sinne noch erlaubten daran. Rost bröselte zwischen unseren Fingern. Was, wenn die Klinke brach, wenn wir die Tür nicht öffnen konnten? Doch das Wunder, an das ich schon nicht mehr geglaubt hatte geschah. Mit einem lauten Ächzen und Quietschen zerrten wir die Tür Zentimeter für Zentimeter auf.
„Halt nicht, tut das nicht. Ihr dürft nicht durch diese Tür gehen. Mariella, mein Kind bleibe bei mir. Verlas nicht deine Welt. Du wirst es dein Leben lang bereuen. Halt nicht...“
Dann hatten wir es geschafft. Mit einem lauten knacken zogen wir die Pforte ganz auf. Mariella und ich fassten uns an den Händen und mit letzten Kräften ließen wir uns in die Dunkelheit fallen, die sich vor uns auftat. Wir fielen in die Unendlichkeit. Zeit und Raum verlassend stürzten wir unaufhörlich in die Tiefe. Noch im Fallen hörte ich Landro hinter uns rufen:
„Mariella mein Kind warum hast du mich verlassen? Warum nur hast du mich verraten? Ich verfluche den Tag an dem dieser Fremde mein Reich betreten hat. Warum konnte ich dein Schicksal nicht aufhalten. Aber eines Tages wird einer von den Deinen den Weg in mein Reich finden, und dann wird er mir gehören, auf ewig. Du kannst nicht für immer vor uns fliehen. Mariella …“ Dann schwanden mir die Sinne.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer kleinen Wiese mitten in einem dichten Wald. Neben mir im Gras lag Mariella. Wir hatten es geschafft. Ich war wieder in meiner Welt. Vorsichtig reckte ich meine Glieder. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass wir uns nicht verletzt hatten half ich Mariella auf die Beine. Es war Abend. Die Sonne hatte schon ihre letzten Strahlen über die Wipfel der Bäume geschickt und machte sich daran ihr Nachtlager aufzusuchen. Wir mussten wohl diese Nacht im Freien verbringen. Ich ahnte nicht, wo wir uns befanden. Schnell sah ich mich auf der Lichtung um. Ein kleiner Bach teilte die Wiese. Wir setzten uns an sein Ufer. Jetzt erst merkten wir, wir erschöpft und durstig wir waren. Schnell tranken wir von dem klaren reinen Wasser, dann streckten wir uns in das weiche grüne Gras aus. Rasch nahm der Schlaf uns in seine festen Arme. Wir schliefen ruhig und ungestört die Nacht hindurch.
Als wir erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Unsere Flucht hatte die letzten Reserven von uns gefordert. Mühsam standen wir auf. Unsere Knochen schmerzten von einem anständigen Muskelkater. Beide waren wir nicht gewohnt, solange Strecken zu laufen. Aber wir hatten ja noch den Weg zu meinen Eltern vor uns. Ich wusste nicht, wie lange wir brauchen würden, um nach Hause zu gelangen. Diese Lichtung und diesen Wald kannte ich nicht. Wir konnten viele Tagesmärsche von meinem Heimatort entfernt sein. Unsere Mägen knurrten mächtig vor Hunger. Wir beschlossen uns hier nicht mehr lange aufzuhalten. Schnell stillten wir unseren Durst an dem frischen Quellwasser, dann machten wir uns auf den Weg. Da ich nicht wusste in welche Richtung wir gehen mussten, gingen wir an dem kleinen Bachlauf in Richtung Süden. Im Wald fanden wir einige Beeren, sodass wir auch unseren Hunger stillen konnten.
Wir kamen nur langsam vorwärts, da wir immer noch die Strapazen des letzten Tages spürten. Aber der Wald war nicht so groß wie ich am Anfang gedacht hatte. Schon nach einer Stunde erreichten wir seinen Rand. In der Ferne sah ich einen Kirchturm. Ein Dorf lag ganz in der Nähe. Dort waren Menschen, die wir nach dem Weg fragen konnten. Der Anblick der nahen Ortschaft gab uns neue Kräfte. Unsere Schritte wurden von mal zu mal schneller. Rasch erreichten wir die ersten Häuser und trafen auf ein paar freundliche Bauern. Ich fragte nach dem Weg. Wie sich herausstellte waren wir nicht sehr weit von meinem zu Hause. Nur eine Tagesreise trennte mich noch von dem Wiedersehn mit meinen Eltern. Ich fragte den Bauern, ob ich ihm für etwas Essen und Trinken zur Hand gehen konnte. Schnell war die Arbeit, die er mir auftrug erledigt und wir konnten unseren Hunger stillen. Die Beeren aus dem Wald hatten nicht lange angehalten.
Mariella und ich durften in der Scheune des Bauern die Nacht verbringen. Doch schon früh am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg. Die Sehnsucht nach meinen Eltern und meinem zu Hause ließ mich kaum ein Auge zu tun. Ich war gespannt, wie es ihnen in meiner Abwesenheit ergangen war. Was würden sie wohl zu Mariella, meiner wunderschönen Braut sagen? Ich war so aufgeregt.
Auf der Straße nahm uns eine Kutsche mit, so dass wir schneller als erwartet vorwärts kamen. Schon früh am Abend sah ich den Kirchturm meines Dorfes aus der Ferne. Mit jedem Augenblick der verstreich, wurde ich ungeduldiger. Kurz vor dem Dorf sprangen wir von dem Wagen. Quer über die Felder gingen wir direkt auf den Wald, an dessen Rand das Haus meines Vaters stand, zu. Langsam brach die Dunkelheit herein. Schon von fernem sah ich das Licht aus dem Haus leuchten. Mariella und ich liefen immer schneller, bis wir die letzten Meter bis zum Haus rannten. Endlich, endlich nach so langer Zeit war ich wieder zu Hause. Ich war so glücklich. Ich nahm Mariella fest in die Arme und wirbelte sie wild vor Glück herum. Dann gab ich ihr einen innigen Kuss.
Die letzten Meter gingen wir langsamer. Vorsichtig klopfte ich an die Tür. Ich war so gespannt, was meine Eltern für ein Gesicht machen würden, mich nach so langer Zeit wieder zu sehen. Wie überrascht war ich, als die Tür aufging und mein Vater sagte: „Da bist du ja endlich Junge. Wo hast du nur gesteckt. Wir haben schon den ganzen Tag auf dich gewartet. Als wir vorgestern gegen Mittag nach Hause kamen und das Haus offen und verlassen vorfanden, machten wir uns große Sorgen.“ Dann sah er sich Mariella von Kopf bis Fuß an.
Was hatte das zu bedeuten? Ich war doch so viele Wochen in Fairyana gewesen. Aber hier waren in dieser Zeit nur wenige Tage vergangen. Wie erstaunt waren meine Eltern, als wir ihnen berichteten, was wir alles erlebt hatten. Schon ein paar Tage später feierten Mariella und ich Hochzeit.“
Mit diesen Worten beendete Hannes seinen Bericht. Die Kinder sahen ihn mit großen staunenden Augen an. Sie konnten nicht glauben, was sie eben gehört hatten.
„So Kinder, es ist schon sehr spät geworden. Ihr müsst nun schlafen gehen. Heute können wir ja doch nichts mehr für Klaus tun. Auf ein paar Stunden kommt es nun nicht drauf an. Morgen werden wir uns überlegen, wie wir ihn wieder nach Hause zurückholen können. Mit ausgeschlafenen Köpfen lässt sich leichter nachdenken.“ Mit diesen Worten stand er vom Tisch auf. Mit einer knappen Geste gab er den Kindern zu verstehen ins Bett zu gehen. Ohne auch nur noch ein Wort des Widerspruchs folgten sie ihrem Großvater.
Erst spät in der Nacht nahm der Schlaf die Kinder in seine friedlichen, behütenden Arme. Lange hatten sie noch wach gelegen und über die unglaubliche Geschichte geredet, die ihnen ihr Großvater erzählt hatte. Noch immer konnten sie nicht glauben, was sie erfahren hatten. Zu fantastisch und märchenhaft war Großvaters Bericht gewesen.
Petra liefen dicke Tränen über die Wangen. Erst jetzt, da sie die Stille der Nacht umfasste, fühlte sie, wie sehr ihr Klaus doch fehlte. André versuchte sie zu trösten. Aber wie konnte er seine Schwester beruhigen. Machte er sich doch auch große Sorgen um seinen Bruder. Ging es ihm Gut, war er gesund? Was, wenn sie es nicht schafften, ihn wieder aus dieser fremden Welt nach Hause zurückholen konnten? Wie sollte er es ihren Eltern erklären? Sie hatten ihm doch die Verantwortung für seine Geschwister übergeben. André fühlte sich schlecht. Um sich etwas zu trösten legte er seinen Arm um seine kleine Schwester. Es war gut, ihre Nähe zu spüren, es gab ihm Trost. Irgendwann nahm auch ihn der Schlaf in seine feste Umarmung...

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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2009

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