Goldenes Sonnenlicht ergoss sich über ihre braungebrannten Beine, die sie auf dem Geländer ausgestreckt hatte. Sie beobachtete die Bäume und nahm das Fernglas vom Tisch, als sie einen Schwarm Vögel auffliegen sah. Sie schob sich ihre verspiegelte Sonnenbrille hoch und beobachtete die Vögel eine Zeit lang. Dann setzte sie sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und lehnte sich zurück.
Als die Sonne schließlich unterging, zündete sie eine Laterne an, die in den Zweigen des Baumes aufgehängt war. Sie würde die Nacht im Baumhaus verbringen, eine Verfolgung im Dunklen machte sowieso keinen Sinn. Sie nahm die Laterne und ging ins Innere, mittlerweile war die Nacht pechschwarz und nur der aufgehende Mond ließ die Bäume weiß schimmern. Sie rollte ihren Schlafsack aus und packte ihren Rucksack dann so, dass sie morgen sofort aufbrechen konnte. Als alles vorbereitet war, trat sie noch einmal hinaus in die Nacht und löschte die Kerze.
Sie liebte es fern der Zivilisation im Dunkeln zu sein und den endlosen Sternenhimmel zu bewundern. Gleich juwelenbesetzten Samt breitete sich der Nachthimmel weit über ihr auf und funkelte wie es kein Edelstein vermochte. Sie zog ihr dünnes Fleece zu und setzte sich in den Stuhl, kreuzte ihre Beine und schloss die Augen. Die Geräusche des nächtlichen Waldes umgaben sie wie vertraute Gefährten. Sie lehnte ihren Kopf an die raue Holzwand hinter sich und sog das Aroma des Waldes ein. Fern einer größeren Stadt war es beinahe schon ein lustvolles Erlebnis diese klare Luft, die doch so facettenreich war in sich aufzunehmen. Ihre Sinne waren ganz wach ohne nach etwas zu suchen, ohne auf etwas zu lauschen oder etwas erschnuppern zu wollen. Sie war einfach ganz hier und fühlte sich unglaublich präsent. Als die sanfte Brise zu einem kalten Wind wurde, zog sie sich schließlich in die schützende Hütte zurück und kuschelte sich in ihren Schlafsack. Mit einem Jagdmesser in Reichweite. Alte Gewohnheiten wurde man nur schwer los. Sie schlief schnell ein und genoss eine traumlose, erholsame Nachtruhe.
Zaghaft begannen einige Vögel auf ihre Existenz hinzuweisen, als sie an der Strickleiter den mächtigen Baum hinab kletterte. Auf dem federnden Waldboden angekommen, rückte sie ihren Rucksack zurecht und lief los. Sie ahnte schon, welchen Weg er ungefähr genommen hatte und ließ sich von ihrer Intuition leiten.
Als sie nach einer Stunde auf eine Fährte stieß, atmete sie auf. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt. Er würde es nicht riskieren sich zu weit vom Fluss zu entfernen. Sie schaute nach oben, endlich war die Sonne vollständig aufgegangen nur ein paar zarte Streifen rosarot zeugten von einer nicht allzu fernen Nacht. Sie beschleunigte ihr Schritte etwas und folgte der Fährte, die sie auch an seinem Nachtlager vorbei führte und später an seinem Rastplatz. Er war wirklich besser geworden. Einmal hatte er sogar halbherzig versucht seine Spur zu verwischen. Sie rümpft die Nase, schwacher Versuch. Und weiter ging die Jagd.
Immer wenn sie so dahin lief, frei und zugleich fokussiert, hatte sie das Bild eines Wolfes vor Augen. Sie fühlte sich in solchen Momenten mit diesen ausdauernden Geschöpfen verbunden, als würden sie sie als unsichtbare Schatten begleiten. Dieser Gedanke an so eine Verbindung, gab ihr Kraft und ließ ihre Schritte sicherer werden. Vielleicht hatten diese alten Indianertänze und –rituale einen ähnlichen Effekt. Sich mit der Kraft und den Eigenschaften eines Tieres zu identifizieren, konnte einen zu höheren Leistungen befähigen. Und sie war eben jetzt ein Wolf, zäh und ohne zu ermüden, stark und leichtfüßig, so lief sie, ihrem Gefährten im Geiste gleich, durch den Wald. Über ihr ragten die grünen Kronen der Bäume in den azurblauen Mittagshimmel. Langsam musste sie abwägen, ob sie versuchen sollte ihr Tempo etwas zu beschleunigen und ihn so bald einzuholen oder ihren müden Muskeln eine Pause zu gönnen und sich zu stärken. Neben diesen vernunftgesteuerten Überlegungen, drängte sich der Geist des Wolfes in den Vordergrund „Laufen. Jagen.“
Und so lief sie weiter. Ihr Atem ging nach wie vor ruhig und gleichmäßig, doch sie war sich auch bewusst, dass sie bald auf ihre Reserven zurückgreifen musste. Ihre Sinne waren hellwach in der Absicht auch den unscheinbarsten Hinweis aufzuspüren. Und da war es. Mehr Gefühl, als eindeutige Wahrnehmung. Sie stoppte unvermittelt in ihrem Lauf und stand reglos auf dem weichen Waldboden. Sie sog tief die Luft ein. Nein, es war kein Geruch. Aufmerksam ließ sie ihren Blick schweifen, nichts schien ungewöhnlich. Schließlich schloss sie die Augen und lauschte. Die Baumkronen über ihr rauschten im sanften Wind, unweit plätscherte der Fluss, hier und da knackte es. Da! Dieses Geräusch sollte in einem Wald nicht natürlicherweise zu hören sein. Das Plastikrascheln eines Parkas. Die Wunder der Zivilisation konnten manchmal auch zum Verhängnis werden. Besonders, wenn man dadurch zum atmungsaktiven wind-und regengeschützten Fremdkörper wurde. Sie öffnete die Augen und schaute nach oben und tatsächlich sah sie im Geäst eine khakifarbene Jacke hervor blitzen. Na immerhin hatte er noch genug Verstand besessen, sich für diese Tarnfarbe zu entscheiden. Er war in der Tat sehr gut geworden. Aber nicht gut genug. Sie grinste. Ging dann in die Knie und federte nach oben, griff einen Ast und zog sich hoch. Sie hörte, wie weiter oben scharf Luft eingezogen wurde.
„Ganz genau, junger Mann. Ich habe dich gefunden!“
Ein schwerer Seufzer ertönte aus der Baumkrone.
„Das war´s also?“
„Gut geraten. Du kannst nicht entkommen. Ich hab dich gefunden, obwohl du schon drei Tage im Wald warst. Wie schätzt du wohl deine Wahrscheinlichkeiten, mir jetzt zu entkommen, ein? Selbst wenn du einen anderen Weg vom Baum fändest, würde ich sagen sehr gering.“
„Jaja, ich hab´s begriffen. Echt Mina, immer dasselbe wenn du auftauchst.“
„Tja, mein lieber Leonhardt, dein Vater erwartet dich morgen zum Nachmittagskaffee. Eine Woche Wildnis sollte dann ja auch erst einmal genügen.“
„Spielverderber.“, grummelte Leo und machte sich an den Abstieg.
Mina atmete auf. Leo war eigentlich ganz umgänglich, aber in ihrer Abwesenheit war er wohl außer Rand und Band geraten. Die Jahre zuvor hatte sie sich in den Sommerferien um ihn gekümmert, da seine Eltern in erster Linie mit Abwesenheit glänzten und das Internat in den Sommerferien geschlossen hatte. Dieses Jahr hatten seine tollkühnen Eltern ihr Leonhardt sei alt genug, um den Sommer ohne Babysitter zu überstehen. Weit gefehlt. Mina war nach einem verzweifelten Anruf von Leos Vater ohne Umschweife eingeflogen worden. Ihr kam es gelegen gegen Bezahlung in irgendwelchen Wäldern herumtoben zu dürfen und im Grunde konnte sie den einsamen Leo nur zu gut verstehen. Und ihrer Meinung nach gab es weitaus schlimmere Möglichkeiten sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Als sie beide wieder sicher auf dem Boden angekommen waren. Faste Mina Leo um beide Schultern und hielt ihn auf Armlänge von sich.
„Lass dich anschauen.“
Sie musterte den fünfzehnjährigen, dünnen Jungen mit den blauen Augen und den ausgeblichenen, zerzausten Haaren. Sie wuschelte durch seine wilde Mähne.
„Also Löwenkind, Haare schneiden würde nicht schaden.“
Leo verzog sein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse.
„Weißt du wie ich dann aussehe? Wie ein Vollidiot. Meine Mutter lässt immer so komische Friseure kommen, das ist echt nicht auszuhalten. Und hinterher sind alle entzückt und ich könnte schreien.“
„Soll ich sie dir schneiden?“
Leos Miene hellte sich auf. Obwohl er sich ärgerte eingefangen worden zu sein, war er zugleich doch froh, dass Mina da war. Mina zeigte ihm immer die besten Sachen.
„Ja! Aber ich darf mir aussuchen wie.“
„Naja, sagen wir mit kleinen Einschränkungen.“
Schweigend liefen sie durch den Wald. Das hier war Privatbesitz von gigantischem Ausmaß und dementsprechend traf man auch fast nie andere Menschen. Mina gefiel es hier, der Wald war ganz sich selbst überlassen und quasi ein Urwald. Nach einigen Stunden machten sie eine Pause und begannen dann in einen schnelleren Trott zu fallen. Mina war schon ein bisschen stolz auf Leo, immerhin hatte sie ihm das meiste beigebracht und er hatte fleißig weiter trainiert. So konnte er mit ihr mithalten, als sie so zwischen den Bäumen hindurch liefen und einem Wildwechsel folgten. Vor Minas Augen entstand wieder das Bild eines Wolfes. Sie musste lächeln, nun waren sie ein kleines Wolfsrudel. Unermüdlich setzten sie ihren Weg fort und bei Anbruch der Nacht konnten sie Lichter zwischen den Bäumen hindurch schimmern sehen.
„Geschafft, Leo. Deine Eltern sind sicher froh dich zu sehen.“
Leo schaute sie für einen Moment ungläubig an und untersuchte ihre Aussage auf die mögliche Existenz von Ironie. Als er nichts Derartiges fand, lachte er geradeheraus.
„Na sicher.“
Mina runzelte die Stirn: „ Nur weil deine Eltern kaum Zeit für dich haben, heißt das nicht, dass sie dich nicht lieben. Und dein Vater klang sehr besorgt, als er mich um Hilfe bat.“
„Besorgt, weil ich den sonntäglichen Nachmittagskaffee verpassen könnte und er sich dann vor seiner Mutter würde rechtfertigen müssen. Naja, egal. Ich weiß schon, das du anders darüber denkst.“, Leo winkte ab.
Mina erwiderte nichts, sie hatten ähnliche Gespräche schon allzu oft geführt. Einhellig liefen sie über den von Gärtnern gepflegten Rasen und betraten das Anwesen durch einen Hintereingang. Mina begleitete Leo bis in sein Zimmer und machte ihm mit einer Handbewegung klar, dass sie ihn im Auge behalten würde und jede Flucht zwecklos wäre. Leo nickte ergeben und begab sich in sein Zimmer. Mina wartete noch einen Moment bis sie das Rauschen der Dusche hörte und ging dann die Treppe hinab in den Salon. Wie sie erwartet hatte, warteten dort Leos Eltern. Bei ihrem Auftauchen sprangen beide auf und kamen auf sie zu.
„Haben Sie ihn gefunden?“
„Geht es ihm gut?“
„Wir sind Ihnen unendlich dankbar.“
Mina beruhigte beide und empfohl ihnen, doch einfach selbst nach ihrem Sohn zu sehen. Mina wusste schon wie die Antwort lauten würde, denn auch dieses Gespräch hatte sie schon oft geführt.
„Oh nein. Er ist sicher müde und möchte seine Ruhe.“
„Ich werde nach ihm schauen, sobald er schläft. Er will sich nicht von seinen Eltern bedrängt werden.“
„Tja, dass sehe ich anders. Aber das wissen Sie ja.“
„Ja, und wir schätzen Ihre ehrliche Meinung, doch sind sie in anderen Kreisen aufgewachsen und sind auf andere Dinge vorbereitet worden. Ich denke, Sie können nicht alle Hintergründe so klar sehen.“
Mina zuckte mit den Schultern und blieb ihnen eine Antwort schuldig. Sie stapfte die Treppe wieder hoch und betrat ihr altes Zimmer aus vergangenen Sommern.
„Die haben doch ´nen Stock im…Naja, was soll´s. Armer Leo.“
Mina entledigte sich ihrer Kleidung und betrat das, zum Zimmer gehörige, Bad. Sie genoss das warme Wasser. Zivilisation hatte durchaus seine Vorteile. Worte ihres Vaters schossen ihr durch den Kopf. Komfort ist gefährlich, er kann Menschen blind und taub, unbeweglich und dumm machen. Sie seufzte und drehte den Hahn auf eiskalt. Genießen ohne davon abhängig zu sein. Vorteile nutzen ohne sie als selbstverständlich anzusehen, das alles waren Mottos ihres Vaters, die er auch ihr eingetrichtert hatte.
Mina öffnete vorsichtig die Tür. Als sie jedoch die aufgespannte Schnur sah, stieß sie blitzartig die Tür ganz auf und sprang zurück. Sie hörte ein Zischen, Knall und dann ein Platschen. Aus einem wassergefüllten Luftballon hatte sich, zerplatzt durch einen Pfeil, Wasser auf den Boden ergossen. Mina trat über die Pfütze hinweg in den Raum. Leos Zimmer war eine Mischung aus Schlachtfeld und Räuberhöhle, doch sie ließ sich von dem Chaos nicht täuschen, mit Sicherheit waren hier noch ein paar andere Fallen versteckt. Sie spähte umher und befand den Raum schließlich für Leofrei.
„Verdammt.“
Sie hätte es ja ahnen können. Die letzten zwei Wochen waren relativ ruhig verlaufen, was bedeutete, dass sie tagsüber im Wald herumtobten und abends gesittet zum Abendessen mit Leos Eltern erschienen, der Haussegen schien wieder hergestellt. Der heutige Tag hielt in Leos Augen jedoch etwas besonders Teuflisches bereit – die Dinnerparty seiner Mutter auf der er wie ein dressiertes Hündchen herumgezeigt werden sollte. Nur zu gut konnte Mina seine Abneigung nachvollziehen, doch wurde sie schließlich dafür bezahlt auf ihn aufzupassen und sie gestaltete seine übrigen Tage nun wirklich spannend genug. Sie fand Leo schließlich im Badezimmer des Küchenpersonals.
„Leo, du kannst dem nicht entkommen. Tu deiner Mutter den Gefallen und dann hast du die nächsten Tage wieder je erdenkliche Freiheit.“
„Verschwinde.“
„Leo, du bist zu alt, um dich im Badezimmer zu verstecken. Komm schon zu einem wahren Jäger und Waldläufer gehört auch Unangenehmes ertragen zu können ohne davor zu fliehen.“
„DU musst ja nicht teilnehmen.“, brummte Leo von der anderen Seite der Badezimmertür.
Versonnen schaute Mina in die Ferne und berührte unwillkürliche eine schmale Narbe an ihrem Arm.
„Weißt du, kleiner Löwe, es gibt schlimmeres als Dinnerparties.“
Irgendetwas in ihrer Stimme ließ Leo aufhorchen und seine Trotzigkeit legte sich.
„Ja, das weiß ich doch, aber ich soll vorher auch noch die Haare schneiden und das geht nun wirklich zu weit, danach sehe ich immer aus wie ein Trottel.“
Mina grinste.
„Dann werde ich eben mein Versprechen einhalten und dir die Haare schneiden und deine Wünsche dabei so gut wie möglich berücksichtigen.“
Der Schlüssel drehte sich und Leos blonde Mähne schaute heraus. Streng musterte er Mina von oben bis unten.
„Na gut. Wir haben einen Deal. Komm rein, das erledigen wir besser gleich, sonst redest du dich vielleicht wieder raus.“
Mina trat ein und sah, dass Leo Haarschneideutensilien schon auf dem Boden verteilt hatte. Die ein oder andere Locke hatte sich auch schon aus seinem wilden Haupthaar verabschiedet. Wie es aussah kam sie gerade zur rechten Zeit, sonst hätte Leo seine Mutter mit einer selbst kreierten Frisur an den Rand eines Nervenzusammenbruches gebracht. In einer Ecke sah sie sogar blaue und grüne Haarsprays. Sie war wirklich keine Sekunde zu früh. Sie machten es sich beide auf dem Boden gemütlich und Mina drapierte alles um sich herum, was sie brauchte um diesem wilden Schopf Herr zu werden. Mit Leos Anweisungen und ihrem gesunden Menschenverstand wurde die Löwenmähne gekürzt bis eine freche, aber durchaus akzeptable Jungenfrisur übrig blieb. Sie flocht sogar noch eine blaue Strähne mit einer Feder als Zugeständnis an seine verrückten Ideen, versteckte sie jedoch so geschickt in seinem Haar, dass sie während der Party nicht auffallen würde. Damit konnte Leo seine Mutter dann später noch ärgern, die würde er um keinen Preis abschneiden lassen. Zufrieden sah sich Leo im Spiegel an.
„Ganz genau so hab ich es mir vorgestellt. Danke Mina.“
„Na dann komm.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen und sie verließen das Badezimmer.
Am Abend schlenderte Mina weg von den Geräuschen der ersten Gäste in Richtung des angrenzenden Waldes. Sie atmete tief ein und wollte gerade den letzten Schritt tun, der sie in Dunkel der Bäume gebracht hätte, als Leos Mutter sie rief.
„Mina! Mina! Warte, kannst du mir bitte helfen?“ Mit einem Seufzer drehte sich Mina um und ging ihr zügig entgegen.
„Was soll ich tun?“
Leos Mutter musterte sie.
„Nun zu erst einmal musst du dich umziehen. Bist du überhaupt im Besitz von etwas Elegantem? Na, auf jeden Fall brauche ich dich als Empfangsdame. Rosalie ist kurzfristig krank geworden und ich habe heute einige wichtige Gäste, um die ich mich kümmern muss. Ich kann also nicht jeden selbst an der Tür empfangen.“
Mina winkte ab.
„Keine Sorge. Geben sie mir zehn Minuten.“
Leos Mutter nickte dankbar und schritt wieder zurück zu ihrer Dinnerparty. Mina schlüpfte durch einen Hintereingang ungesehen in ihr Zimmer und zog sich in Windeseile um. Im mitternachtsblauen Cocktailkleid, silbernen Highheels schritt sie eiligst der Gesellschaft entgegen, auf dem Weg schlang sie sich noch eine verwobene Kette mit filigranen Steinen, wie kleine Sterne, um den Hals. Als sie schließlich die Räume betrat, und Leos Mutter beruhigend zuwinkte, war sie so passend gekleidet, dass niemand je vermuten würde, dass sie sonst die meiste Zeit im Wald herumlief und Kinder aufspürte. Bewundernde Blicke begleiteten sie, als sie zwischen den Gästen hindurch schritt und schließlich ihren Platz am Eingang einnahm, wo sie pflichtschuldigst die Neuankömmlinge begrüßte. Nach einer Weile gesellte sich Leo zu ihr.
„Tja, heute musst du mal mit mir leiden.“
Mina zuckte die Achseln. „Es ist nicht wichtig. Sieh es einfach so wie es ist, als ein großes Theaterstück mit maskierten Darstellern von denen wir heute auch ein Teil sind.“
Nachdenklich stand Leo neben ihr.
„Warum ist das so? Ist das nicht traurig?“
„Bist du traurig, weil du heute hier bist, obwohl du es nicht willst? Du stellst schließlich auch nur eine Maske zu Schau.“
Leon dachte nach: „Nein, eigentlich nicht. Es ist einfach nur lästig. Aber ich habe mich ja auch nicht freiwillig dafür entschieden. Wenn ich mal erwachsen bin, werde ich nichts tun, was mir nicht gefällt.“
„Manchmal hast du keine Wahl.“
„Na toll, und was ist dann schon so großartig daran erwachsen zu sein? Warum kommen diese Leute hierher? Wer würde schon freiwillig auf eine Dinnerparty gehen, wenn er doch in der gleichen Zeit durch den Wald streifen könnte?“
„Würdest du 50 Menschen hier fragen, warum sie hier sind, so würdest du wohl 50 verschiedene Antworten hören. Doch letztlich hat jeder Mensch das gleiche Ziel, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Jeder einzelne Mensch auf diesem wunderbaren Planeten sucht nach Glück und Zufriedenheit. Manche glauben dies durch Macht zu erreichen, andere durch Geld, wieder andere durch Sicherheit, und viele auch durch andere Menschen Liebespartner, Freunde, Familie.“
„Aber es ist doch einfach glücklich zu sein, man muss nur das tun, was einem wirklich von ganzem Herzen gefällt.“
„Mag sein, aber man kann Glück und Zufriedenheit nie in anderen Dingen oder Wesen finden. Wenn es nicht aus sich selbst heraus entsteht, ist es vergänglich, da es an gewisse Bedingungen geknüpft ist und der Mensch wird sein Leben auf der rastlosen Jagd danach zubringen. Oder schlimmer noch, resignieren und einfach akzeptieren in dem Glauben, kein Einfluss auf sein Lebensglück nehmen zu können. Diese bedingungslose, umfassende Zufriedenheit, beginnt von innen heraus und ist unabhängig von äußeren Einflüssen.“
„Ist das nicht unglaublich schwer? Stell dir doch nur vor es herrscht Krieg, da Glück zu finden ist doch unmöglich.“
„Nicht unmöglich, aber doch schwierig und erfordert Geduld mit sich selbst, Disziplin im Loslassen und unermüdliches Streben. Aber der einfachste Beginn ist etwas zu tun, das einem Freude bereitet. Das hast du auch selbst schon erkannt. Du tust also etwas, das dir in seiner Handlung bereits ein Gefühl von Glück vermittelt. Es ist also nicht das Ziel, das dir erst Zufriedenheit schenkt , sondern jeder einzelne Schritt auf dem Weg dahin, so ist keiner dieser Schritte verloren, selbst wenn sich dein Ziel eines Tages ändern sollte.“
„Zum Beispiel im Wald leben.“
„Ja.“
Eine Weile standen sie so schweigend Seite an Seite. Schon längst waren alle Gäste eingetroffen und Mina hatte erst einmal keine andere Aufgabe, als Leo in ihren Lebensansichten zu unterweisen. Lebensansichten, die sie sich von ihren Eltern, durch eigene Erfahrung und durch alte Schriften großer Philosophen angeeignet hatte.
Texte: Hannah Baumbach
Bildmaterialien: Hannah Baumbach
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2013
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