Die Op
Kapitel 1
"Dr. Deems bitte in die Unfallchirurgie, Dr. Deems bitte!". Die Bedeutung dieser Aussage kannte Jill nach all den Jahren schon allzu gut: Arbeit kam auf sie zu! Schnell zog sie sich ihren Kittel über, steckte ihren Pager ein und machte sich auf den Weg in den dritten Stock der John-Hopkins Klinik. Ihr Stethoskop lag um ihren Hals und wippte bei ihren schnellen Schritten auf und nieder. Es ist doch immer wieder das Gleiche, warum glaube ich eigentlich immer noch daran, einen kleinen Moment der Ruhe in dieser Klinik zu erwischen?
Doch eigentlich war es genau das, was sie so an ihrem Job liebte: die Hektik ließ sie vergessen. All das, was sie sonst so beschäftigte und plagte, fiel in Momenten wie diesen von ihr ab. Wie ihre Sorge um ihre kleine Tochter Colleen, oder ihr Wohnort selbst: Baltimore, eine Stadt bekannt für ihre Armut und Verwahrlosung. Ist das wirklich ein Ort wo man ein Kind großziehen kann? Auch erinnerte sie alles an Brandon...Sie konnte es sich immer noch nicht vorstellen für immer ein Leben ohne ihn führen zu müssen, doch inzwischen hatte sie gelernt ihren Alltag so gut es ging ohne ihn zu meistern.
„Jill, da bist du ja endlich Kleines", die liebenswürdige Stimme der Oberschwester klang beunruhigend angespannt. "Mary, es tut mir Leid, ich bin so schnell gekommen wie ich konnte. Was haben wir denn hier?".
"Männlich, 38 Jahre alt, wurde von einem Auto erfasst, Verdacht auf innere Hämorraghie, wahrscheinlich die peripheren Blutgefäße des Körperkreislaufes, obendrein ein dadurch ausgelöstes Leberinsuffizienz.". Jill merkte wie ihr Puls stieg.
"Geben sie Bescheid, dass OP-Saal drei vorbereitet werden muss und Dr. Tenner soll mir assistieren!". Mit diesen Worten verließ sie Mary und machte sich zügig auf, um sich für die Operation vorzubereiten. Dieser Job war wahrlich nichts für nervenschwache Leute. Ihre Aufgabe war es Leben zu retten und man erwartete von ihr oftmals wahre Wunder. Trotz ihrer langjährigen Erfahrung waren Notfälle noch lange keine Routine. Der Gang zum OP-Saal war geradezu grausam. Sie spürte, wie ihr Bauch sich verkrampfte, ihr Gesicht wurde heiß und ihre Hände zitterten. In solchen Momenten stand sie unter Hochspannung und musste sich zu jeder Bewegung zwingen. In ihrem Kopf geisterten die Gesichter trauernder Angehöriger, der scharfe, durchgehende Ton des Eletrokardiogramms wenn das Herz aufhört zu schlagen, die schwer lastende Verantwortung für ein Leben,... Ihre Hände fühlten das kalte Metall des Türgriffs und mit unendlicher Anstrengung zog sie, um sich einen Weg in den OP-Saal zu ermöglichen. Die Tür schloss sich hinter ihr und Jill wurde ruhig. Ihre Hand griff nach dem herzförmigen Anhänger an ihrer Kette. Du schaffst das!
Es war ein Kampf. Ein Gefecht um das Leben, ein erfolgreicher Widerstand gegen den Tod. Die Anspannung saß ihr noch in den Gliedern. Sie hatten es geschafft. Langsam kam das Aufatmen und die Erleichterung schlich sich bei ihr ein. Die Last fiel von ihr ab und sie merkte, wie sich die Freude in ihrem Herzen ausbreitete. Joe Tenner gratulierte ihr und sie spürte, wie sich ihr Bauch entkrampfte und ihr Puls wieder ruhiger wurde.
"Gut gemacht, Jill. Du hast es geschafft!",
"Wir haben es geschafft!" entgegnete sie und lächelte. "Jetzt brauche ich erstmal einen Kaffee! Sind die Angehörigen informiert?"
"Alles bereits erledigt. Die Frau des Patienten wartet unten. Es fehlt nur noch dein Part.". Jill nickte und begab sich in Richtung Empfang. Dort stand Schwester Mary, neben ihr eine Frau, die wie gelähmt auf eine weiße Wand starrte. Jill kam auf die beiden zu.
"Sind die Mrs. Porter?", die Frau fuhr zusammen und drehte sich zu der Frau im Arztkittel um.
"Ja, die bin ich. Was ist mit meinem Mann? Wie geht es ihm? Was ist überhaupt passiert? Oh ich mache mir solche Vorwürfe! Sagen sie mir bitte, geht es ihm gut?" Jill lächelte ihr ermunternd zu.
"Hallo Mrs. Porter, ich bin Dr. Deems und habe die Operation ihres Mannes durchgeführt. Es geht ihm gut. Er hat es geschafft!". Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen der Erleichterung.
"Danke..", ihre erstickte Stimmte brachte kein weiteres Wort mehr heraus.
Jill lächelte und übergab die Frau wieder in die Obhut von Mary und ging in Richtung Bereitschaftsraum. Joe kam ihr schon mit einem Becher Kaffee entgegen.
"Na, alles erledigt? Jetzt wirds erstmal Zeit für ne kleine Pause! Die hast du dir verdient!"
Jill grinste: "Danke und gleichfalls! Sag mal, wo ist eigentlich Christine?"
"Unsere kleine Zicke muss noch die Lokolalanästhesie-maßnahmen mit Dr. Green vorbereiten, sie kommt bestimmt gleich."
Jill musste unwillkürlich lachen.
"Na hoffen wir, dass sie sich irgendwann von seinem Anblick losreißen kann. Sie ist ja ganz vernarrt in den Kerl! Wusstest du eigentlich schon, dass.."
"Ach komm," Joe winkte ab:"lass mich bloß in Frieden mit dieser Flüsterpropaganda! Erzähl mir lieber etwas, was mich auch interessiert!"
Jill amüsierte sich immer wieder prächtig dabei, Joe mit dem Neustem aus der Gerüchteküche der Klinik zu reizen.
"Na gut, ich will mal nicht so sein.", sie lächelte.
"Dr. O´Connor hat mir mitgeteilt, dass unser Chirurgen-Team schon bald Zuwachs bekommt! Morgen dürfen wir einen Kollegen begrüßen!", noch bevor Joe etwas erwidern konnte griff sie ihren Kaffeebecher und stand auf.
"Ich muss leider schon los, wir sehn uns ja morgen. Bis dann!" Sie drehte sich um und ging Richtung Ausgang. Endlich nach Hause!
Jill drehte den Schlüssel im Schloss und blickte auf den dunklen Flur ihrer Wohnung. Als die Tür wieder zufiel, umfing sie die verhasste Stille. Sie lauschte, aber von Colleen war nichts zu hören. Kraftlos ließ sie ihre Sachen fallen, verschaffte sich mehr Sicht und schlich zum Zimmer ihrer Tochter. Sie schlief tief und fest. Jill ging weiter in die Küche und machte sich einen Tee. Anschließend setzte sie sich auf das alte Sofa, was ihr treu jeden Abend Gesellschaft leistete. Jedes Mal saß sie dort, alleine und erschöpft. In diesen Momenten wurde ihr ihre ganze Situation bewusst, die Realität traf sie oft wie eine Ohrfeige ins Gesicht.
Brandon war nicht mehr da, ihr Ehemann war tot. Es war zwar schon zwei Jahre her, aber es gab immer noch Tage wie diesen, an dem ihr dicke Tränen über die Wangen liefen. Es war so kräftezehrend, ständig zu versuchen gut drauf zu sein. Sie hatte einfach nicht die Energie dafür. Sie vermisste alles an ihm. Sogar die kleinen Streitereien, wer den Müll raus bringt, wer den Abwasch macht und wer als letztes das Licht ausmacht. Neben ihr auf dem Tisch stand das Hochzeitsfoto. Jill nahm es, strich vorsichtig die kleinen Staubflocken weg und betrachtete es andächtig. Brandon hielt ihre kleine Hand in seiner und blickte verträumt auf seine frisch angetraute Frau. Sie hatte ihr langes blondes Haar hochgesteckt, sodass man ihre braunen Augen und ihre spitze Nase erkennen konnte. Sie dachte daran, wie glücklich sie damals waren und erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Es fing eigentlich ganz harmlos an, er klagte ein paar Mal über Kreislaufbeschwerden und ein Stechen in der Brust. Sie hatte ihn damals damit geneckt, dass er schon so ein alter Mann sei. Niemals würde sie sich verzeihen, dass sie als erfolgreiche Ärztin keinen Verdacht geschöpft hatte.
Brandon starb an einem Herzstillstand. Er hatte einen schwer zu erkennenden Herzfehler geerbt. Für Jill brach damals die Welt zusammen. Sie hatte zuvor noch nie etwas von diesem Herzfehler gehört und hatte nur die gemeinsame Zukunft im Kopf.
Doch dieser Traum sollte niemals in Erfüllung gehen.
Die ersten Monate nach dem Tod ihres Mannes waren für Jill die schlimmsten ihres Lebens. Sie fühlte sich wie aus dem Leben gerissen, in ihrem Herzen klaffte ein großes Loch, es schien so leer und einsam. Monatelang saß sie genau auf diesem alten Sofa und weinte bis sie in den Schlaf viel.
Den Weg zurück ins wirkliche Leben verdankte sie ihrer kleinen Tochter, die zum Todeszeitpunkt ihres Vaters gerade einmal vier Jahre alt war. Sie hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Brandon und Jill liebte sie über alles. Wenn sie bei ihr war hatte Jill das Gefühl, dass ihr Mann nicht weit entfernt war. Das, und die Liebe zu ihrer Tochter gaben ihr wieder den Mut und die Kraft weiter zu leben.
Mit der Zeit heilten die seelischen Wunden und sie begann wieder zu arbeiten. Doch es gab immer wieder Zeiten, wo sie die Trauer übermannte. So wie jetzt. Jill wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaltete den Fernseher ein. Die vielen Bilder zogen an ihr vorbei wie ein Video im Schnelldurchlauf, während sie geistesabwesend ihren Tee schlürfte.
Kapitel 2
Nervös trommelte Allan einen Rhythmus auf seinem Lenkrad. Er stand jetzt schon mehr als 20 Minuten im Stau und noch immer gab es keine Anzeichen auf ein Ende. Er hasste es, wenn sein strenger Terminplan durcheinander gebracht wurde. Ursprünglich hatte er um 10.00 Uhr ein Treffen mit seinem Innenarchitekten gehabt, was er nun natürlich auch absagen musste.
Ein wirklich guter Start in Baltimore!, dachte er sich und schaute brummig aus dem Fenster. Er war wohl nicht der Einzige schlecht gelaunte Verkehrsteilnehmer: Als er sich so umsah, viel ihm eine Frau im Auto nebenan auf. Wild gestikulierend saß sie da und redete auf den Mann ein, der neben ihr verkrampft das Lenkrad in der Hand hielt. An seinem Ringfinger blitzte ein goldener Ring. Gut das ich mir so was nicht anhören muss., stellte er fest und seine Laune besserte sich ein wenig. Ein leichtes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Zwei Jahre waren jetzt schon seit seiner letzten festen Beziehung vergangen. Klar waren immer mal wieder ein paar kleine Liebschaften dabei, doch etwas richtig festes, das war nichts für ihn. Lieber genoss er es sich an niemanden binden zu müssen. Sein Leben einfach so zu leben wie er es wollte, ohne auf irgend jemanden Rücksicht zu nehmen. Frauen,... Ohne sie wäre doch alles viel leichter! Der Mann im Auto nebenan tat ihm schon ein wenig Leid. Seine Frau machte keine Anstalten mit ihrem Theater aufzuhören. Ihre Augen schossen Blitze und ihr Mann versank immer mehr in seinem Sitz. Wie oft hatte Allan sich solchen Streitereien aussetzen müssen? Immer wieder dieselben Probleme und Zickereien. Nie konnte man sich einigen. Das Frauen auch immer so stur sei müssen! Allan schüttelte den Kopf und bemerkte, wie sich der Verkehr vor ihm allmählich lichtete. Er überließ dem Ehepaar ihren Problemen und fuhr davon. Sein neues Navigationssystem führte ihn sicher durch seinen neuen Wohnort. Baltimore! Allan versuchte sich die ersten Gebäude und Straßennamen einzuprägen, während sein Wagen vor seinem neuen zu Hause langsam zum stehen kam. Er hatte sich absichtlich etwas Abgelegenes ausgesucht. Ein Ort wo man sich zurücklehnen kann und nicht durch den Lärm der Stadt belästigt wird. Die Tenningstreet war einfach ideal für ihn. Vor ihm erstrahlte sein frisch renovierte Haus und die Maklerin empfing ihn mit einem höflichen Lächeln.
"An den Verkehr hier in Baltimore muss ich mich erst noch gewöhnen", entschuldigte sich Allan und begrüßte die Maklerin mit einem freundlichen Händedruck.
"Guten Tag Herr Johnson, schön dass sie es noch geschafft haben. Kommen wir also gleich zur Sache. Sie haben sich ja bereits für dieses Haus entschieden. Von denen gibt es in dieser Stadt sehr wenige, sie haben Glück! Ich habe auch schon alle Formalitäten vorbereitet, es fehlt nur noch ihre Unterschrift.". Mit diesen Worten zückte die Maklerin ihren Kugelschreiber und reichte Allan die Dokumente.
Allan war wirklich froh, als die Maklerin ihn allein lies. Endlich ein Moment der Ruhe! Morgen würden auch die letzten Sachen aus seiner alten Wohnung in New York hierher gebracht werden und dann würde endlich ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Bei dem Gedanken an seinen alten Wohnungsort zuckte er innerlich zusammen und versuchte, schnellstmöglich Anderes in den Kopf zu kriegen. So schlenderte er durch die leeren Räume und allmählich wuchs die Vorfreude auf seine neue Arbeit in der John-Hopkins Klinik. Seine Vergangenheit konnte er nun ein für alle mal hinter sich lassen. Viel länger hätte er es in New York nicht mehr ausgehalten. Glücklicherweise war man als Chirurg überall sehr gefragt und da Baltimore durch hohe Kriminalitätsraten nicht genug Ärzte beschäftigen konnte nahm man ihn hier gerne auf. Es war zwar kein glorreicher Arbeitsplatz, trotzdem konnte er es kaum erwarten!
Wie wohl seine neuen Kollegen so sind? Was man wohl von Ärzten einer so verkommenden Stadt zu erwarten hat? Spätestens morgen würde er es wissen. Aber vorher gab es noch so viel zu organisieren! Sein Hab und Gut musste nach Baltimore, Chefarzt Dr. O´Connor erwartete ihn morgen, die alte Wohnung musste verkauft oder weitervermietet werden, seine Freunde brauchten seine neue Adresse und, und, und..Also machte sich Allan gleich auf in das nahe gelegene Hotel, was ihm als Aufenthaltsort diente bis er einzog.
Baltimore war nicht sonderlich schön. An den grauen Hausfassaden sammelten sich Berge von Müll und die vielen betagten Gebäude der Stadt hatten dringend eine Renovierung nötig. Früher florierte hier die Industrie, vor allem die Werften. Doch mit der zunehmenden Automatisierung setzte jener Niedergang ein, der alles kaputt machte: Es gab wenig Arbeit und die Bevölkerungszahl sank. Doch für all das hatte Allan kein Auge. Er war in Gedanken schon an seinem neuen Arbeitsplatz.
Kapitel 3
„Guten Morgen mein Schatz“, mit sanfter Stimme weckte Jill die kleine Colleen. Für sie war es immer noch unfassbar, dass ihre süße Tochter nun schon zur Schule ging. Die Zeit verlief einfach viel zu schnell und schon der erste Elternabend stand kurz bevor. Jill bekam ein ungutes Gefühl bei diesem Termin. Alle würden als Paar erscheinen, Vater und Mutter so wie es sein sollte. Nur Jill, sie würde alleine ankommen. Ihre Tochter ohne einen Vater aufwachsen zusehen, dass tat ihr weh.
„Mama was gibt’s denn zum Frühstück?“, Colleens Stimme holte Jill aus ihren Tagträumen. Das kleine Mädchen stieg aus dem Bett und fing an sich anzuziehen. Ihre dunklen Locken fielen gerade noch auf ihre zarte Schulter.
Sie hat die Haare ihres Vaters.
„Ich hatte an Pancakes gedacht, was hälst du davon?“.
Mit einem kurzen Nicken ging Colleen noch etwas wackelig auf den Beinen in die Küche und setzte sich an den Esstisch.
Jill öffnete den Kühlschrank, holte die Flasche mit dem Teig heraus und fing an die Pancakes zu backen.
„Ich habe mit Evas Mutter gesprochen, sie holt euch heute von der Schule ab und passt so lange auf dich auf, bis ich von der Arbeit komme.“ Jill versuchte diesen Satz so locker wie möglich rüber zu bringen, aber ein schlechtes Gewissen machte sich in ihrem Innerem breit. Durch die vielen Überstunden und Notfälle hatte sie in den letzten Tagen nur wenig Zeit mit ihrer Tochter verbringen können. Ihr war klar, dass sich das so schnell wie möglich ändern müsste.
Colleen zeigte keine auffällige Reaktion und aß still schweigend ihr Frühstück, während ihre Mutter am Herd überlegte, was sie in der Klinik wohl als erstes tun müsste.
„Wir müssen bald los Mama!“, erst jetzt beachtete Jill die Uhrzeit.
„Du hast Recht! Schnell, zieh deine Schuhe an und schnapp dir deine Schultasche! Das Schulbrot kaufen wir unterwegs.“ Hektisch liefen beide zum Wagen und machten sie auf den Weg zur Schule.
„Guten Morgen Mister Johnson, es freut mich sehr sie in unserem Team begrüßen zu dürfen.“, mit einem freundlichen Lächeln begrüßte Dr. O´Connor den frisch eingetroffenen Allan. Nun hatte er also begonnen, der erste Tag seines neunen Lebens. Hier in Baltimore kannte ihn Niemand. Es war ein kompletter Neuanfang. Neugierig betrachtete er die Klinik.
„Aus dem Weg, Aus dem Weg! Vorsicht ein Notfall!“. Alles kam ihm bekannt vor und doch war es etwas vollkommen Anderes. Natürlich war die John-Hopkins Klinik nicht mit den Krankenhäusern in New York vergleichbar, aber genau so wollte er es ja. Einen Schlussstrich ziehen unter all das, was sich in der Vergangenheit so alles abgespielt hatte. Eilig folgte er den schnellen Schritten seines neuen Vorgesetzten. Es wunderte ihn, dass dieser trotz des hohen Alters noch so zügig unterwegs war.
„Ich hoffe sie werden sich schnell bei uns einleben.“, sprach der alte Mann und schenkte Allan einen kurzen musternden Blick.
„Da wird es keine großen Probleme geben, denke ich. Ich bin ein sehr genügsamer Mensch.“ Allan versuchte sich von seiner besten Seite zu geben. Nur alles richtig machen!
„Das freut mich,“ erwiderte Dr. O. Connor kurz angebunden und führte ihn geradewegs in einen großen Raum. Da standen sie nun, direkt vor ihm, seine neuen Arbeitskollegen. Sofort viel ihm die Frau mit den strahlend blonden Haaren auf, die locker um ihr schönes Kinn umspielten. Wenn das mal nicht etwas für mich ist, dachte er sich amüsiert und schenkte ihr ein kurzes Augenzwinkern.
„Darf ich vorstellen“, unterbrach in Dr. O. Connor in seinen Gedanken, „Das Team, Dr. Deems und Dr. Tenner unsere Chirurgen, Dr. Sullivan die Anästhesistin, Schwester Sue und unsere Oberschwester Mary, die gute Seele das Hauses. Meine Damen und Herren, unser neuer Chirurg Dr. Allan Johnson!“
Neugierig begutachtete Allan all die neuen Gesichter. Die blonde Frau schaute ihn skeptisch an. Sie stand wohl nicht so auf einen kleinen Flirt zwischendurch. Doch dies hinderte ihn nicht im Geringsten daran, sie näher zu begutachten. Ihre zierliche Figur ließ sie zerbrechlich wirken, doch ihre tiefbraunen Augen strahlten ein gewisses Selbstbewusstsein aus. Über ihren Lippen saß ein kleiner Leberfleck, und wenn sich lächelte dann hatte er eine herzförmige Form.
„Ich hoffe es stört sie nicht wenn ich sie schon sofort in der ersten Woche komplett einspanne?“, Dr. O´Connor wendete sich an Allan, der von allen Personen im Raum aufmerksam gemustert wurde.
„Nein, nein! Ganz und gar nicht. Ich bin ja nicht zum Vergnügen sondern zum arbeiten hier.“
„Das ist die richtige Einstellung!“, entgegnete Dr. O´Connor freudig und fuhr fort:„ Wir haben viel zu tun! In dieser Woche werden sie zusammen mit Dr. Tenner ein Team bilden. Sie kümmern sich um einen besonderen Fall: Letzte Woche wurde ein junges Mädchen mit einem Gehirntumor eingeliefert. Der Tumor ist noch nicht so weit fortgeschritten, als das es keine Rettung gäbe, allerdings werden durch ihn die Gehirnnerven eingeklemmt, was ein Nervenkompressionssyndrom hervorrufen kann! Sie wissen was das bedeutet, ich bitte sie also möglichst schnell eine Operation durchzuführen. Die Patientin klagt auch über Schmerzen, wahrscheinlich eine Neuralgie, aber das müssen sie selber untersuchen!" O´Connor machte eine kleine Pause. "Hier, die Akten der Patientin. Viel Erfolg"
Möglichst lässig nahm Allan die Akten entgegen.
„Ich denke, dass wird gar kein Problem für mich sein! Sie haben mit mir die richtige Wahl getroffen. In New York habe ich so etwas ständig gemacht! Reine Routine.”, er legte ein selbstbewusstes Grinsen auf, was ihm ganz gut gelang und wendete sich zu seinen Kollegen.
Jill war sprachlos. Hatte sie das richtig verstanden? Noch ehe sie weiterdenken konnte sprach der Chefarzt weiter:"Da bin ich ja beruhigt. Dr. Deems, sie werden diese Woche mit mir zusammen arbeiten. Ein alter Kriegsveteran, in seinem Bein befindet sich noch eine Kugel, die dringend entfernt werden muss. Der Mann ist etwas eigensinnig, deshalb hoffe ich auf ihre hoch gerühmte Einfühlsamkeit. Am besten machen wir uns gleich auf den Weg um die Operation mit dem Mann zu besprechen.”, sagte er und verließ mit der entsetzten Jill vor sich herschiebend den Raum.
Jill konnte es nicht fassen! Noch so ein arroganter Trottel der sich groß aufspielen muss! Wütend schmiss sie ihre Unterlagen auf die Couch im Bereitschaftszimmer. Als wenn wir davon nicht schon genug hier hätten! Und der eine, der nicht gleich jedes weibliche Wesen in diesem Krankenhaus anbaggert ist auch noch mit dem Idioten in einem Team! Wir waren doch immer so gute Partner! Zusammen waren wir unschlagbar! Und dieser Möchtegern-Arzt muss mir alles kaputt machen! Und dieses Augenzwinkern zeigt ja schon alles!
Missgelaunt versuchte sich Jill auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Gleich würde O´Connor mit dem Kaffee zurückkommen und da musste alles in bester Ordnung sein. Was für eine Ehre mit dem Oberarzt die Arbeit zu machen! War sie denn hier das kleine Mädchen was noch betreut werden musste? Der Fall war jetzt doch nun wirklich nichts, worauf sie sich nicht alleine hätte vorbereiten können!
In ihrer miesen Laune bemerkte sie nicht, wie der Chefarzt ins Zimmer kam.
„Dr. Deems, haben sie sich bereits in die Akten eingelesen?“ Jill nickte. Sie war auf alle wütend! Auf Dr. O´Connor, der ihr nicht Joe zugeteilt hatte, auf Joe selber, weil er einfach nichts zu dieser Situation gesagt hatte und natürlich dieser selbstgerechte Johnson! Aber mal wieder musste sie ihren Ärger unterdrücken und die liebe Kollegin mimen.
“Wunderbar! Legen sie die Arbeit doch für einen Moment beiseite. Ich will ihre Einschätzung: Was halten sie von unserem neuen Kollegen Dr. Allan Johnson?“ Jill spürte wie sich ihren Körper anspannte. Verzweifelt versuchte sie die richtige Worte zu finden.
“Er scheint sehr erfahren zu sein. Bestimmt ist er eine Bereicherung für unser Team.“
„Genau das habe ich mir auch gedacht! Ich denke er kann uns gut behilflich sein, dieses Krankenhaus braucht dringend neue Gesichter, die Fortschritt mit sich bringen!“ Dr. O´Conner klang heiter wie lange nicht mehr. Waren die jetzt alle vollkommen blind? Sowas egozentrisches soll eine Bereicherung sein?
„Gut dass ich mich auf ihren Rat verlassen kann! Was sagen sie zu unserem Kriegsinvaliden? Eine Idee?“
Jill riss sich zusammen um Schlimmeres zu verhindern.
“Na ja, der Fall ist ja nicht besonders anspruchsvoll. Das Gehen wird durch die Kugel wenig beeinträchtigt, also können wir eine Amputation vermutlich ausschließen. Trotzdem sollten wir das Bein gründlich untersuchen um Komplikationen zu vermeiden.“ O´Conner nickte.
„Wie immer nachvollziehbar! Gut! Ich denke, sie kriegen das auch allein hin.“ Der Oberarzt drehte sich zur Tür und wollte gehen. Jill lächelte selbstbewusst.
„Und falls sie doch noch Fragen haben,“ er drehte sich noch einmal um „fragen sie doch unseren neuen Kollegen, ich bin sicher er kann ihnen behilflich sein.“.
Kapitel 4
„Mama, wo warst du denn gestern? Warum musste ich bei Eva übernachten?“ Colleen konnte ihre tiefe Enttäuschung nicht verbergen. Warum hatte ihre Mutter sie nicht abgeholt? Früher hatten sie viel öfter Zeit gemeinsam verbracht. Sie saß auf dem Beifahrersitz neben ihrer Mutter, die ihre Tochter in der Mittagspause von der Schule abgeholt hatte. „Entschuldige mein Schatz, ich musste noch arbeiten und hab Evas Mutter angerufen. Im Moment ist es gar nicht so einfach im Krankenhaus..“ Jill versuchte sich zu rechtfertigen, doch Colleen machte keine Anstalten ihren traurigen Gesichtsausdruck aus dem kleinen Gesicht verschwinden zu lassen. Langsam kamen sie vor der Einfahrt zum stehen.
„Wann kommst du heute wieder?“
„Ich versuche so schnell wie möglich zu kommen! Hast du Lust auf eine Pizza heute Abend?“ Mit einem Lächeln versuchte sie ihre kleine Tochter etwas fröhlicher zu stimmen.
„Mhm...Na gut!“ Colleen konnte eine leichte Vorfreude in ihrer Stimme nicht verbergen. Jill atmete innerlich auf.
“Hör zu Colleen, ich werde mich heute wirklich beeilen! Tut mir Leid, dass es im Moment nicht so einfach ist. Aber wir beide schaffen das schon.“ Sie streichelte ihrer Tochter liebevoll über den Kopf. Sie war so ein einzigartiges Mädchen! Sie hatte eine zierliche Figur, wie fast jedes kleine Mädchen. Ihre braunen Haare fielen fast auf ihre Schulter und lockten sich ein wenig. Schaute man in ihr kleines Gesicht, so blickten einem große grüne Augen an und wenn sie lächelte, konnte man ihre kleine Zahnlücke erkennen. Für ihr Alter war sie außerordentlich intelligent.
„Versprochen?“
Jill lächelte. Konnte man diesem Blick wiederstehen?
„Ja, Indianerehrenwort!“ Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und Colleen strahlte.
„Mama weißt du was, ich hab was für dich!“ entgegnete sie und kramte in ihrer pinken Schultasche.
„Das hab ich selbstgemacht!“ Sie zog ein selbstgebasteltes Armband hervor und überreichte es freudestrahlend ihrer Mutter. Jill war gerührt. Hatte sie das verdient?
Nachdem sie Colleen zu ihrer Tagesmutter gebracht hatte, fuhr Jill wieder zur Klinik. Das Geschenk ihrer Tochter aus geflochtener Wolle lag um ihr Handgelenk. Je näher Jill ihrem Arbeitsplatz kam, desto mehr entfernte sich Colleen aus ihren Gedanken. Heute würde sie die Kugel aus dem Bein entfernen. Sie hatte beschlossen, dass sie am Tag zuvor doch etwas überreagiert hatte. Vielleicht war Dr. Johnson gar nicht so übel! Sie musste sich eingestehen, dass er etwas an sich hatte, was sie faszinierte. Aber was? Was auch immer es war, sie versuchte sich auf ihre bevorstehende OP zu konzentrieren, während sie auf ihren Parkplatz vor der Klinik fuhr.
Begrüßt wurde sie von Mary, die ihr in der vollen Eingangshalle entgegen kam.
„Jill, Schätzchen bist du bereit für den Eingriff?“
„Klar! Das wird schon.“ Selbstsicher nahm sie die Krankenakte entgegen und gemeinsam gingen sich durch den linken Korridor in den OP-Bereich, bis Mary nach links in ein Krankenzimmer ging um einen Patienten die Verbände zu wechseln.
Jill ging weiter um sich nach Joe umzusehen. Wo steckte er bloß? Sie fragte Christine, doch auch die zuckte nur mit den Schultern. Wär ja auch mal was Neues, wenn sie was wüsste. Leider lief die Zeit schneller vorbei als sie wollte und sie musste ihre Suche abbrechen, um sich für die OP fertig zu machen und um den alten Patienten in den OP-Raum zu begleiten.
Die OP verlief wie erwartet gut, es war keine große Sache. Joe und dieser Dr. Johnson sind bestimmt noch mit ihrem Eingriff beschäftigt. Jill fühlte, wie langsam wieder der Zorn in ihr aufstieg. Sie versuchte es zu unterdrücken, schließlich wollte sie dem Neuling eine Chance geben. Doch ein ungutes Gefühl im Bauch blieb. Sie ging in Richtung Mensa, um dort auf Joe zu warten. Noch bevor sie den großen Raum erreichte hörte sie schallendes Gelächter. Sie betrat die Mensa und sah gleich ihren Stammtisch. Joe und Allan saßen dort, lachten und gestikulierten wild durcheinander. Sie unterhielten die gesamte Belegschaft. Jill war leicht verunsichert, ließ sich aber nichts anmerken und machte ein paar Schritte in Richtung des Tisches.
„Los Allan erzähl uns noch einen!“, lachend redete Joe auf Allan ein und hoffte auf einen weiteren Witz von ihm. „Okay, aber nur noch einen: Warum brauchen Frauen keine Beine?", Für kurze Zeit machte sich eine unruhig Stille in der Mensa breit. Jeder wartete auf die hoffentlich bald kommende Antwort.
„Weil man keine Beine braucht um von der Küche ins Bett zu kommen!. ", schallendes Gelächter brach aus.
"Und warum hat sie trotzdem welche?“ Alles wartete.
"Damit sie nicht so hässliche Schleimspuren auf dem Linoleum hinterlassen.". Allan hatte es wieder einmal geschafft die männlichen Kollegen vollkommen auf seine Seite zu ziehen.
Schockiert schaute Jill in seine Richtung. Das darf doch nicht wahr sein! So ein arroganter Idiot! Und ich dachte er kann noch anders. Seit sie in der Klinik als Chirurgin angefangen hatte, war es ihr Ziel in dieser Männerdomäne respektiert zu werden. Nach einigen Monaten hatte sie es endlich geschafft, alle von sich zu überzeugen. Das war nicht leicht. Und nun kommt so ein aufgeblasener Großstadtarzt her und macht mir alles kaputt. Zornig bahnte sich Jill den Weg zu Allan. Sie versuchte ihn nicht zu beachten, nur schwer konnte sie ihre wirklichen Gedanken unterdrücken.
„Hey Joe! Wo warst du denn, ich hab dich gesucht!“
„Jill, gut das du kommst. Kennst du schon den hier:Was ist schwerer zu bauen, ein weiblicher oder ein männlicher Schneemann?... Ein weiblicher, denn da muss man den Kopf aushöhlen!“ Er lachte. Und mit ihm alle anderen. Auch Allan lachte herzhaft, aber seine Selbstgefälligkeit überstrahlte selbst den schönen Gesichtsausdruck. Darüber konnte Jill bei aller Freundschaft wirklich nicht lachen und sie schenkte ihm einen vernichtenden Blick. Er sah sie nur provokant an und Jill fühlte sich hilflos, was sie noch wütender machte.
„Was für ein idiotischer Spruch...“, das war das Einzige, was sie über ihre Lippen brachte. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf Absatz kehrt und verließ den Raum mit aller Würde, die sie noch aufbringen konnte. Sie spürte die fragenden Blicke in ihrem Rücken und versuchte so gut es ging ihre Sprachlosigkeit zu verbergen. Sobald sie um die Ecke gebogen war, brachen die letzten Reste der Fassade in sich zusammen. Zornig schmiss Jill ein paar Handtücher vom Rollwagen und marschierte in Richtung Bereitschaftszimmer. Sie knallte die Tür lautstark zu und spürte das kaum zu bändigende Verlangen die Tischlampe gleich hinterher zu schmeißen. Idiot! Sowas passt mal wieder ganz fabelhaft! Egozentrischer Macho der glaubt sich alles erlauben zu können. Und mit sowas muss ich womöglich für immer meinen Arbeitsplatz teilen! Aufgewühlt setzte sich Jill auf das alte Sofa und versuchte klare Gedanken zu fassen. Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Tür.
„Hey Jill,“ Christines hübsches Gesicht lugte aus der Tür. „Gönnst du dir auch ne Pause?“ Jill nickte. Eigentlich war sie an keinem Gespräch interessiert, schon gar nicht mit Christine, die sich für das Maß aller Dinge hielt. Das kann ja was werden!
„Kennst du schon diesen Neuen? Du hast doch bestimmt schon mit ihm geredet!“
„Meinst du diesen Johnson?“ Jill machte keine Anstalten ihren Missmut zu verbergen.
„Ja! Genau! Oh man,..hast du diese Augen gesehen?“ begann die Anästhesistin zu schwärmen und setzte sich zu Jills Leidwesen neben ihr auf das Sofa.
„Meinst du er steht auf mich?“
„Komm schon Christine, er war jetzt noch nicht mal zwei Tage hier. Bevor er sich in dich verlieben kann solltest du ihn vielleicht erstmal ansprechen!“ Genervt blickte sie zur Seite. Christine war schlimmer als zehn Krankenschwestern die drei Stunden lang in einem Zimmer eingeschlossen wurden.
„Schonmal was von Liebe auf dem ersten Blick gehört? Vielleicht gehört er ja zu den Typen die an so was glauben.“ Christine nahm ihren roten Lipgloss aus der Tasche und zog damit ihre Lippen nach. „Wie auch immer, bis jetzt hat es noch kein Mann geschafft diesen Lippen zu wiederstehen.“ Sie blickte zu ihrer Kollegin und formte einen Kussmund.
Wie lächerlich! Verächtlich verzog sie ihr Gesicht. „Du benimmst dich wie eine verwöhnte Göre die nichts besseres zu tun hat als jedem halbwegs gut aussehenden Mann hinterher zu laufen!“ Und da war es wieder. Jedes Mal wenn sie versuchten sich anständig zu unterhalten ging das nach hinten los.
„Tss, und du bist einfach nur zu bemitleiden! Ich hab ja schon geahnt, dass du neidisch auf mich bist, aber das du es dann noch so offensichtlich zeigst hätte ich nicht gedacht!“
Jill gab sich unbeeindruckt. Es war immer wieder dasselbe. Oft hatte sie versucht Christine näher kennen zu lernen, sich mit ihr zu unterhalten oder etwas mit ihr zu unternehmen. Aber ihr Wesen war Jill so suspekt, dass sie es irgendwann aufgab. Nicht nur ihr gingen Christine´s Zickereien und ständigen Liebschaften auf die Nerven und so hatte sie in Joe einen Verbündeten gefunden, worüber sie wirklich glücklich war.
Dieser war aber gerade mit Allan beschäftigt, was Jill dazu zwang alleine mit Christine fertig zu werden.
"Träum weiter! Ich für meinen Teil konzentriere mich jetzt auf das, wofür ich bezahlt werde. Das würde dir zur Abwechslung auch mal ganz gut tun." Jill stand auf und ließ die sprachlose Anästhesistin alleine zurück.
Sie blickte auf ihr Armband, was lose ihr Handgelenk umspielte.
Endlich Feierabend, dachte sich Allan, stieg in sein Auto und fuhr los. Um zwanzig Uhr musste er bei seinen Eltern in Annapolis erscheinen, denn das allmonatliche Familienessen stand an. Er hasste diese Art von Treffen. Alle versammelten sich im elterlichen Esszimmer und taten auf normale Familie. Jedes Familientreffen lief nach dem gleichen Schema ab. Allesamt saßen sie um den langen Esstisch, lobten das Festmahl seiner Mutter Emily und unterhielten sich über belanglose Dinge. Jeder versuchte sein eigenes Leben in den Mittelpunkt zu rücken um allen Anwesenden zu verdeutlichen wie glücklich er doch damit sei. Genauso wird es auch dieses mal wieder verlaufen. Allan parkte sein Auto vor seinem Haus, stieg aus und marschierte Richtung Haustür. Sobald er den Flur betrat, stieg ihn der Geruch frischer Möbel in die Nase.
„Die Spedition hat es wohl endlich geschafft meine Sachen zu liefern“, murmelte er und betrat seine fabrikneue Küche. So habe ich es mir vorgestellt. Ein warmes Gefühl machte sich in seinem Inneren breit. Zum ersten Mal fühlte er sich in seiner neuen Umgebung ein kleines bisschen zu Hause. Er schlenderte durch den Raum und versank in Tagträumen. Als er aus dem Küchenfenster schaute, vielen ihm zwei kleine Jungen auf. Völlig unbeschwert spielten sie auf der Straße Fußball und genossen die letzten, warmen Sonnenstrahlen die der Herbst ihnen gab. Allan fing an in eigenen Kindheitserinnerungen zu schwelgen. Wie oft hatte Emily mit ihm geschimpft, wenn er wieder einmal mit einer zerissenen Hose nach Hause gekommen war.
„Du weißt doch genau, dass du nicht im Dreck spielen sollst“, hatte sie dann immer gesagt. Doch wie jeder kleine Junge hatte auch Allan genau diese Spiele geliebt. Er liebte es mit den anderen Kindern Fußball zu spielen oder sich wegen Süßigkeiten zu raufen. Leider bemerkte er immer wieder, dass es genau diese Momente waren die es in seiner Kindheit viel zu wenig gab. Als Sohn einer angesehenen Familie hatte er es nicht immer leicht gehabt.
„Sitz gerade am Tisch, binde deine Krawatte richtig, benimm dich gefälligst anständig“. Diese Sätze waren es, die Allan täglich zu hören bekam und die er nicht ausstehen konnte. Er war es immer wieder gewesen, der versucht hatte aus dem perfekten Leben seiner Familie auszubrechen. Allan wollte sich einfach nicht vorstellen das alte, spießige Leben seiner Eltern zu führen. Genau deshalb hatte er den Ruf des schwarzen Schafes. Seine Brüder Matthew und Jonathan kamen ganz nach seinem Vater. „Was haben wir nur falsch gemacht“, hatte sich seine Mutter manchmal gefragt. Allan liebte diesen Satz. Er gab ihm die Bestätigung endlich anders zu sein als seine Familie. Aus dem ewigen Kreis der „guten Manieren“ ausgebrochen zu sein. Das schlagen der Standuhr holte in aus seinen Träumen.
„Schon sieben Uhr“, hektisch lief Allan in sein Badezimmer, sprang unter die Dusche und machte sich fertig fürs Essen.
„Du bist wie immer zu spät“, mit einem ernsten Blick begrüßte George seinen jüngsten Sohn.
„Ich musste länger Arbeiten als geplant, tut mir Leid Vater.“, sagte Allan ging, am Herrn des Hauses vorbei und betrat die große Eingangshalle. Der vertraute Geruch reizte seine Nase und Allan suchte nach einem Taschentuch, während er durch den langen Flur in Richtung Esszimmer ging. Sofort schlug ihm die kühle Atmosphäre wie ein eisiger Windhauch entgegen. Da saßen sie nun alle, genau wie immer. Neben Matthew und Jonathan saßen ihre frisch angetrauten Frauen Sally und Kira.
„Allan da bist du ja endlich, wir haben schon alle auf dich gewartet“, mit einem strengen Blick begutachtete seine Mutter ihn.
„Was hast du denn da schon wieder an? Du weißt doch genau das ich es mag, wenn du dich zum Essen etwas schicker machst.“
Langsam sollten sie wissen, dass ihr Gerede sowieso nichts bringt.
„Setz dich jetzt endlich an den Tisch, wir haben schon lange genug gewartet“, kritisch beobachtete George seinen Sohn und ließ sich am Ende der Tafel nieder. Emily trug das Essen auf. Wie immer gab es Schweinebraten mit Rosmarinkartoffeln und grünen Bohnen im Speckmantel.
„Erzähl mal Bruderherz, wie ist es denn so in Baltimore? Hast du dich schon eingelebt?“, interessiert schaute Matthew zu seinem Bruder.
„Ich hatte heute erst meinen zweiten Arbeitstag, aber es gefällt mir! Ich habe gleich einen der momentan schwierigsten Fälle abgesahnt!“. Mit einem kurzen Lächeln versuchte er Matthew von seiner Aussage zu überzeugen.
„Hoffen wir mal, dass du deinen Job dieses Mal länger verteidigen kannst.“, fügte sein großer Bruder Jonathan mit einem überheblichen Lächeln hinzu. Dieses Verhalten kannte Allan nun schon allzu gut. Soweit er sich zurück erinnern konnte, war es immer wieder Jonathan gewesen, der ihn bei seinen Eltern schlecht gemacht hatte. Sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken, dass war seine große Stärke.
„Du weißt doch, dass das Medizinstudium generell über-bewertet wird“, hatte Jonathan zu ihrem Vater gesagt, als Allan ihnen damals von seinen Zukunftsplänen berichtet hatte. Immer wieder war es sein Anliegen, seine beiden Brüder in den Hintergrund zu befördern um selber als großer Träger der Familienehre dar stehen zu können. Allan konnte diese nur Recht sein, er hatte die Lebensweise von seinen Eltern schon zur damaligen Zeit nicht unterstützt. Doch Matthew litt sehr unter dieser Zurückweisung. Oft hatte er versucht durch seine Aufopferung, sei es nun im Berufs- oder Familienleben, die Aufmerksamkeit seinen Vaters zu erlangen und nur einmal in seinem Leben über seinen großen Bruder Jonathan zu stehen. Doch immer scheiterte dieser Plan schon in den Ansätzen. Als er sich entschlossen hatte Wirtschafts-management zu studieren um die Firma seines Vaters zu übernehmen, hatte er noch nicht geahnt, dass Jonathan ihm schon längst zum Verkauf geraten hatte. Matthew hatte sein Leben ganz nach dem Ziel die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen, ausgerichtet.
„Matthew, wie läuft es denn so in deiner Firma? Schreibst du jetzt endlich einmal grüne Zahlen?“, Jonathan wandte sich zu seinem jüngsten Bruder.
„Ja, seit einem Monat erwirtschaften wir Profit. Ich hoffe nur, dass die Wirtschaftskrise uns nicht allzu sehr zu schaffen macht.“
„Ich habe diese Krise schon lange im Voraus geahnt. Meine Firma ist auf der sicheren Seite.“, selbstgefällig blickte Jonathan in die Runde. George nickte anerkennend. Allan merkte, wie sich die Wut in seinem Bauch anstaute. Er verabscheute es, wie sein großer Bruder nach Beachtung gierte, und das auf Kosten von Matthew. Obwohl die beiden nie ein besonders inniges Verhältnis hatten, fühlte sich Allan in bestimmten Situationen für seinen kleinen Bruder verantwortlich.
„Allan sag mal“, sprach seine Mutter Emily. „Ist es nicht langsam Zeit, sich eine Frau fürs Leben zu suchen? Du bist jetzt schon 33 Jahre alt und erst einmal durften wir eine deiner zahlreichen Freundinnen kennen lernen.“
„Mutter, 33 ist doch noch kein Alter! Außerdem habe ich als Arzt nicht wirklich Zeit, mich auch noch um eine Frau mit all ihren Raffinessen zu kümmern. Die ständige Schichtarbeit im Krankenhaus unterstützt mein Liebesleben auch nicht besonders.“
Als Allan seine Gesprächspartner begutachtete, bemerkte er die ungläubigen Blicke in der Runde.
„Allan, ich leite meine eigene Firma!“, begann Jonathan. „Du kannst dir bestimmt denken, dass dies ein Vollzeitjob ist. Ich habe keine Schichten nach denen ich mich richten kann. Trotzdem habe ich es geschafft, mir eine Frau zu suchen und eine Familie zu gründen.“ Stolz blickte er auf seine Frau Sally, die ihn liebevoll anlächelte. Entnervt stocherte Allan in seinem Braten herum.
„Klasse Bruder! Super das du so erfolgreich bist. Aber lass mich mein Leben leben, dann sind wir beide glücklich!“ Warum bestanden seine Eltern eigentlich auf diese veraltete Tradition? Das Einzige, was dabei herauskam waren nur noch mehr Streitigkeiten.
„Da hat Jonathan aber Recht, du kannst doch nicht bis ins Rentenalter dein Junggesellenleben leben!“, mischte Emily sich ein. Sie hatte immer etwas am Gespräch beizutragen, ob man es wollte oder nicht. Kira und Sally schauten betreten auf ihr Essen. Für sie war die Sache äusserst peinlich, aber niemand achtete darauf. Allan war mal wieder auf sich allein gestellt. Er hatte ja nicht erwartet die pure Harmonie vorzufinden, aber das war echt zu viel.
„Ich bin glücklich mit meinem Leben, so wie es jetzt ist! Warum gönnt ihr mir nicht wenigstens das? Ich bin nicht so wie ihr, das stimmt. Aber so will ich auch nicht sein!“ Allan nahm die schockierten Blicke der anderen Anwesenden war, die mit voller Wucht auf ihn prallten. Doch er blieb standhaft, denn endlich hatte er es geschafft das auszusprechen, was ihn schon jahrelang gestört hatte. Es tat ihm beinahe gut.
„Wie redest du eigentlich mit deiner Familie?“, mit einem entrüsteten Blick sah Emily ihren Sohn an.
„Ich bin diese ewige Schauspielerei satt! Jeden Monat dieses Familienessen, jeder spielt brav seine Rolle und Niemand wagt es auch nur ansatzweise aus diesem Schema auszubrechen.“
„Das reicht!“ George unterbrach wütend das Gespräch. Seine Lippen formten bereits aufgebracht den nächsten Satz, doch Allan kam ihm zuvor.
„Du hast Recht Vater. Es reicht.“
Langsam schob er seinen Stuhl vom Tisch, stand auf und ging in Richtung Haustür. Sein Herz schrie danach sich um zudrehen, oder auf eine Reaktion seiner Familie zu warten, doch er zwang sich dazu weiter voran zu gehen.
Nichts. Niemand rief nach ihm.
Also ließ Allan seine Sippschaft allein und schloss die Tür hinter sich.
Kapitel 5
Jill war die Lust an ihrem Job in den letzten Tagen vollkommen vergangen. Allan, er bestand darauf von allen beim Vornamen genannt zu werden, war ein wahrer Entertainer. Zu jeder Aktion viel ihm ein lässiger Spruch ein, doch irgendwie waren seine Späßchen für Jill alles andere als komisch. Das wäre ja alles halb so schlimm, wenn es da noch jemanden gäbe, der sich zusammen mit ihr darüber lustig machen könnte. Schon immer war John dieser Jemand gewesen, aber das war nun vorbei. Die beiden waren fast wie Mädchen, dachte Jill. Es gab fast nichts, was sie nicht zusammen unternahmen, keinen Ort wo man sie alleine sah und niemanden, der nicht durch ihre Scherze aufs Korn genommen wurde. Langsam hatte Jill es satt zu versuchen, Joe an ihre Front zu ziehen. Es war sowieso hoffnungslos. Hinter Allans Rücken gestand man ihm von allen Seiten etwas zu viel Selbstbewusstsein ein, doch war Jill die Einzige, die sich nicht mit seinem Wesen anfreunden konnte. Sogar Mary war ihm nicht feindlich gesinnt und sprach manchmal in höchsten Tönen von ihm. Hatte sie vielleicht doch ein falsches Bild von ihm? Das fragte sie sich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit, doch wenn sie die Klinik betrat und ihn sah, verflogen ihre Zweifel wie ein Schwarm Vögel auf dem Weg in den Süden. So wird es dieses Mal auch sein. Ganz sicher. Sie schloss ihr Auto ab und machte sich auf in die Caféteria. Gestern war es ihr gelungen, Joe zu einem gemeinsamen Frühstück zu bringen. Trotz ihrer Verabredung überraschte es Jill, dass ihr bester Freund einsam an einem Tisch saß und auf sie wartete.
„Hey Jill,“ sagte Joe als er sie bemerkte. „Wie gewohnt unpünktlich“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu.
„Hallo Joe!“ Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und musterte ihn von oben bis unten.
„Was ist los?“, mit einem irritierten Blick schaute Joe zu seiner Kollegin. „Habe ich noch Zahnpasta an meinem Mund kleben oder warum betrachtest du mich so kritisch?“,
„Nein, wie kommst du denn auf so etwas?“
„Es Kam mir so vor als hättest du mich begutachtet, aber da habe ich mich wohl geirrt. Ich hole uns beiden erstmal einen Kaffee.“, mit einem lauten Quietschen schob Joe seinen Stuhl zurück, stand auf und schlenderte in Richtung Theke. Auf halben Wege drehte Joe sich um und rief:„Mit Milch wie immer?“, Jill nickte mit einem freundlichen lächeln und Joe setzte seinen Weg fort. In den letzten Tagen hatte Jill Joe nur selten alleine gesehen. Immer wieder begegnete er ihr mit Allan neben sich laufen und auf den hatte sie nun wirklich keine Lust. Innerlich fing Jill erneut an zu brodeln. Wenn ich schon diesen Namen höre kriege ich eine Krise. Wäre Allan doch nur in seinem großen, weiten New York geblieben, dachte sie sich.
„So ein Mist“, schon von weitem hörte sie Allan fluchen. „Warum muss Kaffee auch immer so heiß sein?“, mit schnellen Schritten kam Joe auf sie zu. Jill wunderte sich immer wieder aufs Neue wie so ein Tollpatsch wie Joe es geschafft hatte Chirurg zu werden.„Jill aus dem Weg! Der Kaffee verbrennt mir noch alle Finger!“
Jill schmunzelte. Immer wieder das gleiche Szenario.„Joe wie lange trinkst du jetzt eigentlich schon Kaffee? Eigentlich solltest du mittlerweile mitbekommen haben, dass Kaffee auch heiß sein kann.“
Mit einem resignierten Blick schaute Joe seine Kollegin an. „Das nächste Mal holst du denn Kaffee, dann werden wir ja sehen wie du dich so anstellst.“, mit einem leichten Grinsen versuchte Joe sich zurück an den Tisch zu setzen. Auch hier machte er seinem Spitznamen Tollpatsch alle Ehre. Nur mit Mühen schaffte er es seine langen, dünnen Beine unterhalb der Tischplatte zu verstauen. „Erzähl doch Mal Jill“, versuchte Joe ein Gespräch anzufangen. „Warum hast du dich in den letzten Tagen nicht mal blicken lassen?“, Jills entspannte Miene verschwand aus ihrem Gesicht, die Augen verloren ihr Strahlen, doch Joe schenkte der Veränderung keine größere Bedeutung.
„Die Frage ist wohl eher wo warst du? Warum hast du dich nicht einmal blicken lassen?“. Erst nachdem Jill diese Worte ausgesprochen hatte, begriff sie wie barsch ihre Antwort geklungen hatte. Er ist doch selber Schuld, wenn er mir solche Fragen stellt, versuchte Jill ihr eigenes Gewissen milde zu stimmen. Was lässt er sich auch von diesem Möchtegern Arzt einlullen? Irgendjemand muss ihn ja darauf aufmerksam machen.
„Jill, was ist denn eigentlich mit dir los? In letzter Zeit wirkst du total gereizt, ist mit Colleen alles okay? Du weißt doch, dass du zu mir kommen kannst, wenn dich etwas beschäftigt.“
Jill bemerkte, wie die Wut ihren Körper langsam zum glühen brachte. Warum lässt du dich von solchen Kommentaren eigentlich reizen?, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch es war zu spät. Die Worte flogen aus ihrem Mund, ob sie es wollte oder nicht.
„Wo warst du denn die letzten Tage immer? Ich konnte dich doch gar nicht mehr ohne diesen Allan erwischen. Es war doch gar nicht mehr möglich ein privates Gespräch mit dir zu führen ohne dein Anhängsel gleich neben mir stehen zu haben. Dann auch noch dieser Witz mit dem Schneemann, denkst du wirklich das ich über so etwas lachen kann Joe? Hast du das wirklich gedacht? Gerade du müsstest doch wissen wie lange ich gebraucht habe, bis ich endlich von euch akzeptiert wurde. Dann kommt dieser schlechte Witz und alle bewundern ihn und jeder mag ihn...Ich konnte darüber überhaupt nicht lachen! Woran könnte das wohl liegen? Vielleicht ist es ganz einfach die Tatsache, dass ich eine Frau bin Joe. Du kannst doch wohl wirklich nicht von mir verlangen, jemanden zu mögen, ja überhaupt zu respektieren, der solche Witze macht.“
Geschockt schaute Joe seiner Freundin ins Gesicht. Noch nie hatte er Jills Augen solche Funken sprühen sehen.
„Was ist denn auf einmal los mit dir? Seit Allan gekommen ist, hast du dich total verändert!“
„Mein Verhalten hat sich doch nicht geändert! Du bist derjenige, der sich verändert hat, Joe. Früher haben wir uns immer hier in der Mensa getroffen um gemeinsam zu essen und nun kommt dieser Großkotz aus New York und macht alles kaputt. Du beachtest mich überhaupt nicht mehr. Merkst du eigentlich gar nicht, wie er versucht einen Keil zwischen unsere Freundschaft zu treiben? Er drängt dich von mir weg Joe, dass ist es doch, was er will.“ In diesem Moment realisierte Jill, dass sie nun endgültig die Kontrolle über sich verloren hatte. Wie kannst du dich nur so gehen lassen? Früher hätte sie es nie soweit kommen lassen. Ständig hatte sie Bewunderung für ihre Ausgeglichenheit geerntet. Nun aber hatte es Allan auch noch geschafft sie ohne seine Anwesenheit aus der Reserve zu locken. So weit hat er mich also nun schon.
„Jill wie redest du eigentlich über Allan? Du kennst ihn doch überhaupt nicht! Denkst du eigentlich ich habe nicht gemerkt wie abschätzend du ihm begegnest? Auch wenn ich den Ruf eines Tollpatsches habe, bin ich trotzdem nicht doof!“ Langsam redete auch der sonst so ruhige Joe sich in Rage. Die wenigen Leute, die in ihrer Nähe saßen und ihr Frühstück genießen wollten, wendeten sich verwundert und verärgert ab. „Vielleicht solltest du die Fehler nicht immer bei anderen suchen, sondern auch einmal bei dir selber!“. Mit diesen Worten schob Joe laut quietschend seinen Stuhl nach hinten und verließ die Cafeteria mit schnellen Schritten.
Erst ein paar Minuten später schaffte es Jill ihre Fassung zurück zu gewinnen. Was fällt diesem Idioten eigentlich ein? Jetzt versucht er auch noch mir die Schuld für seine Fehler zu geben. Ich bin doch nicht der Sündenbock für alle! Jill knallte das Geld für das Frühstück auf den Tisch und verließ die Cafeteria. In dem Moment, in dem sie das kaum zu bändigende Verlangen verspürte die große Tür lautstark zu zu donnern, vernahm sie ein vertrautes Piepen aus ihrer Kitteltasche. Sie blickte auf ihren Pager:“Dr. Deems bitte sofort in die Notaufnahme!“ Das ist das, was ich jetzt vielleicht brauche. Noch völlig aufgewühlt ging sie eilig den langen Gang entlang.
„Hey, Jill! Kannst du mir vielleicht helfen?“ Christines schrille Stimme klang von hinten an ihr Ohr. Keuchend kam sie auf Jill zu, die es wirklich eilig hatte.
„Ich, ich wollte dich fragen, ob..“
„Christine, ich hab jetzt keine Zeit, man braucht mich!“ Sie wendete sich ab und setzte ihren Weg fort.
„Ihr Chirurgen seid doch alle gleich!“ Christine war empört einfach so stehen gelassen zu werden . „Haltet euch für was besseres und lasst andere die Drecksarbeit machen.“
Jill bliebt stehen. Typisch. Und sowas sagt diejenige, die sich für kleine Arbeiten zu schade ist.
„Ich muss in die Notaufnahme! Was gibt’s denn?“
„Ich habe die Protokolle des letzten Brustkrebspatienten irgendwo liegen lassen, obwohl ich sie Mary eigentlich schon längst..“
„Und wegen sowas hälst du mich auf?“ Jill hätte ihr am liebsten eine Ohrfeige verpasst, wie schon unzählige Male davor. Schnell drehte sie sich um und ließ Christine mit ihrem Problem allein. Sie hatte schon viel zu viel Zeit mit ihr vergeudet. Mary kam ihr schon von weitem entgegen.
„Jill, uns wurde ein neuer Patient eingeliefert. Weiblich, 71 Jahre alt und hat akute Beschwerden in ihrem linken Arm. Sie kann ihn nicht mehr bewegen und hat große Schmerzen. Die Kollegen von der Orthopädie sind ratlos und haben sie zu uns rüber geschickt. Wir sollten schnellstmöglich eine Diagnose stellen.“ Beide Frauen gingen in Richtung Notaufnahme.
„Okay, hatte sie in letzter Zeit einen Unfall gehabt?“
„Nein, die Schmerzen hatte sie schon seit längerer Zeit, wollte aber nicht zum Arzt gehen.“
„Dann möchte ich eine detaillierte Röntgenaufnahme des Brust- und Oberarmbereiches, außerdem des Thorax und der Halswirbelsäule .Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
„Allan hat sich bereits darum gekümmert. Er..“
„Was? Was macht der denn hier? Hat er heute nicht seinen freien Tag? Und was macht er überhaupt in der Notaufnahme?“ Was sollte das? Das ist meine Patientin! Immer muss sich dieser Idiot einmischen.
„Ich weiß nicht was er hier macht. Vielleicht will er einfach nur helfen. Heute ist hier ja auch die Hölle los! Auf jeden Fall war er gleich zur Stelle als die Patientin kam und hat die erste Anamnese gemacht. Wir haben auf dich gewartet, aber so lange konnten wir nicht untätig herum sitzen. Wir mussten davon ausgehen, dass der Arm im schlimmsten Falle amputiert werden muss, wenn wir jetzt nicht schnell handeln.“ Sie hatte Recht, das wusste Jill. Trotzdem ballte sie ihre Fäuste bei dem Gedanken daran, dass Allan wieder einmal seine Finger im Spiel hatte.
„Ich kann ihn nicht ausstehen Mary! Wo liegen diese Berichte und wo zum Teufel ist denn jetzt diese Patientin?“ Entnervt folgte sie der Schwester, die sie ins Zimmer der Patientin brachte. Mit einem geübten Blick überflog sie den Bericht und die Krankenakte. Ellis Grey...Lähmungen und Schmerzen im Oberarm, dazu auch noch sehr schlecht durchblutet. Allan kam ihnen entgegen.
„Jill, da bist du ja. Die Patientin ist noch bei den Röntgenaufnahmen. Ich hoffe, das war in deinem Sinne. Wir brauchten schnelle Entscheidungen.“ Jill hatte absolut keine Lust auf noch eine Auseinandersetzung.
„Ich wurde aufgehalten, aber deswegen muss man noch lange nicht so tun, als ob auf jeder Station Alarmstufe rot herrschen würde.“ Schlecht gelaunt setzte sie sich mit Allan auf zwei betagte Stühle und wartete auf die Patientin und die Ergebnisse der Untersuchung. Insgeheim hatte sie nach dem Piepen ihres Pagers auf etwas größeres gehofft als auf Altersbeschwerden einer Rentnerin. Dann wurde sie auch noch von Christine aufgehalten und Allan springt wie ein Held in die Situation, um die arme Alte zu retten. Der Höhepunkt des Tages war definitiv der Streit mit Joe. Kann es noch besser kommen?
Allan merkte die Ablehnung Jills ihm gegenüber und versuchte sich so weit wie möglich unauffällig zu verhalten. Sie vermied demonstrativ jeden Blickkontakt und verschränkte ihre Arme trotzig wie ein freches Kind. Allan konnte nicht anders, er musste sie einfach hin und wieder flüchtig anblicken. Sie war einfach wunderschön. Was hatte sie nur gegen ihn? Was hatte er getan? Noch nie zuvor hatte jemand etwas so intensiv an ihm aus zu setzen, mal ganz abgesehen von seiner Mutter. Er hatte doch nur behilflich sein wollen, zu Hause war sowieso nichts los. Aber alles was er tat war falsch. Tief aufatmend realisierte er, dass Mary mit dem Ergebnissen und Mrs. Grey in das Zimmer traten.
Jill sprang auf, legte ihr bestes Lächeln an den Tag und kam auf das Krankenbett zu.
„Guten Tag Mrs. Grey, ich bin ihre behandelnde Ärztin, Dr. Deems. Zusammen kriegen wir schon raus was ihnen fehlt.“
„Dankeschön Frau Doktor. Ich kann mir absolut nicht erklären woher diese Schmerzen kommen. Ich war doch immer so fit! Aber irgendwann wird wohl jeder älter, was?“ Mit einem leichten Lachen versuchte sie ihre Unsicherheit und Angst zu verbergen. Doch Jill konnte sie nichts vormachen. Zu sehr kannte sie diese Situationen.
„Ich bin mir sicher, dass es nichts Ernstes ist. Machen sie sich keine Sorgen Mrs. Grey.“ Ermutigend lächelte sie der alten Dame zu.
„Jill, Allan, hier sind die Ergebnisse. “ Mary hängte die Bilder so, dass jeder sie sehen konnte. Die beiden Chirurgen, die Krankenschwester und die Patientin begutachteten angestrengt das Röntgenbild.
„Da! Das sieht ungewöhnlich aus. Seht ihr das?“ Mary deutete auf die linken Halswirbel. Jill fiel es wie Schuppen von den Augen.
„Das ist doch klar! Wir haben es hier mit einem Thoracic outlet Syndrom zu tun, ausgelöst durch eine Skelettanomalie im Halswirbelbereich. Dadurch die Schmerzen.“ Triumphierend drehte sie sich zu Mary, Allan und Mrs. Grey. „Der Technik sei Dank!“
„Ein Syndrom? Was bedeutet das?“ Mrs. Grey blickte unruhig von Jill zu Allan und wieder zurück.
„Keine Angst, es ist alles halb so schlimm wie es sich anhört. An einem ihrer Halswirbel hat sich durch eine Fehlanlage eine so genannte Halsrippe entwickelt. Das kann ab und an schon einmal vorkommen.“ Verständnisvoll blickte Allan zu Mrs. Grey und fuhr fort:“Meistens wird so etwas durch Zufall entdeckt, denn oft spürt der Betroffene keine Schmerzen. Gelegentlich kann diese Halsrippe aber auch Nerven und Gefäße einklemmen, was wir in der Fachsprache Thoracic outlet Syndrom nennen.“
„Die einzige Möglichkeit ist es, diese Halsrippe operativ zu entfernen. Und das möglichst bald.“ Warum lässt Allan mich nicht meine Arbeit tun? Wie muss ich ihm noch verdeutlichen, dass er hier nicht von mir erwünscht ist. „Ich denke, das wird in zwei Tagen schon möglich sein. Sind sie damit einverstanden?“
Mrs. Grey nickte, sichtlich erleichtert.
„Ich bin einverstanden.“
„Gut. Mary, bitte geben sie im OP Bescheid und veranlassen sie das Nötige. Schwester Grace soll sich nun um die Patientin kümmern.“ Mit einem kurzen Blick auf ihren piependen Pager entschuldigte sie sich und verließ den Raum. Es gab noch viel zu tun.
Kapitel 6
Am Himmel ballten sich graue Wolken und Jill hatte die Hoffnung aufgegeben, dass es irgendwann einmal aufhören würde zu regnen. Heute würde sie Mrs. Green operieren. Jill war zuvor noch auf Visite und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden ihrer Patienten. Noch immer geisterten ihre Gedanken rund um Joe und sie musste sich anstrengen bei der Sache zu bleiben. Durch ihren gemeinsamen Arbeitsplatz kamen sie nicht um eine Begegnung herum, mieden es aber miteinander zu sprechen. Nach einer kleinen Pause war es Zeit für ihre OP und Jill machte sich auf, um Mrs. Grey noch vor dem Eingriff zu besuchen. Auf dem Weg ging sie in Gedanken noch einmal die einzelnen Schritte durch und lief vertieft in ihre Gedanken gegen Allan, der gerade mit einem Stapel von Papier um die Ecke bog, sodass alle Blätter wie ein Sommerregen auf sie hinab rieselte.
„Hey! Pass doch auf!“ Jill rieb sich den Kopf. Das hatte ganz schön weh getan, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.
„Oh, Jill! Tut mir Leid! Ich hab dich gerade nicht gesehen.“ Hastig versuchte Allan die Papiere aufzusammeln. Warum war er in ihrer Gegenwart nur immer so,..so schüchtern? Das war doch sonst nicht seine Art. Er räusperte sich. „Übrigens war ich auf der Suche nach dir.“
„Nach mir?“ Jills überraschte Tonart war keineswegs gespielt.
„Ja, ich wurde dir und der OP von Mrs. Grey zugeteilt. Ich werde dir assistieren.“
Na Klasse. Das hat mir gerade noch gefehlt. Warum läuft eigentlich im Moment nichts, wie es eigentlich sollte?
„Warum musst du dann nach mir suchen? Das hättest du dir auch sparen können, dann hätte ich nämlich nicht diese Kopfschmerzen!“ Jill deutete auf ihren Kopf und noch ehe Allan etwas sagen konnte fügte sie hinzu:“Wenn du mir assistieren willst, dann beeil dich mit deinem Papierkram! Du bist spät dran!“ und ließ Allan allein stehen.
Im OP-Saal war es kühl und Jill fröstelte. Die OP verlief gut, auch wenn sie für Christine´s ständigen Flirtversuche an Allan nichts übrig hatte. Und dann hat er mir auch noch ein Skalpell mit #3er-Griff gegeben, anstatt eines mit #4er-Griff. Jill´s Laune war am Boden und auch die erfolgreiche OP konnte daran nichts ändern.
Missmutig verließ sie den OP-Saal und lief etwas orientierungslos durch die langen Flure. Wo sollte sie auch hin? Mary war beschäftigt, zu Joe konnte sie nicht und Christine und Allan waren auch nicht besser. Genau in diesem Augenblick kamen ihr die Beiden entgegen. Jill drehte sich um und ging in die entgegen gesetzte Richtung, doch es war zu spät.
„Hey Jill! Lust auf eine Mittagspause?“ Christine´s hohe Stimme klingelte grell in Jill´s Ohren. Innerlich verfluchte sie das Etwas, was sie auf diesen Gang geführt hatte. Sie drehte sich um.
„Klar, gerne“, sie machte sich noch nicht einmal die Mühe besonders überzeugend zu klingen. Wenigstens habe ich dann noch jemanden, der sich den Tisch mit mir teilt, dachte sie bitter und folgte den Beiden in die Mensa.
Jeder mit einem Tablett voll Essen setzten sie sich an einen Tisch, gleich neben der Tür. Christine mit ihrem Diät-Salat, Allan mit Pommes und Schnitzel und Jill mit dem Kartoffelgratin.
„Weißt du Allan, ich könnte dir die ganze Stadt mal zeigen. Ich kenne die schönsten Plätze, fern ab von diesen grässlichen Industriegebieten..“
voll konzentriert widmete sich Jill ihren duftenden Kartoffeln. Das Allan Christine´s schwachsinnigem Gelaber hilflos ausgesetzt war tat ihr nicht im geringsten Leid. Soll er doch sehn wie er da wieder rauskommt.
„Jill und Christine, möchtet ihr was trinken?“ Allan versuchte sich aus Christine´s Fängen zu befreien und blickte flehend zu Jill herüber. Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten, um diesen befriedigenden Augenblick voll auszukosten. Doch ein bisschen tat er ihr schon Leid, also sagte sie zu und Allan verließ fluchtartig den Tisch.
Christine blickte triumphierend zu Jill:“Nicht mehr lange und er wird mir aus der Hand fressen!“
Jill war zu genervt als das sie noch einen passenden Spruch abgeben konnte und so nickte sie nur zustimmend. Allan balancierte drei Flaschen Coca-Cola vor sich her und steuerte auf die beiden Frauen zu. Kurz bevor er den Tisch erreichte verlor er jedoch das Gleichgewicht und die klebrige Flüssigkeit regnete zu Jill´s Entsetzten auf ihren Kittel.
Das war definitiv zu viel!
„Allan du Trottel! Kannst du nicht aufpassen?“, entnervt stand Jill auf und betrachtete die mittlere Katastrophe.
Christine kicherte amüsiert und Allan versuchte den größten Schaden zu beheben.
„Es tut mir Leid, ich..“
„Wie kann so ein Vollidiot wie du nur Chirurg werden? Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt!“, ihre Stimme bebte vor Zorn und einige Krankenschwestern schauten interessiert in ihre Richtung. Na super! Und morgen weiß es wieder das ganze Krankenhaus.
„Komm mal wieder runter von deinem hohen Ross Jill Deems! Ich habe mich entschuldigt, mehr kann ich nicht tun!“ Allan hatte die Schnauze gestrichen voll. Die ganzen letzten Tage hatte er nichts Besseres zu tun als für jeden den perfekten Kollegen zu spielen. Und alles was er tat war in den Augen dieser Frau unausstehlich! „Was soll ich deiner Meinung nach denn noch machen? Mich vor dir niederwerfen und um Verzeihung flehen?“, schrie er und mittlerweile blickte auch die höflichste Person im Raum interessiert zu ihnen rüber.
„Es reicht!“ Mary stemmte ihre kräftigen Arme in die Hüften und ihr Augen funkelten zornig auf die verwunderten Streithähne. „Wenn ich nicht sofort aufhört, werde ich euch persönlich zeigen, was ein rechter Haken ist.“ Auch wenn es eine seltsame Vorstellung war, Mary schien es vollkommen ernst zu meinen.
Allan ließ widerstrebend seine Arme sinken und langsam kehrten wieder klare Gedanken ein.
Wie ein kleines Kind verschränkte Jill die Arme vor der Brust, gerade so, als wolle sie es immer noch nicht einsehen. Ein Blick von Mary genügte, dass auch sie nachgab und die Hitze nachließ.
Mary hatte Recht. Ihr Benehmen war äusserst peinlich.
„So, jetzt wird Allan sich um die bereits wartenden Angehörigen von Mrs. Grey kümmern und Jill macht eine kleine Pause. Ich will nicht, dass heute noch ein einziges Wort zwischen euch geredet wird!“ Mit strengen Blicken folgte sie den geknickten Chirurgen, die ihren Anweisungen folgten und wendete sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Hinter vorgehaltener Hand wurden die ersten Gerüchte verbreitet und innerhalb kürzester Zeit wusste jeder Bescheid.
Allan führte Mr. Grey, seine Tochter und seine Enkelin in das Zimmer von Elisabeth Grey. Die Sonne schenkte ihnen ihre letzten Strahlen und die Hektik im Krankenhaus blieb hier unbemerkt. Noch hatte sie die Augen fest verschlossen und ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum wahrnehmbar bei ihrer Atmung. Andächtig nahmen die Angehörigen Platz und beobachten die schlafende Patientin. Allan stand hinter der Glasscheibe, die ihn von den Geschehnissen im Krankenzimmer trennte.
„Opa, wird die Oma denn wieder gesund?“
„Ja Lucy,“ liebevoll streichelte Mr. Grey seiner Enkelin den Kopf. „Sie ruht sich gerade nur ein bisschen aus.“ Das kleine Mädchen schien alles anderes als zufrieden gestellt zu sein. Allan merkte, wie die kleine Lucy verstohlen auf ihre schlafende Großmutter blickte. Es dauerte nicht lang und ihre Augen wurden feucht und eine dick Träne kullerte über ihre Wangen. Auch ihre Mutter konnte ihre emotionslose Maske nicht lange halten. Besorgt schaute sie auf ihre schlafende Mutter und nahm ihr weinendes Kind in die Arme, um ihre eigene Trauer in den Schultern des Mädchens zu verstecken. Mr. Grey saß neben dem Bett seiner Frau. Er hielt ihre zarte Hand und seine Geste flüsterte:“Wir gehören zusammen, ich bin immer bei dir“. Der liebevolle Blick wachte über ihr und ließ sie niemals allein. Allan schluckte. Eine richtige Familie.. noch nie war ihm die Bedeutung dieses Wortes so klar wie jetzt. Das war also eine wirkliche Familie. Vor seinem geistigen Auge sah er den runden Esstisch seiner Eltern. Wie sie alle beieinander saßen, starr und ohne einen leisen Hauch von Heiterkeit. Wo war da diese Liebe? Wo war das, was Angehörige am Krankenbett zusammenkommen ließ und ihnen die Tränen in die Augen trieb? Er suchte, doch alles was er fand war kalt und ohne jede Leidenschaft. Nie hatte er sich dort zu Hause gefühlt und nie hatte ihn seine Mutter so voll Liebe in den Arm genommen. Schnell wendete er seinen Blick ab, um nicht die Fassung zu verlieren. Wie aus heiterem Himmel stand Christine vor ihm und blickte in sein erstauntes Gesicht. Wie lange stand sie da schon? „Hey Christine,..ähm, was machst du denn hier?“, etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein und etwas zu eilig steckte er seine Hände in die Hosentaschen.
„Lust auf nen Kaffee? Wir haben uns noch gar nicht richtig kennengelernt.“ Adrett lächelte sie ihn an und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Ja, gerne. Joe wird gleich sicher auch kommen. Gehen wir schonmal vor.“
Darauf hatte Christine gewartet und schob den erwirrten Allan in Richtung Caféteria. Ihm schien es, als ob ihr Mund nicht eine einzige Sekunde still hielt, doch wie ein gescholtener Junge ließ er alles über sich ergehen und lächelte nett, als sie ihm den Kaffeebecher unter die Nase hielt. Seine Gedanken flogen über die Flure der Klinik zu Familie Grey.
Kapitel 7
Genüsslich kuschelte Jill sich noch tiefer in ihr Kissen. Wie sehr hatte sie sich auf diesen Tag gefreut. Endlich ausschlafen, endlich den Tag zusammen mit ihrer Tochter genießen, endlich frei! Den gestrigen Abend hatte Jill damit verbracht über die Geschehnisse des Tages nachzudenken. Immer wieder spielten sich die Bilder des Streits in ihrem Kopf ab. Doch es gelang ihr einfach nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Frage nach dem „Warum?“ konnte sie sich einfach nicht beantworten. Es war noch nie vorgekommen, dass Jill und Joe solch eine Auseinandersetzung hatten, dass sie sich tagelang ignorieren würden hätte sie sich nie vorstellen können. Ihr Herz war schwer und erschöpft ließ sich Jill zurück in ihre Kissen fallen.
„Mama bist du schon wach?“, mit einem schüchternen Blick lugte Colleen durch die Schlafzimmertür und Jill schloss ihren Schwermut in sich ein.
„Mir ist auf einmal so schwindelig.“ Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen, um an das Bett ihrer Mutter zu gelangen.
„Was ist den los mein Schatz? Setzt dich erstmal zu mir.“ Mit einem geschulten Blick begutachtete Jill ihre kleine Tochter. „Vielleicht bist du zu ruckartig aufgestanden. Am besten mache ich dir erstmal einen heißen Kakao um deinen Kreislauf etwas in Schwung zu bringen.“ Sie schlüpfte aus dem Bett und machte sich auf den Weg in die Küche. Ihr Blick fiel auf die sich anstauenden Geschirrstapel, ein kaum zu überwindbarer Turm. Jill Deems, noch länger kannst du nun wirklich nicht alles vor dir herschieben, mit einem vorwurfsvollen Ton meldete sich Jill´s Gewissen. In letzte Zeit hatte sich einfach alles angestaut, auch die Rechnungen der letzten Wochen stapelten sich auf dem Esstisch. Als sie den Küchenschrank öffnete, erblickte sie eine letzte Tasse. Da hab ich ja nochmal Glück gehabt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und Jill freute sich erneut den häuslichen Pflichten eine Sekunde länger entfliehen zu können. „Ich komme sofort mein Schatz!“ , rief Jill raus in den Flur. Schnell erwärmte sie den letzten Rest der Milch in der Mikrowelle und rührte etwas Kakaopulver hinein. Vorsichtig balancierte Jill den Kakao in Richtung Schlafzimmer. Als sie das Zimmer betrat, zuckte Colleen spürbar zusammen und richtete sich ruckartig im Bett auf.
„So langsam mache ich mir aber Sorgen um dich Kleines, du bist doch sonst nie so ein Angsthase.“
Colleen nahm den heißen Kakao entgegen und Jill kuschelte sich neben ihrer Tochter ins Bett. Was ist nur los mit ihr? Beim Ansetzen der heißen Tasse kniff Colleen ihre haselnussbraunen Augen zu und schlürfte genüsslich das warme Getränk. Wie so oft spürte Jill Brandons Gegenwart, wenn sie ihrer Tochter ins Gesicht blickte. Es war, als säße er direkt neben ihr. Sie waren sich so verdammt ähnlich. Auch er hatte die Angewohnheit gehabt seinen Tee wie ein frecher Bengel lautstark zu schlürfen und dabei seltsam die Miene zu verziehen. Langsam hob Jill ihre Hand und strich ihrer Tochter eine dunkle Strähne aus dem Gesicht.
„Mama, wann fahren wir denn heute los in den Zoo?“ Colleen schaute fragend zu ihrer Mutter auf.
„Darüber reden wir später, erstmal müssen wir schauen wie es dir nachher so geht.“. In Colleens Augen lag tiefe Enttäuschung und Jill versuchte sich eine Alternative in ihrem Kopf zurecht zu legen. „Was hältst du denn von einem Ausflug in den Park? Wir packen dich in warme Decken und setzten dich in den alten Bollerwagen der noch in der Garage steht. So kommst du auch etwas an die frische Luft, im Park werden wir bestimmt auch eine tolle Zeit haben.“
Colleen war für alles zu begeistern, so war es auch diesmal. Die hereinscheinende Sonne strahlte mit ihrem Gesicht um die Wette und Jill vergrub ihre Sorgen in den Tiefen ihres Herzens. Heute war sie nur für ihre Tochter da.
Am frühen Nachmittag beschlossen Jill und Colleen ihren Weg in den Park anzutreten. Kaum erkennbar saß Colleen in dem kleinen Bollerwagen, umhüllt von lauter kuschelweichen Decken. Den ganzen Weg über hatte Jill unzählige Pausen einlegen müssen, um nicht auf halben Wege umzukippen. Am Park angelangt genossen die Beiden ihre gemeinsame Zeit. Wenn Jill das Lachen ihrer kleinen Tochter hörte, breitete sich in ihrem Inneren eine wohlige Ruhe aus. Die lebensfrohe Art von Colleen sprang auch auf Jill über, immer wieder schaffte es das kleine Mädchen ihre Mutter sie für die kleinen Dinge des Lebens zu begeistern um darin neue Kraft zu schöpfen. Wiedereinmal wurde Jill bewusst, wie wertvoll dieses kleine Wesen für sie war.
Am Abend hatte Colleen sich wieder ein erholt. Nachdem die beiden sich zusammen mit einer Pizza auf das Sofa gekuschelt hatten, schauten sie sich Colleens Lieblingsfilm an. Anschließen bereitete Jill Colleen noch eine heiße Milch mit Honig zu und schickte sie danach ins Bett.
Nun saß Jill alleine auf ihrem Sofa und ihre Gedanken schweiften zu Joe hinüber. Colleen hatte es geschafft ihre Mutter aus dem Alltag zu reißen um ihr einen unbeschwerten Tag zu schenken, doch die Realität hatte sie wieder fest im Griff.
Langsam gleitete Jills Hand in Richtung Telefonhörer und sie spürte den kalten Plastikgriff unter ihrer Hand. Los Jill, wähle einfach seine Nummer und warte was geschieht versuchte sie sich einzureden und langsam schafften es ihre Finger die Tasten zu drücken.
„Joe Tenner“, meldete sich die Stimme am anderen Ende des Hörers. Jill stockte und wollte sofort wieder auflegen. Nach kurzen Zögern fasste sich Jill ein Herz, räusperte sich und fing an.
„Hallo Joe, ich bin es: Jill“, nur ein leises Atmen war am anderen Ende des Hörer zu vernehmen. „Joe meinst du nicht, dass wir darüber reden sollten?“
„Jill, ich wollte vor zwei Tagen in der Cafeteria mit dir reden, das Einzige was ich zu hören bekam waren Vorwürfe“. Jill bemerkte wie eine Träne langsam über ihre Nasenspitze rollte und sich den Weg über ihre Lippen bahnte.
„Joe, es tut mir Leid, aber du hast ja wirklich...“, mitten im Satz stoppte Jill. In diesem Moment bemerkte sie wie unangebracht eine solche Äußerung in diesem Moment gewesen wäre. Du bist so ein Trampel Jill Deems, ging es Jill durch den Kopf und erneut versucht sie mit ruhigen Worten ein Gespräch zu beginnen.
„ Kannst du mich denn nicht wenigstens ein bisschen verstehen? Da kommt einfach jemand daher und drängt sich zwischen uns, ich hatte einfach Angst dich als guten Freund zu verlieren. Ich wollte wirklich nicht, dass die Situation so eskaliert.“ Mit zittriger Stimme erzählte Jill weiter „Ich glaube, ich wusste mir einfach nicht mehr zu helfen! Nie habe ich dich mal alleine erwischt, immer war Allan dabei.“
„Was hast du denn gegen Allan? Du hast doch noch niemals ein vernünftiges Wort mit ihm gewechselt.“
„Ist dir denn gar nicht aufgefallen wie selbstgefällig er sich anderen gegenüber gibt?“
„Woher willst du das denn so genau wissen? Bis jetzt hast du dir ja noch nicht die Zeit genommen ihn einmal wirkliche kennen zu lernen. Außerdem kenne ich dich jetzt schon länger Jill Deems, ich glaube das wirkliche Problem ist ein anderes. Hast du Angst das er besser sein könnte als du? Dass er vielleicht mehr Patienten behandelt oder besser vor Dr. O´Connor dar steht? Ist es das, was dich an ihm stört?“. Seine Stimme war ruhig und entspannt und Jill bemerkte, wie sehr sie die Gespräche mit Joe vermisst hatte.
„Warum siehst du nicht die positiven Dinge die er mit sich bringt? Du musst nicht mehr so viele Überstunden machen und kannst dir Zeit für Colleen nehmen. Durch einen weiteren Chirurgen können wir eine bessere Notfallversorgung schaffen Jill. Hast du über diese Sachen einmal nachgedacht? Du bist Ärztin Jill Deems, dein oberstes Anliegen sollte es sein, anderen Menschen zu helfen und nicht möglichst positiv vor dem Chefarzt dar zustehen.“. Hast du dich wirklich so verändert?, schoss es Jill durch denn Kopf. Wie konnte es nur soweit kommen? Dein bester Freund denkt so etwas Schlechtes über dich und du merkst noch nicht einmal wie du dich anderen gegenüber benimmst.
„Habe ich mich wirklich so verändert Joe? Warum hast du mir denn nicht einmal früher Bescheid gesagt?“
„Denkst du wirklich, dass ich das nicht versucht habe in den letzten Tagen? Du warst einfach zu sehr mit dir selbst beschäftigt.“ Nun schaffte es Jill nicht mehr sich zurück zu halten, die Tränen liefen in gleichmäßigen Abständen über ihre Wange. Jill fühlte sich, als hätte sich gerade einen Schlag mitten in den Bauch bekommen.
„Es tut mir so furchtbar Leid, es tut mir von ganzem Herzen Leid Joe“, schaffte sie noch hervor zur bringen, bevor sie verzweifelt das Telefonat wegdrückte.
Als Jill sich an diesem Abend ins Bett legte, nahm sie sich fest vor Allan endlich eine Chance zugeben sich zu beweisen. Stundenlang hatte sie noch auf dem alten Sofa gesessen und geweint. Doch die Last, die sie auf ihrem Herzen hatte war nun fort. Endlich ein kleiner Lichtpunkt.
Kapitel 8
Jill gab ihrer schlafenden Tochter einen Kuss auf die Wange und machte sich auf, um zur Arbeit zu fahren. Trotz der Kälte die sie umgab als sie Haustür hinter sich schloss, machte ihr Herz beinahe Luftsprünge! Es war wahres Balsam für die Seele, dass mit Joe alles wieder im Reinen war. Nichts könnte heute ihre Laune verderben.
In der Klinik herrschte geschäftiges Treiben, wie immer. Beschwingt ging Jill durch die belebten Flure und summte ihr Lieblingslied:“...Walking on Sunshiiine..“. Es würde ein toller Tag werden.
Es gab nichts aufregendes, aber so musste Jill auch nicht versuchen Wunder zu vollbringen. Hier und da eine Visite, dort einen neuen Patienten aufnhemen und als nächstes Operationen der nächsten Woche eintragen. Während sie auf der Suche nach Mary durch die Flure lief, entdeckte sie Allan. Er stand an der Rezeption und schrieb konzentriert in sein Protokoll. Zum ersten Mal betrachtete Jill ihn genauer: Er war relativ groß, Jill schätzte ihn auf 1,85m. Seine dunklen Haare umrahmten in einem ordentlichen Schnitt das markante Gesicht und seine Augen waren von einem so tiefen blau, dass sie seine gesamte Seele widerspiegelten. Die Lippen bewegten sich kaum wahrnehmbar während er konzentriert.
Erst nach ein paar Sekunden realisierte sie, dass er zu ihr aufblickte. Sie musste ganz schön blöd aussehen, so wie sie ihn anstarrte. Zu Jills Verwunderung störte sie das nicht im Geringsten.
„Hey, Jill“ schüchtern lächelte er sie an, wobei eine kleine Zahnlücke zum Vorschein kam, die Jill ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
„Hey,..Allan, ich..“, was wollte sie eigentlich hier? „ich,..ich war auf der Suche nach Mary. Hast du sie vielleicht gesehen?“ Mit Erstaunen bemerkte sie, dass es das erste normale Gespräch zwischen ihnen war. Joe hatte Recht, ich war eine Idiotin.
„Ich glaube sie hat heute frei, kann das sein?“
Jill stieg die Röte ins Gesicht. Natürlich, wie konnte sie das nur vergessen? Echt peinlich.
„Vielleicht kannst du mir trotzdem helfen. Dieser Patient hier macht mir Sorgen“, Allan deutete auf sein Protokoll und Jill überflog routiniert die Daten.
„..Diastolische Herzinsuffizienz, das ist gar nicht mein Gebiet“, musste Jill zugeben und schüttelte den Kopf. „Da kann ich dir leider nicht helfen.“, ihr fiel es unendlich schwer, ihre Unwissenheit einzugestehen, hatte sie sich doch immer für qualifizierter gehalten als er. Sie wusste, was sie jetzt eigentlich tun sollte. „Allan ich,..“, in diesem Moment spürte sie, wie in der Tasche ihres Kittels etwas vibrierte. Sie zog ihr Handy raus und legte es an ihr Ohr. „Ja?“
„Ist da Dr. Jill Deems am Telefon?“
„Ja, die bin ich. Was kann ich für sie tun?“
„Guten Tag, ich bin Mrs. Green, die Lehrerin ihrer Tochter Colleen.“
Jill wurde flau im Magen. Eine dunkle Vorahnung schlich sich in ihr ein und breitete sich in ihrem Inneren aus wie eine Seuche.
Die Stimme am Handy fuhr fort:“Colleen hat heute ohne erkennbaren Grund ihr Bewusstsein verloren. Sie ist wieder wohl auf, ich dachte nur, dass ich es ihnen vielleicht sofort mitteilen sollte.“
Jill ließ das Handy sinken. Colleen! Meine Tochter.. Völlig durcheinander verabschiedete sie sich von
Mrs. Green und starrte Allan dabei fassungslos an.
„Meine Tochter,..sie ist bewusstlos geworden! Ich muss sofort zu ihr!“
So schnell sie ihre Beine tragen konnten lief sie zu ihrem Auto, und versuchte verzweifelt den Motor zu starten. Immer und immer wieder drehte sie den Schlüssel, doch es war hoffnungslos. Ihr Auto bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle.
„So ein Mist!“ Wütend verpasste sie dem Lenkrad einen Schlag. Gerade jetzt wo ich dich brauche... Die Verzweiflung trieb ihr die Tränen in die Augen. Was ist, wenn es was Ernstes ist? Ich kann hier nicht untätig herumsitzen! Wild entschlossen stieg sie wieder aus ihrem Auto. Während sie zum Krankenhaus lief wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Allan kam ihr entgegen.
„Gibt´s Probleme?“ Sein Augen zeigten ehrliche Besorgnis.
Jill war viel zu sehr in Angst um ihre Tochter, als das sie sich um ihren eigenen Stolz kümmern konnte.
„Fahr mich bitte zu meinem Mädchen, sie braucht mich! Mein Auto springt nicht an und ich weiß nicht was ich tun soll.“, fast flehend blickte sie zu Allan, der sofort seine Schlüssel aus der Hose kramte und in Richtung Parkplatz lief. Jill folgte ihm. Sie war ihm unendlich dankbar.
Während sie schweigend im Auto saßen und Allan sie durch Baltimore manövrierte, blickte Jill ungeduldig aus dem Fenster. Dunkle Wolken zogen auf und versperrten der Sonne ihren Weg, um der verzweifelten Mutter ein paar Lichtstrahlen zu schenken.
„Allan, es tut mir Leid.“
Dieser Satz kam so unverhofft, dass Allan fast vergaß zu bremsen. Mit lautem Quietschen kam das Auto kurz vor einem großen Lkw zum stehen. Hatte er richtig gehört?
„Ich weiß, ich war nicht immer fair zu dir. Eigentlich war ich ein richtiges Ekel.“ Jill schluckte. Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen zurückhalten, die ohne Erbarmen in ihr aufstiegen.
Allan sah sie an. Das war nicht die Jill die er kennen gelernt hatte. Neben ihm saß eine Frau, die ihre gesamte Verletzlichkeit vor ihm preisgab. Instinktiv legte er seine Hand auf ihre. Er spürte, wie sie zusammen zuckte und dennoch zog sie ihre Hand nicht weg.
„Ist schon okay“, er wusste beim besten Willen nicht, was er sagen sollte. „Ich hätte wahrscheinlich auch so gehandelt.“, er ließ ihre Hand los und bot ihr ein Taschentuch an, während er auf den Schulhof der Highlands Elementary School fuhr.
Jill wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fasste sich wieder. Sie atmete einmal tief ein und stieg dann zusammen mit Allan aus dem Auto. So schnell es ging rannten sie in das betagte Gebäude, wo ihnen Mrs. Green schon entgegen kam.
„Dr. Deems, das wäre doch nicht nötig gewesen, extra hier her zu kommen. Ihrer Tochter geht es bereits wieder besser“, mit einem höflichen Lächeln versuchte sie die beiden Neuankömmlinge wieder zum Gehen zu bewegen.
„Ich möchte zu meiner Tochter, sofort!“ Jill hatte ihre alte Verfassung wiedererlangt und mit einem entschiedenen Blick brachte sie Mrs. Green dazu, sie zu Colleen zu führen. Während sie die langen Gänge entlang gingen und ihre schnellen Schritte an den kahlen Wänden wiederhallten, verzog Jill keine Miene. Doch in ihr brodelte ein Vulkan voller Emotionen. Als sich die Tür des Krankenzimmers öffnete und sie ihre Tochter auf der Liege liegen sah, blieb ihr Herz fast stehen vor Angst. Ungeachtet jeglicher Personen im Raum lief sie zu Colleen und nahm sie in die Arme.
„Mein Mädchen, was machst du nur für Sachen?“, Jill war fassungslos. Das kleine Kind war blass wie die Wände des Krankenhauses und um ihre Augen lag ein grauer Schleier, der nicht verschwinden wollte. Ihre Schultern sackten in sich zusammen und mit gekrümmten Rücken lag sie in den Armen ihrer Mutter. Jill bedurfte es unendlicher Anstrengung, ihr aufgeregtes Innerstes nicht an die Oberfläche zu lassen. Allan fühlte sich etwas fehl am Platz, trotzdem sah er sofort, dass Colleen unbedingt untersucht werden musste. “Jill, wir müssen sie mitnehmen“, er nahm Schultasche und Jacke des kleinen Mädchens in die Hand und war bereit zu gehen. Ohne ein Wort nahm Jill ihre Tochter auf den Arm und folgte Allan. Mrs. Green lief ihnen wie eine wild gewordene Henne hinterher, doch sie schenkten ihr keine Beachtung.
Allan brachte zwei Becher Kaffee und setzte sich neben Jill auf das Sofa im Bereitschaftszimmer. Seit einer Stunden wurde Colleen nun untersucht und die Anspannung war unerträglich. Jill drohte in Angst und Sorge um ihre Tochter zu ertrinken. Hatte sie als Mutter versagt? Mit zittriger Hand nahm sie den warmen Pappbecher entgegen und wünschte sich, dass Brandon hier wäre und ihre Hand hielt, wie er es in einer solchen Situation getan hätte. Doch er war nicht mehr da und stattdessen saß ein verunsicherter Allan neben ihr, der schweigend seinen Kaffee trank.
„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt“ sagte Jill leise.
„Kein Problem. War doch ein Notfall“, Allan war froh, dass sie das Schweigen brach. Er wusste immer noch nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. In den letzten Stunden hatte er mehr über diese Frau erfahren als in den letzten beiden Wochen seiner Zeit in Baltimore. Sie steckte voller Überraschungen. Er wusste nicht ob und wie er es ansprechen sollte, aber ihn beschäftigte eine Frage.
„Hast du ihrem Vater schon Bescheid gesagt?“ fragte er vorsichtig.
„Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben, Allan.“ antwortete sie leise und hoffte, dass ihm die Frage nicht allzu peinlich war.
„Oh“, Allan wurde rot und räusperte sich nervös. Verlegen schaute er aus dem Fenster. „Tut mir Leid das zu hören“ stotterte er und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.
„Danke“ sagte Jill und zählte im Stillen die Sekunden bis Allan ein neues Gesprächsthema gefunden hatte. Doch er schaute einfach verlegen zur Seite und brachte kein Wort über die Lippen.
„Wie kommt es eigentlich, dass du aus dem großen New York nach Baltimore kommst?“ versuchte Jill ein Gespräch beim Laufen zu halten. Ihr wurde bewusst, dass sie eigentlich nichts über Allan wusste.
Er zuckte kaum wahrnehmbar zusammen. Er wusste, dass diese Frage irgendwann kommen würde, doch eine Antwort hatte er nicht parat. Zögernd fing er an. „Weißt du Jill, irgendwie war das nichts für mich, ich..“
„Dr. Deems, wir haben die Ergebnisse ihrer Tochter.“
Allan atmete innerlich auf. Dr. Loss kam mit ein paar Papieren in das Zimmer und unterbrach ihn in seiner Erzählung.
Jill sprang vom Sofa auf:„Was ist es denn?“
Zum ersten Mal spürte Jill wie es sich anfühlte auf der anderen Seite zu stehen. Eine Diagnose abzuwarten, hin- und her gerissen zwischen hoffen und bangen und den Versuch zu starten, jede Mimik des Arztes zu deuten.
Dr. Loss stand ihr mit ernster Miene gegenüber:“Setzen sie sich erst einmal wieder.“
Und dann kam, was Jill bereits geahnt hatte. Die Worte des Arztes wehten an ihr vorüber, nur der eine Satz traf sie orkanartig und nahm ihr die Luft zum atmen:“Ihr Kind hat einen angeborenen Herzfehler.“
Fortsetzung folgt
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2008
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Widmung:
Diese Buch widmen wir dem Zauberpferdchen Pessy und Mimilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Uttistochter Schneider.
In ewiger Liebe und Verbundenheit: Sabrina und Hanna