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Irgendwie sind wir Freundinnen geworden, Friederike und ich. Es ist Ende November und wenn es in meiner Wohnung nicht immer schön kuschelig wäre und ich es mit dem putzen und schrubben genauer nähme, wäre Friederike bestimmt tot. Von ihren unzähligen Verwandten ist schon lange niemand mehr zu sehen. Manchmal verirrt sich jedoch noch ein einzelner alter dicker Brummer vom Recyclinghof zu uns, wenn wir morgens lüften.
Nach einer Weile, wenn er ganz erschöpft ist, weil er ständig mit dem Kopf gegen die Scheibe fliegt, fange ich ihn mit einem Wasserglas ein und schicke ihn durchs geöffnete Fenster in die Freiheit,…oder doch in den Tod ? Vielleicht friert es heute Nacht.
Friederike ist da schlauer. Sie verirrt sich nie nach draußen oder gar in den Kühlschrank. Morgens, wenn ich still in meinem Sessel sitze, einen heißen Kaffee trinke und mein Leben einfach nur gut ist, setzt sie sich ohne Scheu auf meinen Handrücken und putzt sich mit zärtlich entschlossener Gründlichkeit. Die Hinterbeinchen tanzen um die durchsichtigen, feingeäderten Flügel, heben sie sorgsam an, um auch den Staub von unten zu erwischen und streichen dann von oben wieder alles glatt und adrett. Manchmal bin ich doch wirklich ein wenig besorgt, sie könnte sich bei diesem Tanz verletzen.
Keine Sorge, ich bin nicht verrückt und habe auch keine behandlungsbedürftige Meise. Sie ist eben eine gemeine Stubenfliege, meine Lebensabschnittsgefährtin.
Oder ist es vielleicht sogar ein Er ? Dieser Gedanke verleiht mir wirklich einen unerhört leidenschaftlichen Schwung. Hat „er“ doch einen fast ungehinderten Zugang zu meinen geheimsten Winkeln. Männliche Neugier fällt nämlich nur sehr selten auf meine gelebte Haut.
Die weibliche Intuition gebietet mir jedoch, mit etwas Wehmut, zugegeben: es ist und bleibt Friederike.
In den letzten Tagen , der erste Advent ist mittlerweile verstrichen, treffen wir beiden uns seltener. Schon sehr früh, es war noch fast dunkel, kam sie vorgestern in mein Schlafzimmer und streichelte mich wach. Ich muß gestehen, ich war ungehalten, weil sie meine Ohren kitzelte und viel zu laut summte. Aber dann sah ich sie den ganzen Tag nicht mehr.
Besorgt entdeckte ich gestern, daß sie sehr träge und müde war, wie eine alte Frau eben. Eigentlich kein Wunder, hat sie doch dank unserer Lebensgemeinschaft schon ein weit höheres Alter erreicht, als ihre Artgenossen. Auch scheint mir ihr Hinterteil seit einigen Tagen ein wenig gräulicher schimmernd und breiter.

Ich spüre, wir beide können der Wahrheit nicht ausweichen. Irgendwann wird sie nicht mehr kommen. Wenn es gestattet ist, werde ich ihren wunderbar kunstvollen Körper ohne Leben hinter einer Tüte oder unter einer alten Zeitung finden und sie erlaubt mir damit posthum, sie angemessen zu verabschieden.
Bin ich irre oder Friederike, oder beide, oder keine von beiden ?
Ich weiß es nicht.

Impressum

Texte: Hanna Scotti
Bildmaterialien: Hanna Scotti
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2012

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