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„Mein liebes Tagebuch, seit langem fange ich wieder an in dich hineinzuschreiben. Deine Seiten sind schon vergilbt von den vielen Jahren, in denen du gut verpackt in einem meiner nie leer geräumten Unzugskartons gelegen hast. Damals, als ich zu Peter in die Wohnung gezogen bin. Na ja, es war eine glückliche Zeit. Ich schwebte auf Wolke sieben und dachte, dass mich nichts wieder aus meinem kleinen Paradies vertreiben konnte. Ich war einfach nur glücklich.
Zehn Jahre liegen zwischen diesem Tag und heute. Heute, wo ich wieder einsam in meinem kleinen Zimmer sitze und nichts mehr übrig ist von den glücklichen Tagen außer diesem unheimlichen Schmerz, dieser alles verschlingenden Leere in meiner Seele. In einem tiefen Loch bin ich gefangen und weiß nicht, wie ich wieder ans Licht kommen soll. Peter hat mich verlassen. Oder habe ich ihn verlassen? Ich kann es nicht sagen. Auch den Tag weiß ich nicht mehr, an dem das Ende begann. Ich weiß nur, dass ich jetzt wieder einsam in einer für mich noch fremden Wohnung sitze und nicht weiß, was werden soll. Ich dachte, die Stadt zu verlassen, die gemeinsamen Freunde hinter mir zu lassen, würde mich vergessen lassen können. Doch das war ein Irrtum. Nichts ist davon eingetreten. Nein, im Gegenteil. Ich fühle mich einsamer als jemals zuvor in meinem Leben.
Wenn ich die Kisten sehe, die rings um mich in dem kleinen Appartement verteilt sind und darauf warten, dass ich sie öffne, zieht sich mir mein Herz weiter zusammen. Es tut so weh. Ich weiß ja, dass in jeder dieser Kisten ein kleines Stück meiner Vergangenheit verborgen ist. Ich kann mich nicht dazu durchringen auch nur den Deckel einer dieser Kisten zu öffnen. Erinnerungen – nein, ich kann mich ihnen nicht stellen. Ich will es nicht. Alles was ich will ist Frieden, Ruhe in meiner Seele. Die Stimmen der Vergangenheit sollen schweigen. Ich will sie nicht mehr hören. Lasst mich doch endlich in Ruhe.“

Tränen liefen über Sabines Wangen und tropften auf das Buch, in das sie gerade schrieb. Gierig sog das alte Papier die Tropfen auf und begann langsam die feinen Linien der Schrift verschwimmen zu lassen. Oder waren es die Tränen, die immer wieder Sabines Blick verschleierten, die ihr vorgaukelten, dass die Buchstaben sich aufzulösen scheinen? Müde lies Sabine den Stift sinken. Langsam entglitt das Buch ihren Händen und fiel auf den kalten leeren Boden. Sie hatte noch nicht einmal den Läufer ausgebreitet, nach dem sie eigentlich die alte Kiste durchsucht hatte. Als sie ihr Tagebuch fand, hatte sie sich einfach auf den kalten Boden gesetzt und immer wieder ihre letzte Eintragung gelesen:

„Ich bin so glücklich, heute endlich haben wir unsere erste gemeinsame Wohnung gefunden. Schon morgen packe ich meine Sachen und ziehe mit Peter zusammen. Ich bin so glücklich.“

Ein Hohn schienen ihr die letzten Worte. Sie lachte immer wieder und mit jedem lachen erstarb ihre Seele ein kleines Stück, zogen sich die dunklen Wolken, die schon seit Tagen über ihr kreisten weiter zusammen und nahmen ihr immer mehr von der Hoffnung, die sie in den neuen Anfang gesetzt hatte. Mit zitternder Hand hatte sie begonnen eine neue Seite in dem Buch zu beginnen, so wie sie auch eine neue Seite in ihrem Leben begann. Sie hatte keine Ahnung von dem, was vor ihr lag. Die neue Stadt, der neue Job, was würde ihr dass alles bringen? Würde sie jemals vergessen können, was sie zurück gelassen hatte? Den Schmerz, die Demütigung, die Peters Betrug mit sich gebracht hatte?
Dunkle Gedanken begannen in ihrem Kopf aufzukommen. Die dunklen Gedanken, die sie immer wieder gefangen nahmen, wenn in ihrem Leben etwas schief lief, sie nicht die Kontrolle über das Geschehen um sie herum hatte. Immer schneller begannen sich Bilder um sie zu drehen und schließlich war ihr, als wenn das Zimmer, die Wände ja, die ganze Wellt sich um sie zu drehen begann. Immer schneller und schneller und langsam fühlte sie sich in einem alles verschlingendem Strudel gefangen, der sie immer weiter in die Tiefen ihres Seins zog. Sie konnte sich nicht mehr regen. Die Glieder wurden ihr schwer und selbst das Atmen verlangte große Kraftanstrengungen von ihr. Warum? Warum? Nur dieses eine Wort kreiste in ihren Gedanken. Es verschlang alles, was sie denken und tun konnte. Nur dieses eine Wort warum, das war alles, was in ihr war und diese große Leere.
Tränen rannen über ihre Wangen. Sie konnte sich ihrer nicht erwehren. Aber kein Schluchzen drang aus ihr heraus. Sie fühlte sich einfach nur leer und verzweifelt, unfähig sich zu bewegen. Nur ein kleiner Gedanke, ein neuer Drang regte sich in ihrer Seele. Was wenn sie jetzt einfach Schluss machte? Sie musste doch nur die Tabletten schlucken, die sie neben ihrem Tagebuch in der Kiste gefunden hatte. Wen sollte es stören? Wer würde sie vermissen? Es war nur eine kleine Handlung, eine einfache Tat und sie würde diesen furchtbaren Schmerz nicht mehr ertragen müssen. Sie würde frei sein und niemand könnte ihr mehr wehtun. Sie hätte endlich die Ruhe, nach der sie sich immer gesehnt hatte. Warum sollte sie es nicht tun?
Langsam glitt ihre Hand zum Boden und sie griff nach der kleinen Schachtel, die sie vorhin achtlos hatte fallen lassen. Jetzt war sie alles, wonach sie sich noch sehnte. Zitternd hob sie das Schächtelchen auf. Es fühlte sich kalt an und doch versprach es ihr die Lösung all ihrer Probleme. Ihr wurde irgendwie leicht zu mute. Langsam stand Sabine vom Boden auf. Ihre Beine waren eingeschlafen und schmerzten fürchterlich, doch dies nahm sie nur beiläufig wahr. Sie schüttelte ihre Beine und begann langsam und sehr wacklig nach nebenan in die kleine Küche zu gehen. Sie schwankte. Ihr war irgendwie schwindlig. Aber nichts konnte sie aufhalten. Für sie gab es nur noch ein Ziel.
Der Weg schien ihr endlos, so, als wenn die Wohnung ein Palast wäre und sie viele Meter gehen musste. Doch dann erreichte sie die Tür zur Küche. Mit zitternder Hand griff sie zu der Klinge und drückte sie herunter. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf einige Kisten preis, die auf den Einbauschränken verteilt standen. Langsam ging sie zur Spüle. Dort stand noch immer das Glas, dass sie sich vorhin mit Wasser gefüllt hatte. Vorhin, als ihr plötzlich in den Sinn kam, eins Wohnzimmer zu gehen und in den alten Kisten herumzustöbern.
Mit zitternden Händen begann sie die Schachtel mit den Tabletten zu öffnen. Immer wieder entglitt sie ihren Händen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die Tablettenstreifen auf die Arbeitsplatte neben der Spüle liegen hatte. Langsam griff sie nach dem ersten Streifen. Sie hatte Mühe die Tabletten durch die silbern glänzende Folie zu drücken. Doch schließlich lag ein kleines Häufchen weißer runder Tabletten vor ihr und nur noch 30 kleine Schlucke trennten sie von der Ruhe, nach der sie sich so sehr sehnte. 30 kleine runde Tabletten, die ihr alles versprachen und von denen sie wusste, dass sie sie nicht enttäuschen würde. Nichts nahm sie mehr von ihrer Umgebung wahr. Alles was sie sah, war das kleine Häufchen, das vor ihr lag und das Glas Wasser.
Langsam griff sie nach der ersten Tablette. Mit zitternden Fingern legte Sabine sie auf ihre Zunge. Dann nahm sie einen Schluck von dem Wasser und schloss ihre Augen. Noch einen Moment zögerte sie, dann schluckte sie alles hinunter. Sabine öffnete die Augen. Schnell nahm sie die nächsten 5 Tabletten in den Mund. Nur nicht zögern jetzt. Nur keinen Rückzieher machen. Und wieder und wieder nahm sie einige Tabletten in den Mund und spülte sie mit einigen Schlucken Wasser hinunter. Sie begann etwas zu würgen. Ein bitterer, trockener, einfach widerlicher Geschmack breitete sich hinter ihren Lippen aus. Sabine musste husten. Schnell trank sich das Glas Wasser aus und griff zum Hahn um es wieder zu füllen. Sie zögerte etwas. Was zum Teufel tat sie da? Doch schnell schüttelte sie diesen leichten Anflug von Zweifel, ob sie das richtige tat, wieder von sich. Entschlossen füllte sie das Glas und nahm die letzten Tabletten, die noch vor ihr lagen. Wieder zitterte ihre Hand. War das schon die Wirkung des Medikamentes? Ihr Herz begann schneller zu schlagen, doch sie zwang sich zur Ruhe. Dann führte sie entschlossen ihre Hand zum Mund und ließ die letzten Tabletten hinter den Lippen verschwinden und trank das Glas mit einem schnellen Zug aus.
Ein leichter Brechreiz schüttelte sie. Sabine schloss die Augen. Immer noch drehte sich alles in ihrem Kopf. Sie musste sich mit beiden Händen an der Arbeitsplatte des Küchenschrankes festhalten. Sie zitterte und kalter Schweiß stieg ihr auf die Stirne. Sabine fröstelte. Sie ließ ihren Kopf schwer auf die Brust fallen. Nur einen Moment blieb sie so stehen. Dann beschloss sie ins Wohnzimmer zurück zu gehen. Sie hatte nur noch einen Wunsch. Sabine wollte sich einfach nur noch legen. Auf die Kissen, die sie am vergangenen Abend in die Zimmerecke gelegt hatte.
Vorsichtig verließ sie die Küche. Dabei musste sie sich an den Möbeln und dann an der Wand halten. Ihre Beine zitterten und irgendwie hatte sie das Gefühl jeden Moment die Kontrolle über sich zu verlieren. Mittlerweile lief ihr der kalte Schweiß am ganzen Körper hinunter. Immer wieder musste sie stehen bleiben und die Augen schließen. Alles drehte sich um sie herum und es wurde immer schneller. Fast fühlte sie sich wie in einer großen Schleuder, der sie nicht entrinnen konnte. Nur noch wenige Schritte und sie würde ihre Kissen erreichen. Dann konnte sie sich hinlegen und nur noch schlafen und musste nie wieder die Augen öffnen, hätte endlich die Ruhe, nach der sie sich die letzten Wochen so sehr gesehnt hatte.
Doch dann geschah etwas, was sie wieder etwas in die Realität zurückholte. Da war ein Klopfen. Erst ganz leise, so als wenn es aus einer anderen Welt zu ihr drang, einer Welt die sie schon weit hinter sich gelassen glaubte. Sabine war es gleich. Sie wollte nicht mehr zurück in die Realität, in der es für sie nur Schmerzen und Leere gab. Da lag etwas so schönes Verheißungsvolles vor ihr. Nur noch wenige Augenblicke trennten sie von ihrer Seeligkeit und um nichts in der Welt wollte sie wieder in dieses Leben gerissen werden. Müde legte sie sich auf ihre Kissen und schloss die Augen.
Da war es wieder. Wieder drang durch ihren Schleier, der sie in ihren Frieden holen wollte ein Klopfen. Dieses Mal war es laute und intensiver. Einfach nur aufdringlich. Sabine begann sich über dieses Geräusch zu ärgern, soweit sie zu diesem Gefühl noch fähig war. Eine wohltuende Gleichgültigkeit hatte sich in ihr breit gemacht. Nur ganz beiläufig registrierte sie, dass das störende Klopfen von der Tür her zu ihr drang. Sollte sie wirklich von ihrem bequemen Lager aufstehen und die Tür öffnen? Für wen den? Wer konnte da schon etwas von ihr wollen? Niemand aus ihrer Vergangenheit hatte eine Ahnung, wo sie war. Von keinem hatte sie sich verabschiedet. Sie hatte einfach ihre Sachen gepackt und war in die neue Stadt gefahren. Einfach so. Na ja, der Einzigste der wusste, wo sie jetzt war, war ihr Chef. Er hatte ihr ja diese Wohnung und den neuen Job vermittelt. Er achtete Sabine für ihre Leistungen an der Arbeit. Aber reichte das aus um glücklich zu sein?
Wieder durchdrang das Klopfen ihre Gedanken und erreichte ihr immer schwäche werdendes Bewusstsein. Wie in Trance begann sie schließlich sich von den weichen warmen Kissen zu erheben. Wie von einer fremden Kraft gelenkt ging sie langsam, Schritt für Schritt zur Tür. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligte, aber plötzlich stand sie vor der Tür und ganz gegen ihren eigenen Willen griff sie nach der Klinke und drückte sie hinunter. Die Tür sprang auf und gab den Blick auf einen jungen Mann frei. Mehr sah Sabine nicht mehr. Sie sank in sich zusammen und eine wohltuende Dunkelheit nahm sie in ihren Schoß auf.

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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2009

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