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Ich kann nicht glauben, was ich sehe



Hanna

 

Es war schon wieder Freitagabend. Ein einsames Wochenende gähnte mir entgegen - endlos und öde. Das musste endlich aufhören. Ich war mir viel zu schade, um zu Hause zu versauern. Schwungvoll klappte ich den Deckel meines geliebten Laptops auf. Er würde mir den Mann fürs Leben beschaffen - meinen Mr. Right, da war ich mir sicher. Es gab im Internet genügend Möglichkeiten und willige Männer. Ich loggte mich auf dieser hochgepriesenen Single-Plattform ein, bei der ich mich vor kurzem angemeldet hatte. Mein Profil leuchtete mir auf dem Bildschirm entgegen: Hanna, 43 Jahre alt - interessiert an: Männern. Krass, wie sich das anhörte. Aber was sollte ich machen, es war einfach so.

 

Neugierig klickte ich mein Postfach an - leer, total enttäuschend. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Sicher lag es nur an dem viel zu biederen Avatar. Das wollte ich sofort ändern, denn die "Ware" musste schon entsprechend feilgeboten werden. Diesen an sich traurigen Gedanken fand ich ungemein witzig und kicherte albern vor mich hin. Irgendwo hatte ich in meiner Bildergalerie noch ein Foto mit tiefem Dekolleté und verheißungsvollem Blick. Angestrengt starrte ich in den Monitor und hackte entnervt auf der Tastatur herum. Zum dritten Mal versuchte ich nun schon, das aufreizende Bildchen in meinem Profil hochzuladen. Es wollte mir einfach nicht gelingen und ich spürte, wie eine Welle der Ungeduld über mich schwappte.

 

Unbeherrscht packte ich meinen handlichen Computer und schüttelte ihn unsanft, dabei klatschte etwas auf den Tisch. Zu meinem Erstaunen blieb es jedoch nicht einfach liegen, sondern bewegte sich eilig Richtung Tischkante, stolperte dabei über meinen orangefarbenen Bastläufer und fiel der Länge nach hin. Sprachlos verfolgte ich die Szene - fühlte mich für einen Moment völlig paralysiert - stülpte jedoch dann reflexartig meine Hand darüber. Behutsam fingerte ich dieses Etwas in der Handfläche zurecht und schob neugierig meine Brille auf die Nase. Das, was ich sah, würde mir kein Mensch glauben. Es war die Miniaturausgabe einer Frau mit lockigem blonden Haaren, in einer hautengen Jeans und einem reichlich dekolletierten schwarzen Oberteil - und genauer betrachtet, war es mein lebendig gewordenes Avatar.

* * *

Für mich völlig unbegreiflich plumpste es aus meinem Computer und versetzte mich schlagartig in eine körperliche und geistige Lähmung. Nur meine Augen bewegten sich noch. Ich starrte ungläubig in meine Handfläche. Jetzt war es passiert! Ich war übergeschnappt. Ohne Vorwarnung, einfach so.

 

„Was soll das denn jetzt?“ zischte dieses kleine Menschlein böse.

 

Es sprach! Meine Lippen formten ein tonloses

 

"Hallo", denn auch meine Stimmbänder streikten. Ich räusperte mich und versuchte es erneut. Es wurde jedoch nur ein heiseres Geflüster.

 

Und dann saß ich da und versuchte meine Gedanken zu sortieren, dieses heillose Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen. Ich brauchte eine Erklärung. War ich wirklich verrückt geworden? Ein bedauernswertes Opfer dieser maßlos traurigen Wochenenden? Ein Traum? Oder eine Halluzination? Aber diese Fatamorgana, dieses Trugbild in meiner Hand, war mehr als lebendig. Es winkte und hopste hektisch auf und ab.

 

„Hallo..hallo..." äffte es mich mit schriller Stimme nach."Träumst du? Ich will in mein Leben zurück!" Dabei stampfte es mit seinen hochhackigen Schuhen boshaft in meiner Handfläche umher.

 

"Aua!" Ich zuckte zusammen und die Starre wich schlagartig aus meinem Körper. Etwas unsanft setzte ich das Avatar auf den Tisch zurück. Es wollte gar nicht zu mir, es wollte nach Hause. Solch ein Glück. Gleich würde der Spuk vorüber sein. Ich atmete tief aus und wartete. Aber leider verschwand es nicht. Eine böse Vorahnung beschlich mich. Argwöhnisch beobachtete ich, wie es wütend einmal um den Laptop herum stakste und dann unbeholfen auf die Tastatur kletterte. Da stand es nun und wirkte ein wenig ratlos. Seine anfängliche Verärgerung hatte jetzt einer bemitleidenswerten Hilflosigkeit Platz gemacht.

 

„Ich finde den Eingang nicht.“ Das war unfassbar, schließlich fiel es ja auch heraus. Es sollte einfach wieder verschwinden. Egal wie! Mit einer fahrigen Handbewegung schob ich die kleine Hanna-Kopie vom Computer zurück auf den Tisch. Missmutig drehte und wendete ich den Laptop in alle Richtungen, um besser die Ein- und Ausgänge betrachten zu können. Jedoch konnte ich nichts entdecken, wie sie jemals wieder ins „Innenleben“ gelangen konnte.

 

„Ich verstehe nicht, wie du da rausgerutscht bist",  krächzte ich mit einer Stimme, die mir noch immer nicht gehörte.

 

„Du hast wie blöde geschüttelt und ich konnte mich nicht länger festhalten.“

 

Das fand ich jetzt aber gewaltig übertrieben, sogar ziemlich frech. Eigentlich hatte ich nur meinen Laptop ein wenig hin und her gerüttelt, mehr nicht.

 

„Das wäre nicht passiert, wenn du anständig deiner Arbeit als Avatar nach gekommen wärst",  verteidigte ich mich. Jedoch gab meine Kopie nicht so schnell klein bei. Jeder glaubte sich im Recht und der anfänglich öde Freitagabend endete in einem handfesten Streit, der meinen Pulsschlag in die Höhe trieb und die Zornesader auf meiner Stirn anschwellen ließ – bis sich irgendwann mein kleines Ich erschöpft und in Tränen aufgelöst als winziges Häuflein zusammen kauerte. Jetzt tat es mir sogar ein wenig leid. Aber nur ein bisschen, denn ich sah überhaupt keine Möglichkeit, es wieder in sein Leben zurückzuschicken.

 

„Du musst erst einmal hier bleiben",  stellte ich entnervt fest. Aber wohin mit dieser schrecklichen kleinen Person? So hatte ich mir mein Wochenende nicht vorgestellt und ich sehnte mich nach meinen langweiligen, herrlich tristen Abenden.

 

Glücklicherweise fiel mir meine alte Puppenstube ein, die irgendwo auf dem Dachboden vor sich hinstaubte. Nicht ganz ohne Stolz präsentierte ich kurze Zeit später meinen fast vergessenen Kleinmädchentraum. Eine Puppen-Villa in strahlendem Weiß mit einem rosaroten Dach. Verträumt wanderten meine Gedanken zurück - weit zurück. Bunt und fröhlich führten sie mich in eine Welt, in der noch alles in Ordnung war. Wie entzückend ich doch in dem himmelblauen Kleid aussah. Das mit den kleinen rosafarbenen Streublümchen - meinem Lieblingskleid...

 

"Hallooo, was ist denn jetzt?"

 

Mein kleines Avtar klang sehr gereizt. Geduld war wohl nicht seine Stärke. Ja, das kannte ich nur zu gut. Also taumelte ich widerwillig in die Wirklichkeit, mit der ich im Moment gar nichts zu tun haben wollte und suchte einen geeigneten Platz für das Häuschen. Diese Hanna-Kopie besaß eine unglaubliche Energie. Aufgeregt marschierte sie im Haus umher, befahl und bestimmte, wo alles platziert werden sollte. Sie fuchtelte und wedelte mit ihren kleinen Händen umher und spießte mit dem Zeigefinger imaginäre Löcher in die Luft. Fasziniert starrte ich sie an, wie sie unermüdlich vor sich hin plappernd von einem Zimmer ins nächste eilte. Und mein Herz schmolz dahin. War sie nicht unglaublich niedlich? Dieses zauberhafte kleine Wesen - diese perfekte Imitation, nur die Größe unterschied uns. Unfassbar, unbegreiflich und doch die totale Realität. Und so ergab ich mich seufzend meinem Schicksal, ließ mich nur allzu gern herum kommandieren und stellte die filigranen Möbel nach ihren Vorstellungen auf. Sogar die Beleuchtung funktionierte noch mit Hilfe eines 9-Volt-Blocks. Zufrieden betrachtete ich mein altes Puppenhaus, das auf meinem Kiefersideboard in neuem Glanz erstrahlte. Es machte immer noch etwas her, so als wäre die Zeit achtlos an ihm vorüber gegangen. Im ersten Stock befand sich ein riesiger Balkon, es gab ein Tageslichtbad und sogar einen begehbaren Kleiderschrank. Meine Miniaturausgabe schien gar nicht mehr so bekümmert über den unfreiwilligen Umzug zu sein und machte es sich so richtig gemütlich. Auf ihrem zarten Gesicht spiegelte sich wohlige Behaglichkeit und ich beneidete sie um dieses Gefühl.

 

* * *

Nach ein paar Wochen hatte sich eine gewisse Routine in unserem Leben breitgemacht. Wir frühstückten jeden Morgen gemeinsam. Mein kleines Avatar war genau so ein Morgenmuffel wie ich - welch ein Segen. So gab es keine Schwierigkeiten. Beide stierten wir mit trüben Schlafsand-Augen in die milchig braune Kaffeebrühe und knabberten im Zeitlupentempo an einem Marmeladentoast. Schweigsam. Wenn ich dann ins Büro ging, schlüpfte Klein-Hanna wieder unter die Decke. Was für ein chilliges Leben sie doch hatte. Abends empfing sie mich dann ausgeruht und in bester Laune. Ich fand es herrlich, sehnlichst erwartet zu werden. Ein schönes Gefühl, das ich so lange vermisst hatte. Gemeinsam verfolgten wir das Fernsehprogramm - ohne Theater, denn wir liebten die gleichen Filme. Samstags gingen wir ab und an shoppen – natürlich in die Barbie-Ecke der Spielzeugabteilung und jedes Mal war mein Einkaufskorb prall gefüllt. Schuhe, Klamotten und Accessoires. Einmal kaufte ich sogar ein Trekkingbike in schreiendem Pink, das sie aber nur selten benutzte. Ich konnte ihr nichts abschlagen. Auch nicht unsere neueste Errungenschaft, ein batteriebetriebener roter Sportflitzer.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karin Hufnagel
Bildmaterialien: Karin Hufnagel
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2012
ISBN: 978-3-95500-002-8

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