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Das Lächeln in meinem Leben

 

Verschlafen blinzelte ich zu meinem Wecker. Sechs Uhr. Zeit zum Aufstehen. So wie immer. Eigentlich ein ganz normaler Tag. Eigentlich. Was für ein dummes Wort. Hinter jedem Eigentlich steckte immer ein Zweifel und ein dickes Aber. Auch bei mir. Dank unzähliger Überstunden und Resturlaub konnte ich mich mental auf mein Rentnerdasein, in das ich dann nahtlos hinübergleiten würde, vorbereiten. Das hörte sich gut an. Gemütlich und problemlos. Also konnte ich einfach liegenbleiben, mich nochmals umdrehen und hoffen, wieder einzuschlafen. Doch so einfach war das nicht. Jahrzehntelanger grauer Alltag, Monotonie ohnegleichen und plötzlich musste alles anders sein. Den Schalter umlegen. So lange hatte ich es mir gewünscht und jetzt? Verdienter Ruhestand oder doch eher nutzlos geworden. Ich sollte lieber schlafen. Besser als solche Gedanken.

 

Leider hatte das nicht funktioniert. Das mit dem Schlafen. Ich starrte in meinen Kaffee. Schwarz, heiß und stark war er. Ich dachte nach. Über mich. Vor allem brauchte ich Struktur. Ich glaube der Mensch braucht einen geregelten Tagesablauf. Auf lange Sicht. Ganz normale Tage eben. Darüber sinnierte ich. Am Ende verlotterte ich über die Zeit. Ich hätte nicht geglaubt, dass mir mit der Arbeit auch ein großer Teil meiner Motivation verloren gehen würde. Womöglich war sie der eigentliche Sinn meines Lebens. Komisch. Nie hatte ich mich sonderlich verbunden gefühlt. Dachte ich. So konnte man sich täuschen. Arbeit beherrschte eben mein Leben. Viel Freizeit blieb da nicht. Für mich. Für irgendwelche Hobbys. Da brauchte ich mich nicht wundern, dass ich jetzt grübelnd vor meinem Kaffee hockte.

 

Was gab meinem Leben Struktur. So viel Struktur, um abends sagen zu können, dass es eigentlich ein Tag war wie jeder andere. Machte mich so eine Feststellung zufrieden? Tag um Tag um Tag. Und jeder wie der davor und der davor und der, der noch kam. Vorausschaubar. Überschaubar. Ein endloses Einerlei. Nur eben anders als früher.

Hatte ich nicht noch Pläne gehabt. Für danach? Dinge, die ich immer verschob – auf später, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Wo sind sie? Meine Visionen. Jetzt könnte das Leben doch wirklich anfangen. Aber es fühlte sich anders an. Eine tiefe Enttäuschung lag auf meiner Seele. Nicht mehr viel Leben vor mir und immer nur gewartet. Auf alles Mögliche. Auf den richtigen Moment. Käme der erst jetzt … oder war er womöglich gewesen. Schon vor langer Zeit und ich habe meine Lebenszeit sinnlos verlebt. Ihn verpasst. Immer vorwärtsstrebend mit allen anderen. Nur nicht innehalten, um einmal besorgt nach sich selbst zu schauen. Kein Straucheln, kein Fallen. Geregelter Alltag verzeiht keine Schwächen.

Falls ich jemals wieder geboren werden würde … so etwas passierte mir bestimmt nicht mehr. Im Jetzt und im Heute hätte ich glücklich sein sollen. Müssen! Nicht Morgen irgendwann. Das wäre ich mir und meinem Leben schuldig gewesen.

Ich beschloss, vor diesen fiesen Gedanken zu flüchten. Ein wenig durch die Stadt schlendern. Schaufenster anschauen, um den Kopf wieder „freizubekommen“.

 

Vor meinem Lieblingsbäcker, mit anhängigem Café, blieb ich stehen, überlegte noch, mir ein Stückchen Erdbeerkuchen zu gönnen, als mich eine junge Frau ansprach. Sie sah nett aus. Ausdrucksvolle Augen, die mich ein wenig traurig anschauten. So war mein Empfinden. Die braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug helle Jeans und einen übergroßen tiefgrünen Strickpulli mit Zopfmuster, in den sie locker zweimal reingepasst hätte und der ihre zierliche Gestalt noch besonders hervorhob.

 

„Würden sie bitte kurz auf mein Baby aufpassen? Joris schläft gerade so schön und ich mag ihn nicht allein hier draußen stehen lassen.“

 

Im Wageninneren lugte unter der bauschigen Decke ein Köpfchen hervor. Dunkler Flaum und ein kleines Stupsnäschen konnte ich sehen. Putzig. Das war also Joris.

 

Ob ich ein Kind gewollt hätte? Damals? Es war nie der richtige Moment dafür. Vielleicht hatte mir dieses besondere Abenteuer auch Angst gemacht und ich schob es vor mir her, bis es irgendwann zu spät war. Oder besser gesagt, Eric und ich hatten verschiedene Vorstellungen vom Leben. Er wollte unbedingt eine Familie gründen. Ich wehrte mich und ich ließ ihn gehen. Froh diesem Zwang entkommen zu sein, hielt sich meine Traurigkeit in Grenzen. Es würde sich bestimmt jemand finden, der dieses Lebensmodell mit ihm teilen wollte. Herd, Filzlatschen und Kindergeschrei waren nichts für mich. Ich wollte mich auch nicht mehr binden. Zukunftsträchtige Beziehungen beendete ich, ehe es für mich zu „gefährlich“ wurde. Völlig frei und ohne Verpflichtungen zu sein, das passte zu mir. Heute sah ich es anders. Besonders heute. Was war nur los mit mir?

 

Ich dachte kurz an Eric. Er war tatsächlich Vater von drei Jungs geworden. Er lebte seinen Traum. Für ihn schien alles gut geworden zu sein und nur, weil ich ihm das Herz gebrochen hatte. Das Leben war schon seltsam.

 

„Ja natürlich, gerne“, antwortete ich und schob das Gedankenchaos auf die Seite, bevor ich mir die Fragen stellte, ob ich tatsächlich mit meinen Entscheidungen glücklich gewesen war.

 

Die junge Frau huschte schnell in den Laden. Ich wartete. Schaute ab und zu in den Wagen. Joris schlief tief und fest. Ein niedlicher kleiner Kerl. Ich wartete immer noch. Sie sagte, sie bräuchte nur ein Brot und es ginge ganz schnell. Ich schob den Wagen vor die Schaufensterfront, um besser in den Laden zu sehen. Aber ich sah nichts. Mit nichts meinte ich niemand. Sie war verschwunden. Vielleicht geschwind auf die Toilette beruhigte ich mich. Also wartete ich und schaute immer wieder in den Wagen. Joris schlief und merkte nichts von dem Unheil, das sich über unser beider Köpfe zusammenbraute. Er war schließlich ein Baby und vertraute seiner Mutter. So wie ich ihr vertraut hatte.

 

Langsam kamen mir Bedenken. Eine seltsame Situation in der ich mich befand. Mein Magen reagiert sofort, er zog sich zusammen und bildete einen harten Klumpen, der mir ein sehr ungutes Gefühl bescherte. Nervös fuhr ich mir durch die Haare. Sie konnte sich doch nicht in Luft auflösen. Auf jeden Fall musste sie zu dieser Tür wieder rauskommen. Hier an mir vorbei. Schließlich wartete Joris auf sie. Ihr Baby. Ein Grund, der schwerer wog als alles.

 

Ein bisschen sollte ich noch warten, bis ich mir ernsthaft Sorgen machen wollte. Als sich Joris aus dem Wageninneren meldete. Ach du meine Güte. Ich hatte keine Erfahrung mit kleinen Kindern. Hektisch schaukelte ich das Gefährt hin und her. Es schien Joris nicht zu gefallen. Sein Geschrei steigerte sich. Durfte ich ihn da rausholen? Ich war schließlich eine fremde Frau für ihn Wann kam endlich seine Mutter. Ich fand es unmöglich, mich oder besser gesagt uns hier so lange stehen zu lassen.

Joris beruhigte sich nicht. Sein Köpfchen glühte. Er tat mir leid. Ich tat mir leid. Hilflos streichelte ich seine Wange. So zart. So heiß. Aber auch das mochte er nicht. Er brüllte, ohne dabei Luft zu holen. So schien es mir. Ich musste handeln. Vorsichtig fischte ich das Baby aus dem Wagen und drückte es an mich. Ich trat von einem Fuß auf den anderen und wippte mit dem Oberkörper dazu. Das gefiel ihm. Das hysterische Geschrei verstummte. Stille. Herrlich. Wo blieb nur seine Mutter.

Jetzt, wo ich ihn auf dem Arm hatte, konnte ich in den Laden gehen und gucken, wo sie abgeblieben war. Zuversichtlich betrat ich das Geschäft. Die Verkäuferin strahlte mich an. Maria und ich kannten uns schon lange. Ich war eine ihrer besten Cappuccino-Kundinnen.

 

„Oh wie süß. Ist das ihr Enkelkind, Frau Lindenmann?“, fragte sie.

 

„Nein, nein, Maria, der Kleine gehört der Dame, die hier eben ein Brot gekauft hat“, erklärte ich.

 

Ich drehte mich um mich selbst, schaute in alle Richtungen. Joris schien es egal zu sein, wo sich seine Mutter im Moment aufhielt. Sein Köpfchen lag an meiner Schulter. Er wirkte sehr zufrieden. Vielleicht verstand ich doch was von kleinen Kindern. Vielleicht wäre ich tatsächlich eine gute Mutter geworden.

 

„Wo ist sie denn hin?“, ich konnte die Frau nirgends entdecken.

 

„Die Frau von gerade eben? Die ist durchs Café und hinten raus.“, die Verkäuferin runzelte die Stirn „und das Baby gehört ihr?“

 

„Was hat sie gesagt … die Frau? Wo sie hin wollte?“, ein kleiner Hoffnungsschimmer.

 

„Nichts hat sie gesagt … und das ist ihr Kind und jetzt haben sie es?“, Maria schüttelte verwundert den Kopf. Sie war nicht sehr hilfreich. Irgendwie plapperte sie ständig dasselbe.

 

„Vielleicht sollten wir die Polizei informieren.“ Sagte ich und streichelte liebevoll über das seidige Haar des Babys, das mit seinem Köpfchen immer noch an meiner Schulter lehnte und mit großen Augen die Welt bestaunte.

Kleiner süßer Joris. Ich sollte noch abwarten. Das gab nur unnötigen Ärger, wer weiß, was die tieferen Gründe waren, dass mir die junge Frau ihr Kind kurzfristig anvertraut hatte. Ja es war sicher nur kurzfristig. Sie hatte eine nette Ausstrahlung und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihr Kind verlassen hatte. Einfach so.

„Ich glaube, ich schaue erst mal im Kinderwagen nach, ob da nicht irgendwo eine Anschrift oder irgendein anderer Anhaltspunkt zu finden ist.“

Maria nickte. Sie schien der gleichen Meinung zu sein. Warum eine Lawine lostreten. Sicher klärte sich alles auf.

 

Vorsichtig legte ich Joris zurück in den Wagen. Ich untersuchte die Windeltasche und eine Tüte mit Einkäufen. Komisch. Warum hatte sie eingekauft? Um dann alles zusammen mit ihrem Kind vor einem Laden abzustellen? Ein leises Meckern mischte sich zwischen meine Überlegungen. Joris verlangte schon wieder nach mir. Ich beugte mich zu ihm hinunter, holte ihn unter der bauschigen Decke vor und drückte ihn nur allzu gern an meine Brust. Klar ersichtlich, dass er mich mochte. Er fühlte sich bei mir wohl und ich mich mit ihm.

 

Ich hatte nichts gefunden. So ein Mist. Was sollte ich jetzt tun. Mit Joris. Mitnehmen konnte ich ihn nicht. Trotzdem gefiel mir der Gedanke für diesen kleinen Mensch sorgen zu dürfen. Heute war definitiv kein Tag wie jeder andere. Abgesehen von dem erschreckenden Hintergrund war er aufregend und auf eine ganz eigene Art schön. Joris war eine wunderbare Erfahrung für mich – auch wenn sie nur von kurzer Dauer sein würde. Wer hatte gesagt, dass man Glück nicht anfassen konnte. Ich wurde eines Besseren belehrt. Fest hielt ich es in meinen Armen. Warm und lebendig war es. Es roch nach Babypuder. Unschuldig und rein. Ich glaube ich hatte mich verliebt. Schnell und kompromisslos.

 

Trotz diesem erhebenden Gefühl war ich verzweifelt. Hier ging es nicht um meine Träume, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie in mir trug. Hier ging es einzig und allein um Joris und seine Mutter. Wenn sich erst einmal die Amtsmühlen in ihr Leben mischten, wurde es sicher sehr ungemütlich für die beiden.

Sie hatte zwar ein wenig traurig ausgesehen, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie ihr Kind loswerden wollte. Maria sagte, dass sie durchs Café nach draußen ging. Aber vielleicht ist sie zur Toilette abgebogen. Das war mein erster Gedanke gewesen, den ich gar nicht weiterverfolgt hatte.

Mit Joris auf dem Arm eilte ich wieder ins Café geradewegs zur Toilette

 

„Hallo? Joris sucht seine Mama.“, rief ich in den weißgekachelten Raum.

So wie es aussah war niemand da. Die vier Kabinen-Türen standen offen. Es gab sonst keine Ecken und Winkel, wo sie sich hätte verstecken können. Warum sollte sie sich verstecken wollen. Mein Kopf wusste nicht mehr was er denken sollte, als ich ein leises Stöhnen hörte. Es kam aus der hintersten Abtrennung

Und dann sah ich sie. Sie lag zwischen Toilette und Trennwand. Das Gesicht blutverschmiert.

 

„Maria“, brüllte ich.

 

Joris zuckte zusammen und kreischte augenblicklich los. Mit dem schreienden Baby auf dem Arm beugte ich mich über die junge Frau. Eine Platzwunde. Vielleicht war sie gestürzt.

 

„Hallo, hören sie mich.“, vorsichtig berührte ich ihre Wange.

 

„Ja …“

Es war mehr ein Hauchen und klang nicht besonders beruhigend.

 

„Ach du meine Güte, was ist denn hier passiert.“

 

Maria stand in der Tür und schaute besorgt auf uns herunter.

 

„Ich rufe einen Arzt,“, sagte sie und stürmte davon.

 

Joris quälte vor lauter Gebrüll ein Schluckauf. Der kleine Körper zuckte im Takt meines Herzschlags. Zart klopfte ich auf seinen Rücken. Ob das richtig war, wusste ich nicht. Schließlich hatte ich keine Ahnung von Babys. Aber es hörte tatsächlich auf. Ich war stolz auf mich.

 

Es dauerte nicht lange, bis der Notarzt kam. Die junge Frau wurde fachmännisch versorgt. Der Sachverhalt war schnell geklärt. Eine plötzliche Übelkeit hatte sie auf die Toilette getrieben und als sie das Bewusstsein verlor, schlug sie mit dem Kopf gegen die Toilette. Langsam ging es ihr besser, das Gesicht bekam wieder etwas Farbe und sie lächelte sogar schon zaghaft. Jedoch wehrte sie sich gegen den Vorschlag, zur Beobachtung mit ins Krankenhaus zu fahren. Sie wollte Joris nicht in fremde Hände geben. Es gab wohl weder einen Mann noch Verwandte oder Freunde, die ihr jetzt zur Seite hätten stehen können. Sehr traurig. So allein auf der Welt. Wäre es bei mir auch so? Darüber mochte ich nicht nachdenken. Ich verstand das mit dem Kind. Sie wollte es niemandem anvertrauen. Trotzdem fand ich es unvernünftig. Mit einer Gehirnerschütterung war nicht zu spaßen.

 

Ich würde sie nach Hause begleiten wollen, wenn sie es zuließe.

Sie schien froh über mein Angebot und nickte dankbar. Joris lag wieder friedlich in seinem Wagen und war eingeschlafen. So viel Aufregung für den kleinen Mann. So viel Aufregung auch für mich. Sie tat mir gut, ich fühlte mich lebendig, vielleicht ein wenig überdreht. Das war wirklich kein Tag wie jeder andere. Das graue Gestern und die trüben Gedanken des Morgens waren vergessen. Mira, so hieß die junge Frau, hatte eine sehr offene und freundliche Art. Sie erzählte aus ihrem Leben. Von der Verantwortung für Joris, die sie alleine trug.

 

„Möchten sie noch auf einen Kaffee mit reinkommen?“ fragte mich Mira als wir vor ihrer Wohnung ankamen.

 

„Sehr gern.“, Ich mochte diese junge Frau.

 

Vielleicht standen wir am Anfang von etwas ganz Wunderbarem. Etwas, dem ich bis gerade eben keine große Bedeutung beigemessen hatte. Es fehlte mir immer die Zeit dazu. Aber wenn ich ehrlich war, war es bequem, niemandem gegenüber eine Verpflichtung zu haben. Freundschaften wollten gepflegt sein. Dazu hatte ich keine Lust gehabt. Das war sehr unüberlegt. Am Ende blieben nur Einsamkeit und die Erkenntnis, etwas sehr Wertvolles über so viele Jahre einfach verschenkt zu haben. Aber jetzt konnte es anders werden. Ich wünschte es mir. Mehr als alles andere. Vielleicht, ja vielleicht durfte ich ein kleiner Teil ihres Lebens werden. Sie und der kleine Joris könnten in dem täglichen Einerlei etwas ganz Besonderes sein. Etwas, was das Grau meines Lebens einfach sprengen würde. Kein Tag gliche mehr dem nächsten, weil schon der Gedanke an sie ein Lächeln in mein Leben zaubern würde. Wir standen erst am Anfang. Ich musste Geduld haben und darauf hoffen, dass Mira ähnlich empfand …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Karin Hufnagel
Bildmaterialien: Karin Hufnagel
Cover: Karin Hufnagel
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2021

Alle Rechte vorbehalten

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