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Das Kummerkästchen

 

„Zieh nicht so ein Gesicht“, Mutter lächelte mich aufmunternd an.

 

Sie mochte es nicht, wenn ich Trübsal blies. Ich sollte zuversichtlich sein und dynamisch, sorglos und fröhlich. Glücklich eben. Aber das war gar nicht so einfach.

 

„Ich habe dich unter Schmerzen geboren und dich dieser Welt geschenkt. Du bist etwas ganz Besonderes und ich will, dass du glücklich bist. Jede Sekunde deines Lebens.“ Dabei hob sie jedes Mal den Zeigefinger in die Höhe und hatte diesen mahnenden Blick.

 

Zu allem Überfluss gab sie mir auch noch den Namen „Leni“, der schlichtweg „Die Glückliche“ bedeutet.

Ich glaube ihr war nicht klar, welche Bürde sie mir mit der Namensgebung und ihrem Verhalten aufgehalst hatte – vor allem, mit der damit verbundenen Erwartung ihrerseits. Jede Sekunde eines Lebens glücklich zu sein ist eine unerhörte Forderung, die nicht zu erfüllen war, so sehr ich mich auch bemühte.

 

Schon damals hinterfragte ich insgeheim die Vorstellungen meiner Mutter. Gab es denn dieses endlose Glück vom Glücklichsein? Aber ich war ein Kind. Also träumte ich ihren Traum. Und egal was ich dachte, war es sehr bequem, denn sie räumte alle meine Probleme aus dem Weg und küsste mir unermüdlich ein Lächeln ins Gesicht.

 

Als ich fünf Jahre alt wurde, hielt sie mir als Geschenk ein kleines Kästchen unter die Nase.

 

„Das ist für dich!“, flüsterte sie geheimnisvoll.

 

Ratlos betrachtete ich die Schatulle. Sie war leer und ich wusste nichts damit anzufangen.

 

„Wir schließen alle Traurigkeit und allen Kummer, der in dir wohnt, darin ein. Ab heute gibt es keinen Platz mehr dafür. Du sollst immer glücklich sein“, erklärte sie lächelnd. Hektisch wedelte sie vor meinem Gesicht herum. Sprachlos verfolgte ich ihr Tun. Mit einer theatralischen Handbewegung legte sie dann etwas für mich Unsichtbares in den kleinen Kasten und schloss schnell den Deckel – dann drehte sie den zierlichen Schlüssel herum und warf ihn einfach aus dem Fenster.

 

„Mamaaaa“, kreischte ich verstört.

 

Was war denn das für ein Geschenk. So etwas wünschte sich kein kleines Mädchen. Auf meinem Wunschzettel standen ganz andere Dinge. Ein Fahrrad und ein Pony. Oder wenigstens diese Puppe mit den herrlichen blonden Locken und den Schlafaugen aus dem Schaufenster des kleinen Spielzeugladens, die ich jeden Tag sehnsüchtig betrachtete, wenn mich Mutter in den Kinderhort brachte. Ich war enttäuscht. Aber ich durfte nicht weinen, schließlich waren alle Traurigkeit und aller Kummer in dem Kästchen gefangen. Von nun an schien alles in bester Ordnung. Ich war ihr Glückskind, das jeden neuen Tag mit strahlender Miene empfing.

 

***

 

Aber das wirkliche Leben sah dann anders aus. Mir war aufgefallen, dass nichts funktionierte was ich in die Hand nahm. Schnell verlor ich mein Ziel aus den Augen, wenn es sich nicht gleich so entwickelte, wie ich mir das vorstellte. Mutter war es irgendwann nicht mehr möglich gewesen, die Sterne in meinem Universum wieder an den rechten Platz zu rücken. Ich war dafür zu alt geworden. Erwachsen eben. Und so wurde ich alleingelassen mit dem ungeheuerlichen Auftrag von Glück und dem Glücklichsein.

Was war denn Glück? Aus einem Eimer voller Lose den Hauptgewinn zu ziehen oder die sechs richtigen Kreuze auf einem Lottoschein? Den Chef davon zu überzeugen, dass man genau für diesen Job geeignet war? Den passenden Partner zu finden … vielleicht sogar fürs Leben? Mit nichts davon konnte ich dienen. Nicht mir und schon gar nicht meiner Mutter. Und wenn auch nur eins der aufgezählten Visionen wahr geworden wäre, würde ich dann glücklicher sein? War ich denn überhaupt glücklich. Manchmal wusste ich gar nicht mehr, was ich fühlte. Mein Fokus hatte sich zu sehr in die ständigen Glücks-Parolen meiner Mutter verbissen.

 

Für sie war und blieb ich einfach "Leni, die Glückliche", der die Welt zu Füßen lag. Wie lächerlich. Ich war die, die aus einem Eimer voller Lose die Nieten zog. Ich war die, die seit Jahren bei Beförderungen ständig übergangen wurde und ja, ich war die mit dem fortwährenden Fehlgriff, wenn es um Männer ging. Ein blindes Huhn eben. Ich hatte mit nichts Erfolg und schon gar kein Glück. Und ich fragte mich immer wieder, was Mutter in mir sah oder sehen wollte. Oder ob nicht ihr ganzes Tun aus mir dieses Häufchen Elend gemacht hatte. Womöglich war sie der Auslöser, wenn nicht gar der Verursacher, an meinem Unvermögen mit der Welt zurecht zu kommen. Naja, das wäre zu einfach gewesen, die Schuld von mir zu schieben, hin zu ihr, die immer nur mein Bestes im Sinn hatte.

 

Heute war ein sehr trüber Tag. So in mir drin. Draußen schien die Sonne. Ihr war es nicht möglich, mich innerlich zu wärmen. Schon lange glaubte ich nicht mehr an die Magie der kleinen Schatulle. Meine Traurigkeit hatte sich wohl irgendwie und irgendwann befreit und war mit aller Macht zu mir zurückgekehrt und verdunkelte meine Seele mehr und mehr.

 

Ich sollte endlich mein Leben in die Hand nehmen. Ich wollte nicht mehr dieses blinde Huhn sein, das erfolglos durch die Tage stolperte, in der Hoffnung, dass sein Name und die Visionen einer Mutter das Schicksal positiv steuern könnten.

Ein großer Schritt, getragen von dem Mut eines verzweifelten Menschen, der versuchte endlich sein ganz eigenes Glück zu finden. Was wollte ich wirklich – für mich. Ein Millionengewinn, den Super-Job oder den Mann fürs Leben? Das lag alles in weiter Ferne. Unerreichbar wie es schien. Also brauchte ich etwas anderes – einfacheres. Vielleicht genügte mir eine innere Zufriedenheit. Ich wünschte, dass die Stimme in mir endlich verstummte. Diese lästige Stimme, die ständig vom Glück und Glücklichsein faselte. Ja, ich wollte endlich mit „Leni, der Glücklichen“ Frieden schließen – mit anderen Worten, ich wollte mich einfach liebhaben. Auch als blindes Huhn. Ich spürte, dass genau das mein Körnchen zu einem Glück sein würde, das mir niemand nehmen konnte.

 

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass diese innere Erfüllung schwerer zu erlangen sein würde als alle Wünsche, die ich gerade prioritätenmäßig auflistete, denn Pläne aufzugeben und in eine Art Stagnation zu verfallen hatte sicher nichts damit zu tun, endlich bei sich selbst anzukommen. Also musste ich kämpfen, und zwar um dieses eine Korn, das mir jetzt erstrebenswerter erschien als alles Glück der Welt.

So saß ich in „meinem“ Straßencafé und sinnierte, wie dieser Kampf aussehen würde. Zudem hatte ich mir Lektüre besorgt, die sicher sehr hilfreich sein konnte.

 

„Ist hier noch frei?“, fragte da jemand.

 

Es war überall genügend Platz. Ich wollte nicht gestört sein und hatte schon eine patzige Antwort auf den Lippen - besann mich dann aber auf meine Erziehung.

 

„Ja“, sagte ich deshalb mit einem halbherzigen Lächeln.

 

Über den Rand meines Buches „Die Suche nach innerem Frieden“, beäugte ich mein Gegenüber. Da saß nun ein älterer Herr mit wachen grauen Augen, die mich interessiert musterten … oder vielleicht auch nur den Titel meines Buches, das ich schützend vor mich hielt.

 

„Sie sind also auch eine Suchende“, stellte er fest.

 

Mir war nicht nach einem Gespräch und schon gar nicht über mein Innerstes. Aber das konnte ich jetzt nicht mehr ändern. Vermutlich war er einsam. Ein einsamer alter Mann, der Ansprache suchte. Sofort pulste mein Blut mitleidig durch die Adern und mein Herz stülpte sich großmütig über diesen Gedanken.

„Wieso auch?“ fragte ich und hoffte, den Fokus auf ihn zu lenken, um ihm dadurch eine Plattform zu bieten. So mancher redete am liebsten über sich und seine Befindlichkeiten. Ich wollte zuhören und ihm ein bisschen Licht für dunkle Tage schenken. Ein gutes Gefühl breitete sich in mir aus.

 

„Ich suche eine Sekretärin.“

 

Was? Ich schüttelte ein wenig den Kopf und wollte, dass sich das eben Gehörte in meinem Gehirn neu sortierte. Aber es blieb bei der Sekretärin.

 

„Sie wissen gar nicht, wie schwierig es ist, qualifizierte Kräfte zu finden, die zu mir und meinem Unternehmen passen.“, erklärte er.

 

Ich verstand sein Problem nicht. Was meckerte er da? Völlig unberechtigt. Im Grunde war ich doch weit aus schlechter dran, wie ich so ziellos durch mein Leben torkelte und nach etwas suchte, das gar nicht greifbar war. So wie zum Beispiel eine Sekretärin. Ich musste über so viel Unverständnis grinsen.

 

„Was belustigt sie?“, sein Blick wurde sehr intensiv, als ob er bis zum Grund meiner Seele schauen wollte.

 

Das war mir zu persönlich. Schnell schlug ich die Augen nieder. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, was ich von seinem Gejammer hielt. Nein, natürlich tat ich es nicht. Trotzdem wollte ich nicht so abrupt aufstehen. Also redeten wir über dies und das. Und dann geschah etwas für mich Unbegreifliches. Ich erzählte ihm aus meiner Kindheit. Von meiner glücksbesessenen Mutter. Von dem Kummerkästchen. Von meiner Unfähigkeit glücklich zu sein oder einfach nur Glück zu haben. Ich erklärte ihm am Ende meines schier endlosen Monologs, dass ich eben dieses blinde Huhn war, das niemals ein Korn finden würde. Ich redete ohne Punkt und Komma. Und er? Er saß die ganze Zeit still da und hörte zu. Er verstand mich. Ich nahm die tiefe Ruhe, die von ihm ausging, wie eine Verdurstende in mir auf.

Und dann stieg mir all mein Gesagtes heiß in den Kopf. Du meine Güte, was hatte ich getan. Riesige Löcher klafften in der Mauer, die ich im Laufe der Jahre um mein Innerstes errichtet hatte. Und nun lag mein komplettes Leben gläsern vor ihm. Hektisch griff ich nach meiner Tasche.

 

„Bitte entschuldigen Sie. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.“, flüsterte ich fast tonlos. Einem Impuls folgend streckte ich ihm meine Hand entgegen.

 

„Auf Wiedersehen.“

 

Egal was ich gerade fühlte, Verlegenheit, Scham – was immer es auch war, ich meinte es tatsächlich so. Gerne hätte ich ihn wiedergesehen, diesen Mann mit den gütigen grauen Augen, der so wunderbar zuhören konnte.

 

***

 

Nachdem die Suche nach meinem Selbst länger dauerte als vermutet und im Grunde nichts anderes einbrachte als unbezahlte Rechnungen, musste ich mich wieder den weltlichen Dingen zuwenden. Ein neuer Job zum Beispiel. Ich studierte die Anzeigen. Diesmal wollte ich nicht nur Geld verdienen. Es sollte etwas sein, was mir Spaß machen könnte. Schwierig. Was würde mir Freude bereiten. Freude und Arbeit passte das überhaupt zusammen? Bisher nicht. Das wäre eine völlig neue Erfahrung. Und ich erinnerte mich an das warme Gefühl, als ich diesem älteren Herrn meine Zeit schenken wollte …

 

Als ob ich blindes Huhn tatsächlich langsam sehend würde, entdeckte ich eine Anzeige eines Pflegeheimes, das dringend eine Sekretärin suchte. Das würde beides verbinden. Das, was ich gelernt hatte in einem Umfeld, in das ich mich bestimmt hilfreich einbringen konnte. Mich erfasste eine ungewohnte Aufregung. Das Blut schoss mir heiß in die Wangen. Es fühlte sich ein wenig an wie Weihnachten, als das Glöckchen zur Bescherung läutete.

Bei der Wortwahl meiner Bewerbung legte ich so viel Herz und Wille hinein, warum gerade ich die Richtige für diesen Job war, dass ich tatsächlich einen Termin zum persönlichen Gespräch erhielt.

Gibt es Zufälle? Ich meine so richtige Zufälle, die einem keiner glaubt, selbst wenn man auf irgendetwas schwören würde. Denn … der Chef des Pflegeheims war genau dieser ältere Herr aus dem Straßencafé.

 

„So sehen wir uns wieder.“, sagte er und schüttelte mir erfreut die Hand. „Bitte setzen sie sich doch.“

 

***

 

Was soll ich sagen … ich bekam den Job. Ich fühlte mich so gut wie schon lange nicht mehr oder vielleicht sogar noch besser. Ich hatte mir dieses kleine Glück allein erobert und ein großes Stück Zufriedenheit zog in meine Seele ein. Gerne hätte ich ihn umarmt, diesen älteren Herrn, der jetzt mein Chef war. Ich war dankbar und glücklich. Ja, glücklich …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Karin Hufnagel
Bildmaterialien: Karin Hufnagel
Cover: Karin Hufnagel
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2020

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