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Tom

 

 

„So ein hübscher kleiner Junge.“

 

Mein Mutterherz möchte vor Wonne zerspringen. Das Blut pulst singend durch die Adern. Freude! Stolz! Unbändiger Stolz. Mein Junge ist gemeint. Mein bezaubernder kleiner Sohn. Mein Alles. Mein Leben. Mit ihm hat das Wort Liebe eine völlig neue Bedeutung gewonnen. Ist es möglich, einen Menschen so sehr zu lieben? Mehr als irgendetwas oder irgendjemand. Mit irgendjemand meine ich meinen Mann Jasper – Toms Vater.

Es ist eine andere Liebe, beruhige ich mich. Mutterliebe ist etwas völlig anderes. Ich nehme Jasper nichts weg.

Vielleicht manchmal. Wenn ich mir vorstelle ich müsste wählen. Zwischen ihm und Tom. Ich würde mich immer für mein Kind entscheiden. Was für eine dumme Idee. Warum sollte ich wählen wollen. Und trotzdem bleibt die Frage. Nehme ich Jasper tatsächlich nichts weg?

Ich glaube Gedanken. Tom ist immer in meinen Gedanken. Sie verdrängen alles und jeden. Auch Jasper. Das ist sicher normal. Tom ist noch klein. Er braucht mich rund um die Uhr.

 

Ich überlege, mit wem ich darüber sprechen könnte. Jemand, vor dem ich mich nicht schämen müsste. Der Gedanken wegen. Mir fällt niemand ein, der für solch ein Gespräch mein Vertrauen besitzt. Nur Bekanntschaften. Alles oberflächlich. Freunde, die keine sind, wenn man tiefer gräbt. Schade. Sich nackt zu machen, birgt immer ein gehöriges Risiko. Schließlich möchte ich meine perfekte Fassade nicht ankratzen. Eine perfekte Ehe, das perfekte Kind …. ein perfektes Leben eben. Wie bei vielen. Die Wirklichkeit sieht meist anders aus. Auch bei mir.

 

Tom trippelt neben mir her. Seine kleine Hand fest in der meinen. Er bleibt stehen, streckt mir seine Ärmchen entgegen. Ich hebe ihn hoch, drücke ihn fest an mich. Ich atme den Duft seiner jungen Haut tief ein und streiche durch seine widerspenstigen Locken. Tom spitzt seine Lippen und drückt mir einen feuchten Kuss auf den Mund. Ein Augenblick für die Ewigkeit. Aufbewahrt in meinem inneren Schatzkästchen. Für später. Wenn ich mich erinnern möchte. An dieses warme Gefühl, das wertvoller ist als alles, was ich mir vorstellen kann.

 

„Was für ein süßes Kind.“ Es sind rosarote Wolken, auf denen wir wandern. Tom und ich.

 

 

***

 

Sein erster Tag.

Trüb ist es, grau und wolkenverhangen. Der Himmel weint meine Tränen. Tom trägt die neue Jeans und das hellblaue Sweatshirt, das er so liebt und das genau die Farbe seiner Augen hat. Er soll sich wohlfühlen. Wenigstens er. Seine kleine Hand liegt fest in der meinen. Er drückt sich ein wenig an mich. Vielleicht ist es doch zu früh.

 

„Er ist schon fünf“ hat die Kindergärtnerin Frau Winter drängend gesagt.

„Es wird Zeit“.

 

Ich finde es trotzdem viel zu früh. Egal was Frau Winter sagt. Außerdem werde ich ihn vermissen. Meinen Sonnenschein. Den ganzen Vormittag verbringt er jetzt mit fremden Menschen. Ohne mich.  Ich bin noch nicht bereit, ihn loszulassen.

Und er?

Tom hat seine Hand aus der meinen gezogen und sich unter die Kinder gemischt. Ich höre sein helles Lachen. Es gehört mir nicht mehr. Er schenkt es seinen neuen Spielkameraden. Die Arme hängen schwer an meinem Körper herunter. Ungebraucht. Sie haben nichts mehr festzuhalten. Nichts mehr zu beschützen.

 

Sehnsucht tut weh. Den ganzen Vormittag ertrage ich diesen Schmerz. Ich sitze da und warte. Die Zeit hat sich selbst vergessen. Der Sekundenzeiger schleicht um die Minuten und die Minuten wollen die Stunde nicht füllen.

 

Endlich!

 

Tom stürzt sich in meine ausgebreiteten Arme.

 

„Wir haben gebacken und Frau Winter hat vorgelesen und … ich habe einen Freund. Er heißt Felix ...“ Sein Gesicht glüht vor Aufregung und Freude. Wann hat er das letzte Mal so glücklich ausgesehen? 

 

Ich verstehe gar nicht, was er sagt, so sehr bin ich in diese trüben Gedanken verstrickt. Sein neues Glück, mit dem ich nichts mehr zu tun habe. Er hat mich nicht vermisst. Soviel steht fest. Ich spüre den warmen Körper, seine Arme, die sich fest um meinen Hals schlingen und meine Welt rückt sich langsam wieder zurecht. Er plappert und plappert ohne Luft zu holen über etwas, das ich nicht mehr mit ihm teile. Er hat seit heute sein eigenes kleines Leben. Warum macht mich das traurig? Sollte ich nicht stolz sein, dass er seinen ersten Tag ohne mich mit Bravour gemeistert hat. Sollte ich ihm das nicht sagen?

 

„Du hast mich überhaupt nicht vermisst!“, jammere ich stattdessen vorwurfsvoll und möchte mir Sekunden später die Zunge abbeißen.

 

Kurz unterbricht Tom seinen Redefluss und schaut mich irritiert an. Er wirkt plötzlich älter. Fast wie ein Erwachsener. Sein prüfender Blick hinterlässt ein seltsam bedrückendes Gefühl in mir.

 

Wenn ich heute zurückdenke, ist dies vielleicht genau der Moment, an dem er begriffen hat wie abhängig ich bin. Von ihm.

Und dann beginnen die Spielchen. Sagt man Spielchen, wenn ein Kind seine Mutter erpresst? Irgendein nutzloser Kram gegen Liebe. Seine Liebe, die alles für mich bedeutet. Mehr als die Luft zum Atmen. Es ist nicht richtig, so wie es ist. Er ist das Kind und ich die Erwachsene. Ein Machtwort braucht es, damit es ein Ende hat. Sonst Nichts. Nur ein Machtwort. So einfach.

 

Aber nichts ist einfach, wenn es um Tom geht - wenn ich ihm widerstehen soll.

 

„Der Junge tanzt dir auf der Nase rum.“, stellt Jasper fest.

 

„Ach was. Du hast keine Ahnung von Kindererziehung.“, antworte ich patzig.

 

„Wenn du meinst“, kopfschüttelnd verschwindet mein Mann wieder hinter seiner Zeitung.

 

Ja, das meine ich, denke ich trotzig. Und doch weiß ich, dass es anders ist.

 

***

 

„Aber ich will diesen Ball“ Tom stampft mit dem Fuß auf.

 

„Du hast doch schon so viele Bälle.“, erkläre ich mit sanftem Ton.

 

„Ich will aber.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich böse an.

 

„Ach Schätzchen, wir schauen nach etwas Anderem, was dir gefällt.“ Als ich seine Wange streicheln möchte, weicht er zurück. Das tut weh.

 

„Den Ball“, sein Ton wird schärfer.

 

„Also gut.“, seufze ich.

 

Dies eine Mal noch. Diesen einen Wunsch. Dann ist Schluss. Es sind schließlich keine besonderen Wünsche. Keine, die ich nicht erfüllen könnte und es ist ja auch nicht jeden Tag. Wenn Jasper da ist, herrscht Ruhe. Da ist er das perfekte Kind. Ein süßer Junge. Mein kleiner Tom.

 

Und doch … alles ist anders zwischen uns geworden. Es ist wie ein Geheimnis – nur zwischen uns beiden. Niemand soll es wissen. Auch Jasper nicht. Ich beruhige mich. Rede mir ein, dass er nur seine Grenzen austestet.

Oder hat er bereits jeglichen Respekt verloren. Vor mir? Er überschreitet bewusst eine Grenze nach der anderen. Seine Forderungen werden maßlos. Vielleicht hofft er insgeheim auf die nötige Konsequenz? Dass er zurückfinden kann. Zu mir. Auch jetzt noch. Dann gäbe es wieder eine Chance.  Aber ich spiele mit aus Angst, ihn zu verlieren. Süchtig nach seiner Liebe, die er mir entzieht, wenn ich nicht gebe, was er will.

 

***

 

Die Jahre machen es nicht besser. Der Ton wird immer härter und manchmal hebt er die Hand gegen mich. Doch soweit wird es niemals kommen. Mich zu schlagen, wird er nicht wagen. Niemals! Das weiß ich genau.

 

Wie kann ich mir da nur so sicher sein, flüstert eine kleine böse Stimme in meinem Inneren.

 

Trotz allem gibt es kein Machtwort. Keine Grenze. Nicht von mir. Ich schaue weg. Schaue nicht auf die Hand und nicht in die hasserfüllten Augen.

 

Warum ich mich Jasper nicht anvertraue? Mein trauriges Geheimnis nicht zu dem Unseren mache, und ihm endlich erzähle, wie das Leben mit Tom geworden ist. Für mich?

Ich bin ein Künstler im Verdrängen. Im Verbergen von Gefühlen. Im Lügen.

Ich sage nichts, um nicht auch noch Jaspers Respekt zu verlieren. Ich will nicht zugeben müssen, dass ich nichts mehr im Griff habe – dass ich versagt habe.

 

Und was könnte Jasper jetzt noch ausrichten?

 

Ja, ich verdränge und versuche sie zu verbergen.

Die Angst.

Angst vor meinem eigenen Kind. Vor seiner Wut und seiner Unbeherrschtheit.

 

***

 

„Her mit dem Geld, mach schon.“, böse funkeln mich seine Augen an. Sie haben ihr babyblau verloren. Sie sind mir überhaupt sehr fremd geworden. Diese Augen. Alles an ihm. Dieser junge Mann, der da fordernd vor mir steht, hat nichts mehr mit meinem kleinen Tom gemein.

 

Wie konnte es nur so weit kommen?

War es der Liebe zu viel? Gibt es überhaupt zu viel Liebe für ein Kind? Sollte Jasper tatsächlich recht gehabt haben. Mit den Grenzen und dass nicht alle Wünsche erfüllt sein müssen … und er hätte mich trotzdem geliebt. Oder gerade deshalb? Habe ich aus ihm gemacht, was er gerade hier zur Schau stellt?

 

Zittrig fingere ich einen 50 Euroschein aus meinem Geldbeutel. Ungeduldig reißt ihn mir Tom aus der Hand.

 

„Ist das alles?“, schreit er mich an und ballt seine Fäuste.

 

Erschrocken gehe ich einen Schritt rückwärts. Zu spät. Ein harter Schlag trifft mich mitten ins Gesicht.

Solch Hass in seinen Augen.

Tom. Mein kleiner Tom.

Ich knalle mit dem Hinterkopf gegen die Schrankwand. Zum Glück ist Jasper nicht zu Hause. Nicht auszudenken was passiert wäre - in diesem Moment.

Langsam rutsche ich an dem weißen Schleiflack der Schranktür zu Boden. Wie ein Häufchen Elend sitze ich da. Zitternd. Mir ist kalt. Das Gesicht zwischen den Knien vergraben. Die Nase schmerzt. Sie ist sicher gebrochen – glaube ich. Blut tropft auf die Hose. Mein Kopf brummt. Tränen schießen mir in die Augen. Alles verschwimmt. Mein ganzes Leben. Trotzdem versuche ich seinen Blick einzufangen. Ich will in seine Augen schauen.

 

„Tom“, meine Stimme klingt anders. Sie gehört mir nicht mehr.

 

Er weicht zurück. Dreht sich eilig um. Richtung Tür.

 

Begreife ich überhaupt was gerade eben geschehen ist? Was er getan hat.

 

„Das hast du nun davon.“ Seine Stimme klingt hohl. Genau so fremd wie meine.

 

Hat er sich ebenso erschreckt? Über seine geballte Faust. Über sich selbst und sein ungeheuerliches Tun? Ich höre die Wohnungstür ins Schloss fallen. Er ist weg.

 

Ein Machtwort? Jetzt endlich?

Zu spät.

Alles ist zu spät.

Auch für mein inneres Schatzkästchen. Verzweifelt versuche ich, das warme Gefühl hervorzuzaubern wie ich es sonst immer mache, um mich zu beruhigen. Um mich zu erinnern. An den kleinen Körper in meinen Armen, den Duft seiner Haut, den feuchten Kuss auf meinem Mund. Es bleibt verschlossen. Weil alles anders geworden ist? Alles! Ein anderer Tom ... und doch derselbe.

 

Wie soll ich ihm begegnen? Jetzt? Danach ...

 

… und was soll ich Jasper sagen? Wie erkläre ich mein Aussehen?  Die gebrochene Nase.

Vielleicht, dass ich auf der Treppe gestürzt bin. Samt den Einkäufen und mich deshalb nicht abfangen konnte. So ungeschickt bin ich eben manchmal.

Er wird mir glauben. Er wird nichts anderes denken. Warum auch.

 

 

 

Impressum

Texte: Karin Hufnagel
Bildmaterialien: Karin Hufnagel
Cover: Karin Hufnagel
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2020

Alle Rechte vorbehalten

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