Noch immer sitzt Marius in diesem endlosen Traum fest. Er findet einfach nicht die Tür, um wieder in die Wirklichkeit zu gelangen. Mit großen Augen starrt er ängstlich in die Dunkelheit. Irgendwann hat er aufgegeben, gegen dieses Schwarz anzurennen. Verzweifelt bohrt er nun mit seinen kleinen Fingern Löcher in das Dunkel, obwohl er genau weiß, dass der Tag niemals durchschimmern wird.
Denn mit Entsetzen beobachtete er, wie die Sonne ins Meer stürzte. Er weinte um die Sterne, die nach und nach erloschen. Übrig blieb nur noch der Mond. Groß und rund hing er am Himmel. Marius hatte Angst, dass auch er einfach verschwinden würde und so stieg er auf eine Bank, um ihn herunter zu holen. Doch er war zu schwer und rutschte aus seinen Armen. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerschellte er auf dem harten Asphalt. Von diesem Moment an herrschte absolute Dunkelheit.
„Oh je, du armer, armer Mond, das habe ich nicht gewollt“. Jammert Marius erschreckt. Aber das Dunkel saugt schmatzend seine kläglichen Worte ein. Dumpfe Stille ist die Antwort. Zittrig tasten seine Hände über den Boden. Vorsichtig steckt er Scherbe für Scherbe in die Hosentasche. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Gefangen im Dunkeln. Blind und taub für den tickenden Sekundenzeiger. Mit den Mondsplittern in der Tasche sitzt Marius da und schaut in die nicht mehr enden wollende Nacht.Zeit verliert ihre Bedeutung. Und dann ist es plötzlich da. Unbemerkt fängt es an zu leuchten. Einfach so. Ein zaghafter Schein in der Ferne. Marius reibt sich die Augen. Sein Herz gerät völlig außer Takt, ihm ist ganz schwindelig vor Aufregung. Wie die Motte, die das Licht sucht, macht sich Marius auf den Weg aus der Hoffnungslosigkeit. Er wandert einem schimmernden Grau entgegen. Seine kindliche Freude darüber lässt ihn Springen und immer schneller laufen. Er hat keinen Blick für die Bäume, die zusammen gefallen und kraftlos am Wegrand kauern und die schon viel zu lange auf den neuen Tag warten. Es wird heller und heller. Umrisse nehmen wieder Gestalt an. Farben drängen sich aus dem Schwarz. Noch sind sie ein wenig erschöpft. Schwer liegt ein trüber Schleier auf ihnen. Mattgraues Grün der Wiesen und stumpfes Rot und Gelb der Blumen, sind gequälte Zeugen der schier endlosen Nacht.
Endlich hat Marius die Lichtquelle erreicht. Ungläubig steht er da. Eine wie von riesiger Hand eingeschraubte Glühbirne zieht ihre Kraft aus den Wurzeln eines Baumstumpfes. Ihr strahlender Schein reicht bis in den Himmel. Die erloschenen Sterne wärmen sich daran und trinken gierig das Licht. Satt und zufrieden fangen sie wieder an zu leuchten. Irgendwann ist der Himmel übersät mit abertausenden von blinkenden Sternen. Marius ist sprachlos. Eilig stülpt er seine Hosentasche nach außen und fügt atemlos Scherbe um Scherbe des zerborstenen Mondes zusammen. Groß und rund liegt er nun vor ihm. Und auch ihm schenkt die Glühbirne neue Kraft, füllt ihn mit glänzendem Gelb. Vorsichtig hängt Marius den Mond wieder an den Himmel. Glücklich legt er sich neben das sonderbare Licht und betrachtet zufrieden das lebendige Blinken und Funkeln. Eine ganz normale Nacht. Und folgt nicht auf jede Nacht immer ein neuer Tag? Doch Marius ist viel zu müde um darüber nachzudenken, die Augen fallen ihm einfach zu....
Texte: Karin Hufnagel
Bildmaterialien: Karin Hufnagel
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2011
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