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Stille lag im Haus. Nichts regte sich und schon seit Stunden war das letzte Licht gelöscht. Dunkelheit breitet sich in jedem Zimmer aus. Nur der Mond malte schaurige Geister an die Wände. Zwar wusste Tom, dass es nur die Schatten der Äste des alten Kastanienbaumes waren, der vor seinem Fenster stand. Wie oft war er schon auf ihm umhergeklettert, und wie oft hatte seine Mutter es ihm verboten. Sie sorgte sich eben um ihn. Er könnte sich ja verletzen. Aber wie alle Jungen in seinem Alter dachte er nicht daran auf die Worte seiner Mutter zu hören. Es machte ihm einfach Spaß, und er liebte diesen Baum.
Doch jetzt wo es dunkel war, und er nur seinen Schatten sah, und er nur ab und zu das knurren und ächzen der alten Äste hörte, hatte er Angst. Gespenstisch wirkten die Schatten der Blätter, die sich im sanften Spätsommer¬nachts¬wind wiegten. Oft lag er wach in seinem Bett und konnte die Blicke nicht von diesen Bildern wenden. Manchmal verkroch er sich tief unter seiner Bettdecke. Dann dachte er immer, wie schön es doch war, als er noch das Zimmer mit seinem großen Bruder teilte. Aber das war Vergangenheit. Er mochte nicht mehr daran denken, zu traurig war es für ihn.
Mike war vor sechs Monaten von zu Hause ausgezogen. Er hatte sich eine Arbeit weit weg von hier gesucht. Nicht einmal an den Wochenenden konnte Tom seinen Bruder sehen. Mike arbeitete auf einem großen Schiff und fuhr über die Meere. Ab und an bedachte er seinen kleinen Bruder mit einem Brief. Da Tom mit seinen sechs Jahren erst das Lesen und Schreiben lernte, konnte er seinem geliebten großen Bruder nicht einmal seine Sorgen schreiben.
Wie schön war es doch immer in solchen „Gespensternächten“, wie Mike sie nannte, gewesen. Sein Bruder zankte nie mit Tom, wenn er aus Angst zu ihm ins Bett gekrochen kam. Schützend und tröstend nahm er ihn dann in die Arme und erzählte ihm die tollsten Geschichten, bis er zufrieden einschlief. Über alles konnte er in solchen Nächten mit seinem großen Bruder reden. Aber jetzt, wo er dieses Zimmer für sich alleine hatte, fühlte er sich einsam und verloren. Schmerzlich vermisste er Mike. Niemand war mehr da, der ihn tröstete, wenn er Angst hatte in der Nacht.
Am Anfang war Tom manchmal zu seinen Eltern ins Schlafzimmer geschlichen, und hatte sich in ihrem großen Bett verkrochen. Aber sein Vater leitete das nicht. Böse schimpfte er Tom aus, er solle doch nicht so ein Angsthase sein. „Nimm dich zusammen, du bist doch kein Baby mehr!“ Seine Mutter nahm ihn dann zwar tröstend in den Arm, brachte ihn schließlich aber zurück in sein Zimmer.
So war es auch heute gewesen. Seine Mutter hatte ihn die letzten Tage, als sein Vater auf Geschäftsreise war, bei sich schlafen lassen. Tom fiel es deshalb umso schwerer wieder alleine hier in seinem Zimmer zu liegen. Tränen rannen ihm aus den Augen und versiegten in seinem Kissen.
Jäh wurde Tom aus seinen Gedanken gerissen. Aus dem Flur drang das Läuten des Telefons zu ihm ins Zimmer. Es war unge¬wöhnlich, dass um diese Zeit noch jemand anrief. Tom beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas musste geschehen sein. Plötzlich, aus irgendeinem unerfind¬baren Grund, hatte Tom Angst um Mike. Er hörte, wie seine Mutter aufgeregt im Haus umherlief. Sein Vater redete scheinbar beruhigend auf sie ein. Schnell stand Tom aus seinem Bett auf und ging zur Tür. Als er sie einen Spalt geöffnet hatte, hörte er Mikes Namen. Da stieß er die Tür ganz auf und rannte zu seinen Eltern. „Was ist mit Mike?“ rief er ihnen entgegen.
Seine Mutter blieb unvermittelt stehen und sah ihren Sohn erschrocken an. Dann lächelte sie und sagte:
„Nichts ist mit Mike. Ihm geht es gut. Er hat nur angerufen, um uns zu sagen, dass er nächstes Wochenende nach Hause kommt. Er möchte uns seine Frau vorstellen. So, nun ist hoffentlich deine Neugierde gestillt. Jetzt geh wieder ins Bett. Morgen wartet die Schule auf dich.“ Wieder lächelte sie ihn an.
Tom konnte es nicht glauben. Hatte er wirklich richtig verstanden was seine Mutter ihm sagte? Ihm schien, als wenn sein Herz vor Freude Purzelbäume in seiner Brust schlagen würde. Mike kam nach Hause - sein großer Bruder Mike. Er konnte ihn endlich wieder sehen. So sehr hatte er sich diesen Augenblick herbeigesehnt und nun sollte er nur noch ein paar Tage auf ihn warten müssen. Tom hätte am liebsten die ganze Welt umarmt, wenn nur seine Arme ausgereicht hätten. Endlich sollte er wieder jemanden haben, der ihn verstand. Es war zu schön um wahr zu sein.
Als Tom aus seiner freudigen Erstarrung erwachte, ging er schnell in sein Zimmer. Er legte sich in sein Bett und schloss die Augen. Vergessen schien die Angst, die er noch vor ein paar Minuten verspürte. Nichts war mehr wichtig. Nur eines zählte noch. Mike kam nach Hause. Das war alles, woran er noch denken konnte. In Gedanken zählte er immer wieder die Tage, die er noch auf ihn warten musste. Tom war so glücklich und mit diesen Gedanken schlief er selig ein.
Schon bevor sein Wecker ihn mit seinem durchdringenden Summen aus dem Schlaf reisen konnte, war Tom aus seinem Bett gesprungen und im Badezimmer verschwunden. Seine Mutter staunte sehr, als sie in sein Zimmer kam um ihn wie jeden Morgen zu wecken. Sie fand sein Bett leer, wo Tom doch normalerweise das Aufstehen bis zur letzten Minute herauszögerte. Sie hatte es immer schwer ihren kleinen Morgenmuffel aus den Federn zu bekommen. Tom war ein morgendlicher Griesgram, wie er im Buche stand. Doch heute war es anders – ab heute war alles anders für ihn. Seine Mutter war überrascht. So hatte sie ihren Tom noch nie erlebt, jedenfalls nicht, seit Mike das Haus verlassen hatte um seinen eigenen Weg zu gehen.
Zum Frühstück fragte der Junge, der sonst immer still an seinem Essen kaute, ihr wahre Löcher in den Bauch.
„Wann kommt Mike? Ist er schon unterwegs zu uns? Wird er mir etwas mitbringen? Wie lange bleibt er bei uns? ...“ So fragte und fragte Tom. Seine Mutter wusste gar nicht, auf welche seiner vielen Fragen sie zuerst antworten sollte. Ihr blieb nicht einmal genug Zeit ihren Kaffee auszutrinken. Tom war einfach aufgeregt, fröhlich und ungeduldig. Am liebsten wäre es ihm, wenn heute schon Samstag wäre.
In der Schule fiel es Tom heute besonders schwer sich auf die Worte seines Lehrers zu konzentrieren. Immer und immer wieder zählte er in Gedanken die Tage, die er noch warten musste, bis sein großer Bruder endlich wieder bei ihm sein würde. Die Ungeduld schien ihn schier zerreisen zu wollen. Wie sollte er noch fünf Tage in dieser Erwartung aushalten?
Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Jeder Tag zog sich unerträglich in die Länge. Abends, wenn er zu Bett ging, versuchte er schnell einzuschlafen. Er unterdrückte seine Angst vor der Dunkelheit. Die Schatten die der Mond in sein Zimmer malte, beachtete er kaum noch. Seine Angst war jetzt nicht mehr wichtig, ja er schien sie sogar ein wenig vergessen zu haben. Natürlich war sie noch da, aber die Vorfreude endlich wieder mit Mike zusammen zu sein, nahm ihn voll in ihren Bann. Jetzt lag er nicht wegen seiner Angst wach in seinem Bett, er hatte Mühe bei seiner großen Aufregung und Erwartung Ruhe zu finden.
So vergingen die Tage und Nächte. Jeder war angefüllt mit unerträglicher Erwartung, und endlich sollte es nur noch einen Tag dauern, bis sich sein größter Wunsch erfüllen sollte.
Tom wunderte sich sehr, als er von der Schule nach Hause kam. Seine Mutter war gerade dabei sein Zimmer aufzuräumen. Sie sagte ihm, dass er, solange Mike da sein würde, bei seinen Eltern schlafen sollte. Warum durfte er nicht so wie früher mit seinem Bruden in einem Zimmer schlafen? Mutter erklärte ihm, dass Mike doch seine Frau mitbringen würde, und dass die Beiden in der Nacht ungestört sein wollten.
Seine Frau? Tom hatte es bei all der Aufregung, in der er die letzten Tage lebte, gar nicht mitbekommen. Mike kam ja nicht alleine. Jetzt erinnerte er sich daran, dass seine Eltern so etwas erzählt hatten. Aber Tom hatte es einfach verdrängt. Für ihn war nur wichtig, dass Mike zurück nach Hause kam, er endlich seinen Bruder wieder sehen konnte. Nur das zählte für ihn.
Traurig sah er zu, wie seine Mutter frische Wäsche auf sein Bett aufzog und das Zimmer in Ordnung brachte. Er zeigt ganz offen seine Enttäuschung. Tom hatte keine Lust bei seinen Eltern zu schlafen, jetzt wo er es sollte. Viel lieber wäre er zu seinem Bruder unter die Decke gekrochen, so wie er es früher immer getan hatte – aber das durfte er nicht.
Wer mochte das sein – Mikes Frau? Er konnte sie jetzt schon nicht leiden. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht in die Nähe seines Bruders lassen. Womöglich würde er Mike noch nicht einmal für sich alleine haben. Wer war diese Frau, die ihm Mike weggenommen hatte? Er musste einfach sein Zimmer für sie räumen. Dabei hatte er sich doch so darauf gefreut endlich wieder ungestört mit seinem Bruder reden zu können, wieder jemanden zu haben, dem er seine Geheimnisse anvertrauen konnte. Mike hatte immer einen Rat für ihn, wenn er mit seinen Freunden oder in der Schule Probleme hatte. Aber jetzt glaubte er nicht, seinen Bruder überhaupt einmal für sich alleine zu haben.
Seine Mutter versuchte ihn zu trösten. Sie verstand ja seine große Endtäuschung. Tom hing wirklich sehr an seinem Bruder. Schon als er ein Baby war, merkte man, dass er sich in der Nähe von Mike besonders wohl fühlte. Zwischen den Beiden war eine ganz besondere Bindung.
Sanft streichelt sie über Toms Haar.
„Sei nicht so traurig. Warte erst einmal ab, bis dein Bruder da ist. Glaube mir, niemand wird ihn dir wegnehmen. Mike muss nun einmal seinen eigenen Weg gehen. Aber dass haben wir dir doch alles schon einmal erklärt. Glaube mir, wenn du älter bist, wirst du das alles verstehen.“ Wieder strich sie Tom über das Gesicht und drückte ihn sanft an sich. Sie wusste, dass ihre Worte nicht besonders tröstend für ihn sein konnten. Im Grunde ihres Herzen verspürte sie ja auch dieses Gefühl des Verlustes. Mikes Heirat kam ja auch für sie überraschend. Niemand in der Familie hatte mit so etwas gerechnet. Sie hatte es auch schwer getroffen, als Mike damals von zu Hause fort ging. Aber sie hatte seine Entscheidung akzeptiert. Sie wusste ja auch, dass sie ihre Kinder nicht an sich fesseln konnte, und irgendwann, wenn die Zeit gekommen war, musste sie auch Tom ziehen lassen. Jetzt blieb ihr aber nur eines zu tun, jetzt musste sie ihrem kleinen Jungen das Leben erklären.
Tom war entschlossen sich nicht von seiner Schwägerin beirren zu lassen. Mutter hatte die Frau von Mike so genannt. Er gab sich nach einigem hin und her in seinen Gefühlen wieder der Vorfreude auf seinen Bruder hin, und so verging auch dieser Tag.
Als Tom am Abend dann zu Bett ging war da wieder diese unendliche Ungeduld. Zwar wusste er, dass ihn nur noch diese eine Nacht von seinem Bruder trennte, aber für ihn war es die Ewigkeit. Lange lag er noch wach im großen Bett seiner Eltern. Von seinem Vater war nur ein gleichmäßiges und stetiges schnarchen zu hören. Seine Mutter wälzte sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Wahrscheinlich war sie genauso aufgeregt wie ihr Sohn.
Vorsichtig drehte sich Tom zu ihr. Er versuchte in der Dunkelheit, die das Zimmer ausfüllte, ihr Gesicht zu sehen.
„Du kannst wohl auch nicht schlafen.“ Liebevoll nahm sie ihren Jungen in den Arm. „Ich verstehe dich schon mein Kind. Mir geht es ja genauso wie dir. Auch mir hat Mike gefehlt. Es sind ja jetzt nur noch ein paar Stunden, bis wir ihn wieder zu Hause haben. Versuch jetzt zu schlafen. Morgen wird es doch ein aufregender Tag für uns alle. Schlaf jetzt.“ Sie drückte ihn noch einmal fest an sich, dann drehte sie sich zur anderen Seite.
Tom blieb wieder mit seinen Gedanken alleine. So sehr er sich auch mühte, er fand keine Ruhe. Sein Herz schlug so sehr vor Aufregung, dass er jeden Schlag hören konnte. Da war diese unglaubliche Ungeduld mit der er doch auf den neuen Morgen wartete. Alle seine Gedanken drehten sich nur um Mike. Diese unendliche Vorfreude. Für Tom war es wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. Immer wieder sah er nach den leuchtenden Ziffern von Vaters Radiouhr. Es schien ihm, als wenn die Zeit eingeschlafen wäre. Nur er konnte keinen Schlaf finden.
Noch lange lag er wach, doch irgendwann musste ihn der Schlaf doch eingeholt haben, denn als er wieder die Augen öffnete, war schon heller Tag. Die Sonne kitzelte ihn an der Nase. Schnell sprang er aus dem Bett. Hatte er womöglich die Ankunft seines Bruders versäumt? So schnell wie an diesem Morgen, war er noch nie in seine Anziehsachen geschlüpft. Warum hatte ihn seine Mutter nicht geweckt? Sie wusste doch, dass er Mike als erster begrüßen wollte und nun hatte er womöglich diese Gelegenheit verschlafen.
Tom sprang schnell auf den Flur und rannte ins Wohnzimmer. Mit einem raschen, suchenden Blick überflog er den Raum. Erleichtert stellte er fest, dass nur seine Eltern da waren. Trotzdem fragte er aufgeregt seine Mutter:
„Wo ist er? Ist Mike schon da?“ Mit großen fragenden Augen sah er sie an.
„Du kannst ganz beruhigt sein, du hast noch nichts versäumt. Mike ist noch nicht da. Wir erwarten ihn doch erst in einer Stunde.“ Lächelnd sah sie den Jungen an.
„Komm, geh in die Küche und iss erst einmal etwas. Ich habe das Frühstück für dich stehen lassen. Du hast ja so fest geschlafen, da wollte ich dich nicht wecken.“ Mit einer flüchtigen Bewegung wies sie auf die Tür zur Küche.
Unwillig folgte Tom der Aufforderung seiner Mutter. Er verspürte doch überhaupt keinen Appetit. Er war doch viel zu aufgeregt um auch nur einen Bissen herunter zu bekommen. Aber er wusste, dass seine Eltern darauf bestanden, dass er etwas zu sich nahm. Sein Vater sagte immer, dass ein gutes Frühstück schon den halben Tag ausmachte – was auch immer das bedeuten sollte. Tom nahm sich ein Brötchen vom Tisch und biss schnell ein Stück davon ab, bevor er es wieder auf seinen Teller legte. Hastig trank er noch ein paar Schlucke von seiner Milch. Dann sprang er auch schon wieder zurück in das Wohnzimmer.
Tom stellte sich an das große Fenster, welches zur Straße zeigt. Bei jedem Auto, das vorüber fuhr hüpfte er aufgeregt auf der Stelle. Enttäuscht starrte er ihm nach, wenn es wieder hinter der nächsten Ecke verschwand. Keines wollte vor dem Haus anhalten. Immer wieder wurde seine Erwartung jäh enttäuscht. Um besser sehen zu können öffnete er das Fenster und lehnte sich hinaus. Ständig fragte er seine Eltern, wie lange er noch warten musste und immer wieder bekam er zu Antwort, dass er sich noch gedulden musste. Tom kannte zwar die Uhr, Mike hatte es ihm beigebracht, aber er hatte Angst sich umzudrehen um nach den Zeigern der großen Standuhr zu sehen. War es doch möglich, dass er gerade in diesem Moment das Auto seines Bruders verpasste. Konnte es doch sein, dass ausgerechnet in diesem Augenblick sein Bruder um die Ecke gefahren kam. Dies wollte er um keinen Preis der Welt versäumen.
Das lange Warten lies die große Ungeduld in dem Jungen nur noch mehr anwachsen. Ihm schien, als wenn sich die Zeit gegen ihn verschworen hatte. Minuten dehnten sich zu Stunden. Eine Ewigkeit dauerte jeder Augenblick. Bei jedem Wagen, der um die Ecke gefahren kam, streckte er sich weiter aus dem Fenster hinaus. Plötzlich spürte er eine feste Hand, die nach ihm griff. Sein Vater war unbemerkt zu ihm getreten, und hielt ihn fest. Er hatte wohl Angst, sein Sohn könnte hinaus fallen.
Mit der Zeit hatte Tom keine Lust mehr ständig am Fenster zu stehen und auf die Straße zu schauen. Er ging zum Fernseher und schaltete ihn ein. Es lief gerade eine Folge seiner Lieblingsserie, bei der er sonst nicht vom Bildschirm wegzubekommen war. Heute jedoch hielt es ihn nicht vor dem Apparat. Bei jedem Geräusch das von der Straße kam, sprang er auf und sprang zum Fenster, um dann wieder enttäuscht zum Fernseher zurück zu gehen.
„Jetzt geh doch schon hinaus in den Garten. Du machst mich ja ganz verrückt mit deinem Umhergerenne“, sagte sein Vater und blinzelte dabei über den Rand seiner Brille. „Noch nicht einmal meine Zeitung kann ich in Ruhe lesen.“
Warum war Tom nicht selbst auf diese Idee gekommen. Vom Garten aus hatte er doch den besten Überblick über alles, was auf der Straße geschah. Von dort würde er Mike bestimmt nicht versäumen. Tom schaltete den Fernseher ab. Schnell zog er seine Schuhe und die Jacke an, und schon war er zur Haustür hinaus.
Draußen im Garten beschloss er sich auf seine Schaukel zu setzen. So richtig wusste er nichts mit sich anzufangen. Warum lies sich Mike nur so lange Zeit. Er musste sich doch denken können, das er auf ihn wartete. Toms Ungeduld wuchs ins unermessliche. Er glaubte es kaum noch aushalten zu können. Wie lange konnte doch so eine Stunde dauern. Tom liefen Tränen über die Wangen. Tief in sich drinnen kam eine Angst auf - Angst, dass Mike doch nicht kommen würde. Langsam kroch aber auch Wut in ihm empor, Wut auf seinen Bruder. Wie konnte er ihn nur so lange warten lassen. Ach, sollte er doch bleiben wo er wollte. Was brauchte er den schon Mike. Er würde sich ja doch nicht mehr um ihn kümmern. Wozu auch, er hatte ja jetzt eine Frau. Was brauchte er dann noch seinen kleinen Bruder. Er verzweifelte fast an diesen Gedanken.
Tom wurde jäh aus seinem Grübeln gerissen. Von der Einfahrt her war das Quietschen der Bremsen eines Autos zu hören. Schnell sprang er von der Schaukel und rannte hinüber zu der Garage. Sein Herz überschlug sich fast vor Freude, als er erkannte, wer aus dem Wagen stieg. „Mike“, rief er. Es brach aus ihm heraus, befreiend und erleichternd. All die schlechten Gedanken, die ihn eben noch quälten waren mit einem mal aus seinem Denken gelöscht. Nur noch Glück und Freude erfüllte sein Herz. Er rannte so schnell wie noch nie in seinem Leben. Ganz außer Atem fiel er seinem großen Bruder in die Arme. Ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit nahm von ihm Besitz. Erst jetzt fühlte er, wie schwer doch die Ungeduld und sein Sehnen auf ihm gelastet hatten. Tränen rannen ihm über die Wangen, Tränen der Freude und der Erleichterung. Die Welt um sich herum vergessend, genoss er diesen Augenblick, diese Sekunden, nach denen er sich vor Sehnsucht fast verzehrt hatte. Alles zählte nun nicht mehr. Nur eines war wichtig, er hatte Mike. Tom drückte sich so fest an ihn, als wolle er ihn nie mehr loslassen.
Nach einiger Zeit löste sich Mike aus der Umarmung seines Bruders. Er lächelte ihn an und sagte:
„Na mein Kleiner, ich habe dich auch sehr vermisst.“ Sanft streichelte er Tom über das Haar. Dann begrüßte er seine Eltern, die unbemerkt von Tom zu ihnen gekommen waren. Seine Mutter umarmte Mike. Sogar Vater, der sonst nie seine Gefühle zeigte, nahm seinen großen Sohn fest in den Arm. Dann ging Mike um den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Vorsichtig stieg eine junge Frau aus.
„Darf ich euch vorstellen, das ist meine Frau Martina.“ Die Eltern begrüßten sie freundlich. Tom nicht. Misstrauisch beäugte er sie. Das war sie also - Mikes Frau. Freundlich sah sie ja eigentlich aus, aber wie würde sie zu ihm sein? Nach einigen Augenblicken gingen alle ins Haus. Tom blieb alleine zurück. Aber dann, rannte er hinter den anderen her. Er wollte keine Sekunde von den zwei Tagen, die sein Bruder zu Hause sein würde, verlieren.
Tom wich den ganzen Tag keinen Schritt von der Seite seines Bruders. Immer wieder drängte er sich zwischen ihn und Martina, zu der er ganz und gar nicht freundlich war. Sie hatte ihm Mike fortgenommen, ihn aus seinem Zimmer gedrängt. Das war alles, woran er dacht, wenn er sie sah. Martina konnte sich bemühen wie sie wollte, nett zu ihm zu sein. Tom schenkte ihr kein gutes Wort, kein lächeln. Ständig versuchte er sie zu verletzen, dachte sich immer neue Streiche aus, die er ihr spielen konnte. Ob es Martinas Gabel war, die plötzlich auf dem Boden lag, oder die Schüssel mit dem Gemüse, die er schnell leer machte, als er sah, dass Martina sich gerade davon nehmen wollte. Eigentlich mochte er ja gar keine Möhren, aber er zwang sich dazu sie zu essen, nur damit sie das Gemüse nicht bekommen sollte. So fand er immer neue Dinge, womit er Martina ärgern konnte.
Nach dem Essen nahm seine Mutter Tom mit in die Küche. Sie stellte ihn zur Rede, er solle sich doch nicht so schlecht zu Martina benehmen. Sie hatte gut reden. Sie musste ja nicht auf alles verzichten, wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Tom hatte sich doch genau in seinen Gedanken ausgemalt, wie es sein würde, er und Mike zusammen die ganze Nacht. Seine Mutter ahnte nicht, wie schön „Geisternächte“ sein konnten. Wie beruhigend es war, wenn man spürte, dass man nicht alleine war, wenn da jemand war dem man vertraute, der nicht zankte, wenn man das fünfte Mal aufstand und die Nähe des anderen suchte. Nein, sie wusste nichts von dem, worauf er sich so sehr gefreut hatte. Seine Eltern verstanden nichts von seiner Angst, taten alles nur als ein Märchen ab. Aber Mike verstand noch seine Träume. Er sah auch die Geister die des Nachts in seinem Zimmer tanzten, er stand ihm immer bei, egal was er für Sorgen hatte. So vieles gab es doch, was er Mike anvertrauen wollte, wenn sie in ihrem Zimmer alleine waren. Wie sollte er Martina nicht böse sein. Sie war es doch, die die vertraute Zweisamkeit der Brüder verhinderte, sich zwischen sie drängte. Aber um nicht den Unwillen seiner Eltern auf sich zu ziehen gab sich Tom die größte Mühe netter zu sein.
Die Sonne hatte sich schon zurückgezogen und in der Stube musste das Licht eingeschaltet werden. Keinem war aufgefallen, wie schnell doch die Zeit vergangen war. Tom hatte das Gefühl, als überschlüge sie sich, als wolle sie alles aufholen, nachdem sie die letzten Tage so geschlichen war. Fast erschrocken hörte er wie ihn seine Eltern ins Bett schickten. Da war er, der Augenblick, den Tom schon den ganzen Tag gefürchtet hatte. So sehr hatte er sich doch auf Mike und seine Geschichten gefreut. Nun war es soweit. Martina vollendete ihren Versuch ihn endgültig von seinem Bruder zu trennen. Warum sollte Mike sich noch um ihn kümmern. Jetzt hatte er sie ja, um ihr seine Geschichten zu erzählen. Nun beredeten die Beiden ihre Probleme. Jetzt hatten sie ihre eigenen Geheimnisse. Was interessierte da noch was Tom dachte und fühlte. Er hatte nun niemanden mehr. Tom fühlte sich um alles betrogen. Erst ging Mike einfach so von zu Hause fort und nun hatte er ihn an Martina ganz verloren. Mutter hatte ihm ja gesagt, dass Mike seinen eigenen Weg gehen musste. Wie sollte er dass nur verstehen. Er war sechs und alles was er sah war, dass er seinen besten Freund verloren hatte. Plötzlich kam ihm eine Idee. Vielleicht hatte er doch noch eine Möglichkeit sich seinen Traum zu erfüllen. Trotzig rief er:
„Ich will aber bei Mike schlafen!“ Herausfordernd wanderte sein Blick zwischen Mike, Martina und den Eltern hin und her. Abwartend stand er da. Wie würden seine Eltern reagieren. Tief in ihm verborgen lebte noch immer diese Hoffnung, dass alles so kommen würde, wie er es sich wünschte. Vielleicht schaffte er es ja doch, Martina aus seinem Zimmer zu verdrängen. Mike hatte ihn doch immer lieb gehabt, konnte er da jetzt wollen, dass man ihm weh tat? Mike musste doch sehen, wie sehr er sich danach sehnte mit ihm alleine zu sein. Immer noch stand er da und starrte die anderen trotzig an. Aus ihren Gesichtern wurde er nicht schlau. Hatte er sein Ziel erreicht? Aber nein, so einfach konnte es ja nun doch nicht sein. Er musste den anderen zeigen wie überflüssig Martina doch war. Aber dazu hatte er ja morgen noch Zeit. Für jetzt war nur wichtig sie aus seinem Zimmer zu bekommen.
Wieder streifte sein Blick Martinas Blicke. Was er in ihren Augen sah erschreckte ihn. Das konnte doch nicht sein. Er hatte immerhin jetzt offen gezeigt, dass er sie nicht mochte. Martina müsste doch mindestens etwas traurig sein. Aber alles was er in ihren Augen las, war Verständnis!? Er verstand es nicht. Was musste er noch alles tun um sie zu verärgern? Er hatte sie doch keinen Augenblick in Ruhe gelassen.
Endlich löste sich die Stille. Seine Mutter sah ihn böse an und sagte:
„Jetzt hör aber auf. Ich habe dir doch gestern erklärt, dass das nicht geht. Du wirst doch einmal auf andere Rücksicht nehmen können. Ich erkenne dich heute gar nicht wieder. Du bist doch sonst nicht so.“ Ernst sah sie ihren Jungen an. Dann schüttelte sie traurig ihren Kopf. Tom sah deutlich, dass er ihr wehgetan hatte. Auch Mike sah ihn verärgert an. Er hatte also doch recht gehabt. Martina hatte Mike ihm weggenommen. Tom fühlte sich so elend. Am liebsten wäre er jetzt in sein Zimmer gerannt und hätte sich in seinen Kissen verborgen. Er hatte ja noch nicht einmal jemanden, der ihn trösten würde. Er fühlte sich so alleine, so verloren.
Den Blicken seines Vaters wich er aus. Er wusste, dass er ziemlich wütend auf ihn war. Vater konnte es noch nie leiden, wenn Tom versuchte seinen Willen durchzusetzen. Dass er heute so ruhig war, lag bestimmt nur daran, dass sie Besuch hatten.
Plötzlich geschah etwas, mit dem er nie gerechnet hätte. Martina stand von ihrem Platz auf und ging zu Tom. Ruhig sagte sie zu ihm:
„Komm Tom, ich möchte gerne mit dir reden. Zeig mir doch dein Zimmer, da sind wir bestimmt ungestört.“
Tom verstand die Welt nicht mehr. Die Einzigste die wirklich Grund hatte böse auf ihn zu sein, zeigte nicht die kleinste Spur von Verärgerung. Verstört und wie in Trance folgte er Martinas Aufforderung. Ohne auch nur ein Wort zu sagen ging er mit ihr in sein Zimmer. Als er die Tür öffnete schien das aufgehende Mondlicht in sein Zimmer. An den Wänden tanzten die Schatten des alten Baumes. Schnell beeilte sich Tom das Licht einzuschalten. Zu schaurig war die Stimmung in dem Raum. Martina musste wohl die Furcht in seinem Gesicht gesehen haben, denn sie trat zu ihm und nahm ihn schützend in den Arm und setzte sich mit ihm auf sein Bett. Dann sagte sie zu ihm:
„Es ist schaurig in deinem Zimmer. Ich kenne das. Als ich so alt war wie du, ging es mir genauso. Ich hatte auch immer Angst in meinem Zimmer. Wie froh war ich da immer, dass meine Schwester bei mir war. Mike hat mir viel von dir erzählt. Ich weiß, wie viel Spaß ihr immer hattet. Glaube mir, ich möchte dir Mike nicht fortnehmen. Er wird immer dein großer Bruder sein und ich bin ab jetzt deine große Schwester, wenn du das möchtest. Du bist mir böse, weil du glaubst, dass ich dir deinen Bruder fortnehmen möchte. Glaube mir, mir ging es damals genauso, als meine Schwester heiratet. Ich habe es ihr auch sehr übel genommen. Wenn du möchtest, kannst du heute bei uns schlafen. Ich habe nichts dagegen. Du bist ja nun schließlich mein kleiner Bruder. Und wenn du möchtest, dann erzähle ich dir nachher noch eine schöne Geschichte. Eine von denen, die mir meine Schwester immer erzählt hatte.“ Sanft lächelte sie Tom an.
Im ersten Moment wusste er nicht, ob er seinen Ohren trauen durfte. Das konnte doch nicht sein. Martina war ja ganz nett zu ihm, obwohl er doch den ganzen Tag so schlecht zu ihr war. Konnte er auf ihr Angebot eingehen, sollte er ihr so einfach vertrauen? Aber dann entschloss er sich nicht weiter zu grübeln. Er legte seinen Arm um ihren Hals und sah sie aus seinen großen Augen an. Leise und ein wenig verlegen sagte er:
„Es tut mir leid, dass ich so böse zu dir war. Ich wollte doch nur Mike wieder für mich alleine haben. Er hat mir doch so sehr gefehlt.“ Tränen rannen ihm über die Wangen. Verlegen blickte er zu Boden. Martina streichelte sanft über sein Haar, dann nahm sie ihr Taschentuch wischte ihm die Tränen trocken und sagte:
„Du kannst heute bei uns schlafen. Es würde mich sehr freuen. Und wenn du vor den Mondgeistern Angst hast, dann bist du nicht alleine. Ich werde schon auf dich aufpassen, dass sie dir nichts tun. Jetzt zieh dich schnell aus, wir kommen auch bald zu Bett. Wenn du willst, lasse ich dir das Licht an, damit die Geister nicht wieder zu dir kommen.“
Sie saßen noch eine Weile schweigend da. Tom musste erst alles verdauen. Er fühlte sich so schlecht. Diese Freundlichkeit von Martina hatte er doch gar nicht verdient. Er schämte sich sehr. Nachdem ihn Martina noch einmal versicherte, dass sie ihm nicht böse war, begann er sich auszuziehen. Dann verkroch er sich unter seiner Bettdecke. Martina setzte sich auf die Kante seines Bettes, nahm seine Hand und begann eine wunderbare Geschichte zu erzählen. Nachdem sie fertig war gab sie ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und wünschte ihm eine gute Nacht. Sie ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal zu ihm um und sagte, dass sie auch bald zu Bett gehen würde. Dann verließ sie das Zimmer.
Tom wollte eigentlich warten, bis Mike und Martina zu ihm kamen, aber er war todmüde. Die Aufregungen der letzten Tage waren wohl doch mehr gewesen, als er verkraftete. Martina war ja doch ganz in Ordnung. Wie hatte er nur glauben können, dass sie ihn nicht mochte oder ihn sogar von seinem Bruder trennen wollte. Wie sehr hatte er Martina doch Unrecht getan. Sie wollte sich ja gar nicht zwischen ihn und seinen Bruder stellen. Nein, er hatte Mike nicht verloren. Stattdessen hatte er noch eine Schwester gewonnen. Ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit und Glück machte sich in ihm breit. Langsam glitt seine Hand unter der Bettdecke hervor und löschte die keine Lampe, die neben seinem Bett auf einem Schränkchen stand. Er brauchte jetzt keine Angst mehr zu haben. Nun konnten ihm die Geister nichts mehr anhaben. Was sollten sie schon gegen seine zwei Geschwister ausrichten. Auch wenn sie nicht in seiner Nähe waren, so waren sie doch genau wie die Geister immer bei ihm, sooft er auch an sie dachte. Das Wissen, dass sie ihn lieb hatten, gab ihm Sicherheit. Und morgen würde er sich noch einmal ganz toll bei Martina entschuldigen, ihr zeigen, dass er doch ein ganz netter Junge war. Und morgen würde er...
Aber diesen Gedanken brachte er nicht mehr zu Ende. Selig war er in die Welt der Träume gesunken. Zufriedenheit lag auf seinem kleinen Gesicht - und an den Wänden tanzten die Schatten der Blätter des alten Kastanienbaumes.

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Tag der Veröffentlichung: 04.03.2009

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