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Meine Kinder, die Berliner Hausbesetzer 1981



"Wir bleiben in Kontakt, Alter, keene Angst, ick schlag
ma durch", waren ihre, als beruhigend gedachten Worte.
Auf meinen Einwand, wie sie denn aus Westberlin
überhaupt und durch die BRD unbemerkt entkommen
wollten, kam die durchaus ausgekundschaftete Antwort:
"Die Fahndungslisten, die die Westberliner Polizei den
Grenzorganen der DDR übergibt, wechseln jeweils
Montag." Also reiste unser besetzergeschädigtes
Trüppchen unbehelligt Sonntagnacht durch die
Westberliner, erste DDR-, dann zweite DDR- und
anschlieβend BRD-Kontrolle, um sich am nächsten
Morgen bereits von französischem Boden aus frohgemut
zu melden.
"Kannst du dir nicht vorstellen, das ist was anderes hier.
Haben in einem Stall übernachtet, der Bauer hat uns aus
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dem Schlaf gerissen, nischt vastanden, aber ein
Frühstück hat der serviert, vom Feinsten."
Ich stellte mir einen völlig verdutzten französischen
Bauern vor, der, von der Springerpresse noch absolut
nicht beeinflusst, eine überaus exotische Truppe in
seinem Stall vorfindet, allesamt schwarz gekleidet,
dekoriert mit roten Sternen und dem ihm unbekannten
Besetzerblitz. Was mag in ihm vorgegangen sein?
- Les pauvres enfants, ils ont faim (Die armen
Kinder, haben Hunger)
Danach begann nicht nur für mich eine äuβerst
schwierige Zeit. Die französische Polizei zeigte sich
ebenso uneinsichtig wie die Berliner: Die "Ile de la
Liberte", ein Hof in der Nähe von Montpellier, von
unseren wackeren Besetzern okkupiert, wurde nach zwei
Wochen geräumt, die Truppe zersprengt, es wurde
vereinbart, sich wieder zu sammeln am Bahnhof in
Andorra, hoch oben in den Pyrenäen, jeweils abends um
20 Uhr. Meine Tochter fand sich wohl drei- oder viermal
dort ein, niemand sonst. Von nun an war sie allein.
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Meine Ängste, die ich monatelang durchzustehen hatte,
weiβ ich heut kaum noch einzuordnen. Ich weiβ nur,
dass sie immens waren. Albträume, mich, der
gröβtenteils frei von jeglichen Träumen war, durchjagten
meine Nächte und doch hatte ich ein tief verwurzeltes
Vertrauen, dass ich sie wiedersehen würde. Undenkbar,
was geschehen wäre, hätte ich diese untrügliche
Hoffnung nicht gehabt. Einige leidgeprüfte Eltern, mit
denen ich in Verbindung stand, gaben ihre Kinder nicht
nur auf, sie lösten sich von ihnen. Eine Fernsehsendung
über die Schicksale dieser Kinder gab ihnen keinerlei
Hoffnung auf Wiederkehr mehr, sei es, dass die Besetzer
tatsächlich nicht mehr zurück wollten, sei es, dass sie
nicht selten kriminell geworden waren.
Ich hielt Kontakt zu ihr. Wenn sie irgendeines Telefons
habhaft werden konnte, rief ich sie an und nach einem
mir ewig erscheinenden Dreivierteljahr gewann ich
langsam den Eindruck, dass sie wohl doch gewillt war,
nach Berlin zurückzukommen. Aber es sollte noch
dauern. Ich stand in telefonischem Kontakt mit dem
deutschen Konsulat in Marseille und beschwor die
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dortigen Beamten, wenn meine Tochter auftauchen
sollte, sie sofort in einen Zug zu setzen in Richtung
Deutschland.
"Wollen Sie sie denn wirklich wiederhaben", war die
unverschämte Frage. Ich bejahte aufbrausend, aber der
coole, deutsche Beamte unterrichtete mich darüber, was
ich ohnehin schon wusste, dass sich einige Eltern von
ihren Kindern losgesagt hatten, für mich eine unfassbare
Entscheidung. Ein paar Tage darauf war es soweit.
Telefonat vom Konsulat in Marseille:
"Ihre Tochter ist wegen Bettelei auf der Straβe
aufgegriffen worden". Es gelang mir in meiner Panik, die
Telefonnummer der Polizei in Grasse ausfindig zu
machen. Ich raffte mein gesamtes, noch vorhandenes
Französich zusammen. Der südfranzösische
Gefängnisbeamte verstand mich trotzdem, verband mich
mit meiner Tochter. Nun erwartete ich am Telefon eine
zumindest zerknirschte oder wenigstens einsichtige,
vierzehnjährige Tochter.
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"Geil Alter, sowat wie mich habn die hier noch nie im
Knast gehabt. Bekomm von allen Zigaretten."
Nie wurde ich pädagogisch, wenigstens telefonisch mehr
herausgefordert, als ich versuchte, meine
augenscheinlich euphorische Tochter auf den Ernst der
Situation hinzuweisen:
"Eh, reiβ dich jetzt mal zusammen, du wirst morgen früh
dem Jugendhaftrichter vorgeführt, versuch wenigstens
einen einigermaβen einsichtigen Eindruck zu machen,
damit sie dich freilassen. Ich hab alles mit dem Konsulat
vorbereitet. Es kommt jetzt alles nur auf dich an."
Beschwörend sprach ich auf sie ein, wie so oft in den
letzten Tagen. Wiederum ihre ungemein beruhigende
und durchaus ernst gemeinte Antwort:
"Mach dir bloβ keene Sorgen, Alter".
Wie ich die Nacht und den darauffolgenden Tag
überstand, weiβ ich heut nicht mehr. Nachmittags um 17
Uhr Telefon Konsulat Marseille.
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"Wir haben Ihre Tochter freibekommen. Sie müssen jetzt
sofort 150 Mark per Post überweisen, dann setzen wir sie
in den Zug."
Die Deutsche Bundespost ist verschrien dafür, dass sie
überpünklich schlieβt. Es blieben mir circa 40 Minuten,
um das Geld für den Freikauf meiner Tochter
zusammenzukratzen, bis die Post um 18 Uhr ihre Pforten
schlieβt. Wer waren die Freunde, die mir ohne zu zögern
sofort das Geld vorschossen und die sich genauso wie
ich auf die Rückkehr freuten: Piero, der bei uns im Haus
wohnende Italiener, den die Kinder eh schon als ihren
Opa ansahen und Jerzy aus Polen, der in Berlin sein Geld
damit verdiente, indem er musikalische Arrangements
für Jazzbands konzipierte, Ausländer also, mit denen
mich sehr viel verband. Dem Postbeamten, der sein
Postamt bereits vier Minuten vor sechs schlieβen wollte,
drohte ich Schläge und ein Verfahren wegen
unterlassener Hilfeleistung an, wenn er mich nicht
augenblicklich noch einlieβ. Er lieβ.
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Noch eine bange Nacht. Wie kam das Geld durch die
Telefonleitung so schnell von Berlin Kreuzberg nach
Südfrankreich? Technische Fragen, von Laien gestellt,
verhallen ungehört, besonders, wenn man allein ist. Und
ich war allein, mutterseelenallein in dieser Nacht,
pläneschmiedend für meine Tochter. Wie überzeuge ich
sie, dass sie in Zukunft nur mehr in unserer Wohnung
bleiben muss, dass sie wieder geregeltem Unterricht
nachgehen muss, alles Zwänge, von denen sie ein Jahr
lang freigestellt war. Am Morgen war ich nicht mehr
allein. Alle ihre, in Berlin noch verbliebenen Freunde,
suchten mich auf, freuten sich wie Kinder, die sie ja auch
noch waren. Aber es war an meiner Reihe, den
unnachgiebigen Vater zu spielen.
"Wenn ihr glaubt, dass meine Tochter heut gleich wieder
zu euch zieht, habt ihr euch verpeilt, sie bleibt bei mir
und muss ab sofort wieder in die Schule."
"Geht doch nicht, kannst nich machen, sie geht kaputt",
waren noch die zahmsten Kommentare. Ich blieb hart
und untersagte ihnen, sie am Bahnhof Zoo zu
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empfangen. Ich muss sie allein dort sprechen und
abholen.
Ich stand allein am Bahnhof Zoo und nahm erstaunt
lautes Getöse und Gesang aus einem Waggon des
einfahrenden Zuges wahr, in dem ich unweigerlich
meine Tochter vermutete. Und meine abgewiesenen
Besetzer hatten allen, wie so oft und diesmal mir wieder
ein Schnippchen geschlagen und hatten den Zug am
Bahnhof Wannsee schon geentert und meine Tochter mit
lauten Hallo und Sekt willkommen geheiβen. DEN
Bahnhof hatte ich vergessen. Trotzdem war ich fest
entschlossen, meinen Plan durchzuführen. Ich schloss sie
überglücklich in die Arme, die anderen warteten dezent
im Hintergrund. Ihr strahlendes Gesicht verfinsterte sich
augenblicklich, als ich ihr eröffnete, dass sie nun mit zu
mir nach Hause komme müsse.
"Ich kann nie wieder in ein besetztes Haus ziehen?" Ihre
Unterlippe bebte.
"Vorerst jedenfalls nicht, du musst erst die Schule wieder
packen."
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Ich hasse es, jemandem Befehle erteilen zu müssen, bin
ich doch selbst der schlechteste Befehlsempfänger und in
diesem Fall meiner Tochter in einer Angelegenheit,
dessen politische Bedeutung ich immer herausgestellt
hatte und ihren Kampf stetig unterstützt hatte. So müssen
sich Verräter fühlen, wenn sie einer Ideologie praktische
Zügel anlegen müssen. Ich blieb hart, sie bestrafte mich
zu Hause, indem sie sich im Zimmer einschloss.
Das waren nun bei weitem nicht die einzigen Sorgen, die
ein pädagogisch vorbelasteter, allein erziehender Vater
mit drei Kindern erleben kann. Zum Beispiel überraschte
mich eines Nachts mein kiffender Groβer. Ich hatte grad
den Elternabend im Kinderladen hinter mir, den ich auf
freiwilliger Basis mit der angestellten, holländischen
Erzieherin zusammen leitete, als ich ihn blutüberströmt
vor der Tür stehen sah.
- Kann nur auf ner Demo gewesen sein, schoss es
mir durch den Kopf, da er selbst auch
keine klaren Angaben auf meine Fragen machen konnte.
Ich nahm mir keine Zeit für Nachforschungen, verpackte
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ihn ins Auto und preschte los. Das Urbankrankenhaus
war die nächstliegende Adresse, aber ich wusste, dort
werden verletzte Besetzer registriert, also weiter ins
Krankenhaus Neukölln, wo auβer uns noch weitere
Notfälle auf eine Behandlung warteten. Mein Groβer war
mitunter einige Minuten relativ klar, fantasierte aber von
Farben und Wänden, so dass ich mir keinerlei Reim auf
die Herkunft seiner Verletzung machen konnte. In
diesem Moment kamen zwei Polizisten in
Kampfanzügen herein und schleppten einen verletzten
Jugendlichen mit sich. Ich stellte mich so vor meinen
Sohn, dass er möglichst keinen Blickkontakt zu den
Polizisten herstellen konnte, trotzdem ging einer ganz
nahe an ihm vorbei, so dass er ihm direkt ins
visierbedeckte Gesicht schauen musste. Ich hielt den
Atem an, meinte, jetzt müsste irgendeine Reaktion bei
ihm in Gang gesetzt werden. Nichts! Ein unheimliches
Gefühl beschlich mich, was wird, wenn sich dieser
Geisteszustand nicht mehr verändern würde? Wenn diese
Schädigung zu einer dauerhaften, geistigen Behinderung
führen würde?
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Die Untersuchung durch den Neurologen zog sich hin,
ich verbrachte angstvolle Minuten, bis er mich ins
Behandlungszimmer rief. Mein Sohn saβ nach wie vor
teilnahmslos und starrte vor sich hin.
"Seit wann nimmt Ihr Sohn Drogen?" Die Frage des
Arztes kam derartig überraschend für mich, dass ich die
Situation noch gar nicht werten konnte. Also nicht von
der Demo? Gefährlich oder ungefährlicher? Die
Beruhigung erfuhr ich unmittelbar, als er mir eröffnete,
dass die Verletzung von einem Sturz herrühren müsse,
nicht von groβer Bedeutung, aber er musste irgendeine
schwerere Droge eingenommen haben, deren Wirkung
aber bereits im Abklingen sei, so dass ich nach circa 10
Stunden wohl mit meinem Sohn vollkommen klar wieder
reden könne. Keineswegs beruhigt, aber dennoch
überglücklich manövrierte ich ihn wieder ins Auto
zurück und zu Hause auf eine Liege, die er aber kurz
darauf verlassen wollte, er wollte auf sein Hochbett in
seinem Zimmer und schlafen. Ich benötigte schon
anfangs meine gesamte körperliche Kraft, um ihn am
Besteigen des Hochbetts zu hindern. Im Laufe der Nacht,
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wo er seine Gedanken immer mehr zu
zusammenhängenden Wörtern und schlieβlich zu ganzen
Sätzen formulieren konnte, gewann ich einen Űberblick
und Klarheit über die letzten Stunden vor der
Verletzung. Er hatte an keiner Demonstration
teilgenommen, war ja schon immer weitaus weniger
aktiv als Schwesterchen. Er hatte bei einer Freundin
beim Renovieren ausgeholfen, kaum etwas gegessen den
ganzen Tag und sie hätte ihm dann zum Schluss einen
Tee aus Tollkirsche kredenzt, den er als "Nur-Kiffer"
nicht gewohnt war, zudem mit leerem Magen. Zeit
seines Lebens war dieser Vorfall ein warnendes Beispiel,
nicht nur für ihn selbst.
Die Geschichte meines Jüngsten zieht sich etwas weiter
in die Länge, nichtsdestotrotz nicht weniger spannend,
wie mein Leben mit ihnen nicht nur einen sehr groβen,
sondern einen durchaus spannenden Zeitraum umfasst,
da sie, so unterschiedlich in ihrem Wesen, Werdegang
und Einschätzung von Situationen trotzdem insgesamt
spannende Momente abgaben, aus denen sie, aber vor
allem ich lernte.
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Der Jüngste zeichnete sich im Kindesalter dadurch aus,
dass er im Gegensatz zu den beiden älteren sich
vehement weigerte, ihre Klamotten aufzutragen.
Überhaupt hatte er mit dem Outfit der übrigen
Familienmitglieder seine Probleme, inklusive des
Vaters! Er wechselte nicht selten geschickt auf die
andere Straβenseite, wenn er mit seinen Schulkameraden
aus der Schule kam und uns erblickte. Das hinderte ihn
selbstverständlich nicht daran, von seinem ersten
selbstverdienten Geld eine unverschämt teure Jeans zu
kaufen, die meiner eigenen, zerrissenen im Aussehen
ziemlich ähnlich kam, nur dass seine Löcher unterfuttert
waren, während meine original waren, was er mitleidig
auf meinen ironischen Einwurf mit den Worten
quittierte:
"Davon verstehst du nix!"
Er hatte Recht. Bis heute ignoriere ich jegliches
Modediktat. Ist auch schwer, Krawatte und Blazer mit
Antihaltungen im Allgemeinen und mit
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Antikriegsverhalten im Speziellen in Einklang zu
bringen, könnte auch das ganze Image lädieren.

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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2010

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