Sechs Wochen Ferien- vorbei!
Einfach so mal eben an mir vorbeigerauscht, als wäre es ein freies Wochenende gewesen.
Ich überlege ernsthaft, ob irgendjemand sich einen Scherz erlaubt und den Kalender verstellt haben könnte…
Rechts und links neben mir sitzen Sophia und Elaine, gegenüber Mia, Nele, Tessa und Isabelle.
Ansonsten ist niemand im Abteil.
Sophia spielt mit ihrer Armbanduhr, während Mia sich über ihren Laptop beugt und Isabelle Musik hört.
Ich denke an meine Freundin Ina, die bestimmt schon im Internat ist.
Mit den anderen hier habe ich nicht allzu viel zu tun, obwohl sie alle aus meinem Jahrgang sind und wir uns immer ein Zugabteil teilen.
Tessa starrt teilnahmslos aus dem Abteil in die verregnete Natur.
Elaine liest in einer Teenie- Zeitschrift.
Kurz wurde es dunkel, ein Tunnel hatte den Zug verschluckt.
Ich konnte Elaine atmen hören.
Und den Zug, wie er auf den Schienen ratterte.
Und auf einmal war da nur noch Elaines Atmen.
Ansonsten herrschte Stille.
Unheimlich.
Meine Nägel krallten sich in das Sitzpolster.
Es machte Klick.
Tessa grinste und ihre Taschenlampe erzeugte einen schwachen Schein.
„Scheiße, gleich ist sie leer. Alle in Ordnung?“ fragte sie.
Ich kannte Tessa nicht so gut, wusste eigentlich nur, dass sie schon ein paar Jungs aus dem Nachbarinternat zusammengeschlagen hatte.
„Also, mir geht´s gut.“ Meldete Isabelle ruhig.
„Am besten, wir bleiben einfach sitzen und warten.“ Schlug Elaine vor.
„Und was, wenn das hier gleich alles abfackelt?“ Der Kommentar kam von Sophia.
„Das wäre in der Tat schlecht, aber eher unwahrscheinlich.“ Meinte Mia.
Sophia verschränkte die Arme. „Und wer will es drauf ankommen lassen?“
Wir schwiegen.
Auf einmal gellte ein schrecklicher Schrei durch den Tunnel.
„Hört sich viel eher nach einem Massenmassaker an.“ Kommentierte Mia nach einer Schrecksekunde.
„Ich weiß nicht, ob ich das jetzt besser oder schlechter finden soll.“ Murmelte Nele.
„Am besten, wir verstecken uns. Dann findet uns der Mörder nicht.“ Schlug Elaine vor.
„Ja, aber wenn ein Feuerwehrmann kommt und uns retten will, findet der uns auch nicht!“ kontere ich.
Tessas Taschenlampe gab den Geist auf.
Wieder herrscht einen Moment Stille, dann gellt der nächste Schrei durch die Dunkelheit.
Ich zucke zusammen, Elaine schluckt hörbar.
„Ich habe eine Idee.“ Flüstert Sophia. „Wir verstecken uns. Wenn jemand dann die Tür öffnet, leuchtet Isabelle ihm mit ihrer Taschenlampe…“
„Woher willst du wissen, dass ich eine habe?“ begehrte Isabelle auf.
„Hellsehen natürlich.“ Gab Sophia ungerührt zurück.
„Wenn es dann ein Feuerwehrmann ist, lassen wir uns retten.“
Sophia beugte sich vor.
„Wenn nicht, dann machen wir folgendes….“
Ein Schrei nach dem nächsten gellte durch den Tunnel, es war echt horrormäßig.
Ich kauerte in der Kofferablage, zusammen mit einer Tagesdecke.
Ein paar einsame Lichter, von Handys oder kleinen Taschenlampen erzeugt, irrten durch die Gänge und spiegelten sich in den Glastüren zu unserem Abteil.
„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh Gott, Gott, Gott.“ Murmelte Mia unter mir.
Nele hatte Sophias Plan noch einmal grundlegend überarbeitet, jetzt musste nur noch jemand kommen…
Meine Knochen schliefen ein, so ungemütlich war die Haltung. Dabei hockte ich noch nicht einmal drei Minuten so. Die Schreie kamen immer näher.
Langsam merkte man, dass es kälter wurde.
Mia schnaubte wie ein Pferd.
Auf einmal stand ein dunkler Schatten vor dem Abteil.
Es herrschte mucksmäuschenstille, dann trat die Gestalt die Tür auf und sprang mit einem Satz hinein.
Jetzt hatte Tessa zwei Sekunden, um ihn mit Isabelles Taschenlampe anzuleuchten, damit wir ihn erkennen konnten und er geblendet war.
Als erstes sah ich die Pistole, dann das blutgetränkte Oberteil.
Dann sah ich nichts mehr, weil ich mich mit der Decke auf ihn stürzte.
Jetzt hatte ich nur eine Bewegung, um mich an die Seite zu rollen.
Sophia und Elaine fesselten den Mann, während Isabelle sich die Waffe angelte und ihm an den Kopf hielt.
Jetzt hatte ich etwas Zeit, mir eine neue Decke, diesmal die von mir mit dem süßen Schmetterling, zu holen und mich wieder in die alte Position zu bringen.
„Hoffen wir nur, dass es nicht mehr als zwei sind!“ hatte Nele gebetet.
Isabelle und Elaine drückten den Fremden auf dem Boden,
Tessa stand schon wieder mit der Taschenlampe bereit.
Mia hockte wieder unter mir auf den Sitzen.
Diesmal dauerte es länger. Die Zeiger meiner Armbanduhr legten eine halbe Stunde zurück, bis draußen wieder Schritte zu hören waren.
„Okay!“ flüsterte Nele.
Ich konnte mich kaum mehr rühren, meine Finger umklammerten den weichen Stoff.
Unwillkürlich musste ich an Ina denken. Was die wohl zu der Geschichte sagen würde? Vermutlich würde sie mir kein Wort glauben.
Wieder öffnete sich die Tür, die Tessa vorhin wieder leise geschlossen hatte.
Diesmal ließen wir ihm keine Sekunde Zeit. Tessa blendete, ich ließ mich fallen, Mia umklammerte seine Beine, wir rollten uns zur Seite und Sophia und Elaine fesselten ihn.
Isabelle blieb bei dem anderen Mann.
Ich nahm die andere Waffe.
Elaine drückte den nun blinden und stummen Mann neben den anderen.
Mit einem Zischen wurde es wieder hell.
Meine Augen brauchten ein paar Sekunden, dann blickte ich in die blassen Gesichter der anderen Mädchen.
„Wie viele seid ihr?“ zischte Isabelle, und ihre rauchige Stimme hörte sich wirklich ziemlich erwachsen an.
„Zu zweit!“ antwortete der erste Mann, seine Stimme zitterte.
„Ein Trupp des Sondereinsatzkommandos.“ Sagte der andere.
„Ach ja?“ Sophia stemmte die Arme in die Hüften. „Und das sollen wir ihnen jetzt glauben? Am besten lassen wir sie frei, nicht wahr? Sonst kommt die Polizei, oder was?“
„Wir sind nicht blöd. Was hatten sie vor?“ fragte Tessa. Ich nahm die zitternde Mia in den Arm.
„Sekunde!“ unterbrach Nele uns.
„Ja.“ Meldete ich mich leise zu Wort.
„Am besten stellt nur einer Fragen. Ich würde sagen Nele.“
Keiner erhob Einspruch, nur Mia umklammerte mich noch etwas fester.
„Und Isabelle und Sophia halten denen jeweils eine von diesen Dingern an den Kopf.“
Ich reichte Sophia eine Waffe.
„Achtung!“ warnte einer der Männer. „Meine ist entsichert!“
„Ja!“ gab der andere hinzu. „An meiner ist auch keine Kindersicherung!“
„Tja, ist das unser Problem?“ fragte ich sie.
Einen Moment herrschte Stille, dann nickte ich Nele zu.
„Fang an!“
„Was haben sie hier gemacht?“
Der zweite Mann antwortete zuerst.
„Die Zentrale erhielt mehre Notrufe aus dem Zug, vermutlicher Amoklauf und so. Deshalb machten ich und meine Kollegen uns auf den Weg um euch aufzuhalten.“
„Und du?“ fragte Nele. Ihre Stimme blieb ruhig und neutral.
Tessa presste das Metall etwas stärker auf den Kopf des ersten Mannes.
„Wir wollten ein paar Menschen abknallen, aber wirklich nur…“
Die Stimme erstarb.
„Können sie das beweisen, Mann 2? Tragen sie einen Ausweis bei sich?“
„Hier, in der Jeanstasche.“
Ich nickte Elaine zu, diese reichte uns ein Papier.
Es sah wirklich echt aus, jetzt müsste man nur noch das Foto vergleichen.
„Ihr Name?“
„Joe Rex.“ Stimmte überein.
Nele fragte noch nach ein paar anderen Dingen, die sie mit Hilfe des Ausweises überprüfte.
Dann gab sie Elaine ein Zeichen, und diese nahm Joe die Decke vom Kopf.
„Okay, Joe.“ Nele und ich wechselten einen Blick.
„Ich glaube ihm.“ Flüsterte ich Nele zu.
„Ich auch. Lassen wir es darauf ankommen?“ Ich nickte stumm.
Würden wir falsch liegen, wären wir gleich tot.
Joe sprang auf und wollte der verblüfften Sophia seine Waffe aus der Hand hauen.
Ich schlug ihm ins Gesicht, Elaine traf die Kniekehlen.
„Wag das nie wieder, Joe Rex.“ Warnte Nele.
„Schnell, wir müssen ihn wieder fesseln!“ schnaubte Elaine.
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Er ist wirklich Agent.“ Das sieht man an seiner Art, sich zu bewegen. Er hatte ein geschultes Auge uns sogar den Mut gehabt, Blind gegen uns anzutreten.
Damit nahm ich ihm die Augenbinde, die aus einem Pulli bestand, ab.
„Kinder?“ Joe starrte uns an. „Ich bin gerade von Kindern überwältigt worden?“
„Klappen sie den Mund zu und nehmen den Mann hier gefangen. Und, ach ja. Es gibt zwei davon.“ Erklärte ich ihm.
„Aber der andere wurde schon geschnappt.“ Nele nahm die Stöpsel aus den Ohren und reichte Joe Rex ein winziges Funkgerät.
„Danke fürs ausleihen, ein wirklich nützliches Ding.“ Bemerkte sie dabei.
Joes Hand fuhr in seine (leere) Brusttasche.
Verdutzt nahm der das kleine Elektroteil zurück.
Der echte Mörder stöhnte leise.
Joe nahm das Funkgerät und funkte seine Kollegen an.
Gleich darauf standen SECHS schwarz gekleidete, äußerst muskulöse Herren in unserem Abteil uns so langsam wurde es echt eng.
„Wieso hast du dich nicht gemeldet?“ wurde Joe angefahren. „Ich habe achtmal versucht, dich anzufunken!“
„Sorry, Leute. Ich war gefesselt!“ murrte Joe und wurde rot.
„Aber hey, das hier ist der zweite Typ.“
„Du hast ihn?“
„Naja, eigentlich haben die Mädchen den wesentlichen Teil übernommen.“
Auf einmal starrten alle uns an.
„Wir konnten ja nicht zulassen, dass er uns erdrosselt!“ erklärte ich lahm.
Als wir aus dem Zug traten,
sahen wir sie.
Etliche Verletzte, angeschossene, nahmen ein Bad in ihrem eigenen Blut.
Zwischen ihnen lagen Leichen und welche, die gerade dabei waren, es zu werden.
Körperlich gesunde Menschen weinten sich die Seele aus dem Leib,
andere saßen einfach mit kalkweißen Gesichtern da und wippten auf und ab.
Eine Frau schrie und kreischte, zwei Männer mussten sie gewaltvoll davon abhalten, zu einem kleinen, blutenden Jungen zu laufen.
Viele Ärzte behandelten zusammen kaum ein Viertel der Verletzten, und man konnte die drei Haufen erkennen: Hoffnungslos, Versuch wert, braucht keine Behandlung. Zurzeit zählte ein gebrochenes Bein zu letzterem.
Joe führte uns in einen großen Bus, wo wir ihm alles erzählen mussten.
Ein anderer Beamter schrieb mit, und wir mussten sogar in Mikrofone sprechen.
„Jetzt ist ´s gut.“ Meinte Joe schließlich, als es draußen Dunkel wurde.
„Ihr habt hervorragende Arbeit geleistet, Mädels.
Deutschland dankt euch.
Jetzt müssen wir euch leider bitten, mit niemanden darüber zu reden.
Ihr saßt einfach in einem Zug früher.“
Wir nickten artig.
„Dann bringe ich euch jetzt ins Internat.“
Ich kuschelte mich in meine Bettwäsche.
Seit drei Tagen hieß es nun wieder französische Vokabeln pauken und Mathe lernen.
Vor allem Mia konnte die schrecklichen Bilder nicht vergessen und man hörte sie oft über den Flur im Schlaf schreien.
Seit das Schuljahr begonnen hatte, traf ich mich öfters mal mit Mia, Sophia, Elaine, Nele, Tessa und Isabelle. Ina betrachtet das mit Neid. Aber ich glaube, dass wir sieben ziemlich gute Freundinnen werden könnten, wenn wir wollten.
Joe hatte sich nicht wieder gemeldet, und ich bezweifelte auch stark, jemals noch mal von ihm zu hören.
In der Zeitung sah man Bilder vom Zug- Amok in Bayern,
im Fernsehen liefen Dokumentationen.
Wie kamen die beiden Täter, beide um die dreißig Jahre, dazu so etwas zu tun?
Wir wollten ein paar Menschen abknallen… Immer wieder hörte ich die Stimme des einen Täters, egal ob im Englisch oder im Kunstunterricht, beim reiten oder beim Tennis spielen.
Ich glaube, ich werde es nie vergessen.
Den einem Tag im August, dem Tag der roten Tränen.
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2011
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