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"Verehrte Fluggäste, in kürze erreichen wir Cody, Wyoming. Bitte stellen Sie ihre Sitze in eine aufrechte Position und legen sie ihre Sicherheitsgurte an", ertönte es aus den Lautsprechern des Flugzeugs. Mit einem Seufzen klappte Lucy die Vogue zusammen und kramte aus ihrer Tasche ihren i-Pod hervor. Mit den Kopfhörern im Ohr und vollaufgedrehter Musik starrte sie aus dem kleinen Fenster neben ihrem Sitz.
Cody, Wyoming,. Was Besseres hätte mir nicht passieren können, dachte sie spöttisch. Die Kleinstadt mitten in der Einöde der Rocky Mountains besaß sage und schreibe 9.309 Einwohner, die dortige High School besuchten 697 Schüler.
Und hierhin haben Ma und Dad mich für ein Jahr verbannt. Ich kann das immer noch
nicht glauben. In dem einem Moment sitzen wir noch am Küchentisch und im nächsten knallen sie mir diese Broschüre vor die Nase mit den Worten: "Es wird dir gut tun, mal ein wenig hier raus zukommen!".
Das war vor 3 Wochen gewesen. Lucy hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, doch ihre Eltern waren unnachgiebig geblieben.
"Dabei hab ich dir doch versprochen, dich nie mehr alleine zu lassen, Cinth", flüsterte Lucy mit bebenden Lippen.
Ihre Sitznachbarin, eine ältere Frau mit dem so typischen Cowboyhut, stupste sie an. Lucy wandte sich ihr zu, konnte aber nicht verstehen was sie sagte, ihre Musik war zu laut. Deshalb nickte sie knapp und sah wieder hinaus. Eine Sekunde lang überlegte sie, ob es nicht unhöflich war, doch vertrieb sie diesen Gedanken schnell wieder. Im Leben ging es eben nicht immer nett und gerecht von statten. Das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen.
Die kleine Maschine in der sie saß, flog nun tiefer über der schwarzen Fläche, zu der die Berge um Cody in der Nacht wurden. Zwei einsame Lichter links kündeten von der Landebahn, ansonsten herrschte nur Dunkelheit.
Rumpelnd kam das Flugzeug zehn Minuten später am Boden auf. Sobald die Anschnallleuchten ausgingen begann ein hektisches Treiben um das Mädchen herum. Alle Passagiere bemühten sich möglichst schnell aus der Enge des Flugzeugs zu entkommen. Nur Lucy blieb sitzen, fast wie erstarrt und wollte ihren Sitzplatz nicht verlassen. Wenn sie aus dem Flugzeug stieg, dann wäre sie wirklich nicht mehr zuhause. Dann gäbe es kein Zurück mehr. Sie wäre endgültig in einem Land angekommen, in das sie nicht wollte, in das sie nicht hingehörte.
Vielleicht nimmt das Flugzeug mich ja wieder mit wenn ich einfach hier sitzen bleibe, überlegte Lucy.
Auch ihre Sitznachbarin war inzwischen aufgestanden und zum Ausgang hin verschwunden.
„Miss, Sie müssen jetzt leider gehen. Ich hoffe Sie haben einen angenehmen Aufenthalt!“. Eine der Stewardessen war neben Lucy im Gang stehen geblieben und machte dieser höfflich aber bestimmt klar, dass es kein Entkommen gab. Resigniert stopfte Lucy ihre Zeitschrift in die Tasche, schnallte sich ab und holte die Jacke aus der Klappe über ihrem Sitz.
Sie folgte den anderen Fluggästen die schmale Treppe hinab, die aus dem Flugzeug führte und lief über die Rollbahn zu dem kleinen Gebäude, das als Ankunft- und Abflughalle diente. Ohne weitere Sicherheitschecks gelangte sie durch einen Raum in einen Flur, der in die Ankunftshalle führte. Dabei war das Wort Ankunftshalle eindeutig übertrieben. Ein kleines Zimmer mit einem winzigen Informationsschalter, einer drei Meter langen Gebäckausgabe und einer Glastür, die aus dem Gebäude hinausführte, hatte wohl kaum die Bezeichnung Halle verdient. Über der Gebäckausgabe hin ein Poster von Buffalo Bill.
Willkommen im Land der Einsiedler und Kuhfreaks, dachte Lucy im Stillen.
Suchend sah sie sich in dem Raum um und zog die Stecker ihres I-pods aus den Ohren.
Die entfernte Verwandte ihres Vaters, die sie hier abholen sollte, konnte sie unter den wenigen Leuten, die sich hier aufhielten, nicht erkennen. Etwas verloren stellte sich Lucy an das Rollband, auf dem bereits die ersten Gepäckstücke ankamen. Ihre beiden Koffer waren die ersten.
Sie schnappte sich ihr Gepäck, warf noch einmal einen Blick über die Handvoll Menschen und marschierte dann zum Ausgang. Marcie Lovelly hätte sie hier abholen sollen. Sie war nicht da. Toller Anfang, gestrandet im Nirgendwo.


"Und du bist wirklich sicher, dass du alleine klar kommst, Honey", fragte die Frau mit dem hellen Cowboyhut und der breiten Gürtelschnalle zum dritten Mal und sah Lucy besorgt an. Diese nickte mit einem verkrampften Lächeln und beteuerte erneut, ihr würde nichts fehlen und ihre Bekannte würde sicher bald auftauchen. Mit einem letzten nachdenklichen Blick wandte sich die Frau ab und stieg in den verbeulten Pick up, der hinter ihr schon wartete. Lucy tat so, als würde sie das abschließende Winken ihrer Sitznachbarin aus dem Flugzeug nicht bemerken. Sie fand es ja nicht wirklich schlimm, dass die Frau sie angesprochen hatte, doch wollte sie nicht mit irgendwelchen fremden Leuten reden. Das würde sie schon das ganze nächste Jahr über tun müssen.
Vor einem halben Jahr hätte sie vermutlich noch ganz interessiert mit der Frau plaudern können, aber seitdem war einfach zuviel passiert.
Nervös lief Lucy die paar Schritte zwischen Ein und Ausgang des Flughafengebäudes auf und ab. Ihr Flug war um halb elf gelandet und Marcie hatte rechtzeitig da sein wollen. Inzwischen war es halb zwölf, Marcie war immer noch nicht aufgetaucht und trotz der Sommerhitze des Augusts wurde es in den Bergen nachts schnell kalt. Lucy zog ihre Jacke enger um sich und verschränkte die Arme um sich ein bisschen zu wärmen. In den Warteraum wollte sie nicht zurück, dort würden sie nur von den Frauen am Infoschalter gemustert werden.
Genervt und müde holte sie ihr Handy aus der Tasche und klappte es auf. Kein Empfang, was hatte sie auch erwartet. Sie stapfte zu ihren Koffern zurück, die sie am Ausgang hatte stehen lassen und lies sich mit einem lauten Seufzen auf sie fallen. Auf dem großen Koffer sitzend, die Beine in der Luft hängend kam sie sich noch kleiner und verlorener vor, als zuvor im Flugzeug.
Gerade als sie ihren I-pod anmachen wollte, hörte sie das Grollen eines Autos, und sah Lichter die sich schnell näherten. Aufgeregt sprang sie auf und im selben Moment einen Meter zurück, als ein alter Pick-up mit quietschenden Reifen knapp vor ihr zum Stehen kam. Die dunkle Farbe blätterte an einigen Stellen ab und Seitenwand, sowie Vorderfront waren mit einer dicken Schicht Schlamm bedeckt. Sogleich wurde die Fahrertür aufgerissen und ein Junge sprang aus dem Fahrzeug. Frustriert ließ sich Lucy zurück auf die Koffer sinken und starrte ihre Schuhspitzen an. Auch wenn sie nur ein altes, körniges Bild von Marcie kannte, das war sie mit Sicherheit nicht. Vielleicht sollte sie ja doch wieder in das Gebäude gehen, Sicherlich könnte sie dort das Telefon benutzen um auf Marcies Ranch anzurufen.
Schritte knirschten auf dem Kies der Fahrbahn und Lucy hob langsam den Blick als sie kurz vor ihr zum Stehen kamen.
"Lourance Green?", fragte eine samtene Stimme. Lucys Blick glitt über staubige Cowboyboots, abgetragene Blue Jeans, die tief auf den Hüften saßen und von einem Gürtel mit großer Schnalle gehalten wurden ,über ein einfaches schwarzes T-Shirt hoch zu dem Gesicht, das von dem, für den mittleren Westen typischen Cowboyhut verdeckt wurde. Langsam stand sie wieder auf und umklammerte mit beiden Händen nervös ihren I-pod.
"Ja", sagte sie nun zögerlich. Sie war...misstrauisch. Ja das war das richtige Wort. Sie stand mitten in der Einöde in der Nacht und ein Fremder quatschte sie mit ihrem Namen an. Sie spürte seinen Blick über sich gleiten. Ihr Outfit, schwarze Pumps mit acht Zentimeter Absatz, Königsblaue, enge Leggins, dazu ein weites graues Shirt, mit einem breiten schwarzen Gürtel und eine ebenfalls schwarze dünne Jacke, die jetzt, da sie sie nicht mehr festhielt, vorne aufklaffte verleiteten seine schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln und mit einer lässigen Bewegung schob er sich den Hut zurück. Seine Augen waren grau oder blau, erkannte sie nun, in dem dämmrigen Licht. Die dunklen Brauen schwangen sich kühn darüber, und die hohen Wangenknochen ließen ihn schön aussehen. Ein Wort was Lucy eher selten mit Männern in Verbindung brachte, doch zu ihm passte es einfach.
Wie ein Model aus der Marlboro-Werbung, fand Lucy, nur das er höchstens ein oder zwei Jahre älter als sie sein könnte.
"Ich bin Drew. Marcie hat mich gebeten dich abzuholen. Eine ihrer Stuten hat Probleme beim Abfohlen, deshalb hat sie es nicht geschafft.", erklärte er. Auch wenn Lucy in Deutschland aufgewachsen war, erkannte sie an der schleppenden Stimme den texanischen Akzent, der ihr durch ihre Großeltern bekannt war. Ohne auf eine Antwort zu warten schnappte Drew sich ihre beiden pinken Koffer, wobei sie meinte ihn leise Lachen zu hören- sie mochte nun mal pink, dass war doch nicht sein Problem- und warf sie mit Schwung auf die Ladefläche des Wagens.
"Das war alles", erkundigte er sich. Sie brachte nur ein knappes Nicken zustande.
"Gut, dann mal los", damit öffnete er ihr die Beifahrertür. Seinen höhnischen Ton ignorierend und immer noch ein bisschen misstrauisch legte sie ihre Handtasche in den Wagen und sah sich dann nach einer Möglichkeit um, selbst hinein zugelangen, ohne bei dem Versuch in das hohe Ungetüm zu gelangen, auf die Nase zu fallen.
Plötzlich packten sie zwei Hände um die Taille und hoben sie hinein. Ihr entfuhr ein leises Quieken und sie zuckte bei der ungeahnten Berührung leicht zusammen.
Kopfschüttelnd schloss Drew die Tür und umrundete den Wagen, um auf dem Fahrersitz platz zunehmen. Als er den Moto anschmiss, hätte Lucy schwören können ihn "Das kann ja noch heiter werden", grummeln hören.
Möglichst unauffällig befühlte sie ihre Jackentasche. Die Dose Pfefferspray war noch da.

Sie fuhren schon eine ganze Weile schweigend durch die Dunkelheit, die die Scheinwerfer erhellten nur wenige Meter vor dem Auto. Lucy hatte sich von Drew abgewannt und starrte aus dem Beifahrerfenster in die Nacht.
Nur ein kurzes Gespräch hatte zwischen den Beiden stattgefunden, als Drew den Pick-up vom Flughafengelände herunter und entgegen Lucys Erwartungen auf den Highway, der von Cody wegführte gelenkt hatte.
„Wo fahren wir hin? Ich dachte Marcie wohnt in Cody“, hatte sie mit einem leichten Anflug von Panik in der Stimme gefragt.
Drew hatte die Augen nur kurz von der Straße auf sie gerichtet und dann geantwortet.
„Sie wohnt ein paar Meilen außerhalb. Ihre Ranch liegt am Greybull Highway. Sie könnte ihre Rinde ja kaum in einer kleinen Wohnung in der Stadt halten“. Dabei grinste er sie wieder mit diesem leicht spöttischen Lächeln an.
Daraufhin schwieg Lucy wieder, dachte sich aber im Stillen, dass man Cody weiß Gott nicht als Stadt bezeichnen konnte
Die „paar Meilen“ zeigten sich inzwischen schon als ein paar mehr, aber Lucy hatte damit gerechnet, dass Größenverhältnisse hier etwas anders genommen wurden als in Hamburg. Sie spürte Drews Blick auf sich und verkroch sich tiefer in ihrem Sitz. Stur starrte sie weiter aus dem Fenster.
Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte zurück nach Hause, in die gemütliche Vier-Zimmer-Wohnung nahe der Speicherstadt. Zurück zu der vertrauten Umgebung, und am liebsten zurück zu dem Tag, an dem sich alles veränderte. Sie würde es anders machen, ihr Versprechen halten.
Doch dafür war es zu spät. Es war nicht mehr Winter, sie war nicht mehr mit ihren Freunden zusammen in Hamburg, Cinth war nicht mehr da.
Ihre süße kleine Schwester hatte ihr vertraut, hatte fest an das Versprechen geglaubt das sie ihr gemacht hatte. Und war von ihr bitter enttäuscht worden.
Gequält schloss Lucy die Augen, doch die Bilder ließen sich nicht mehr vertreiben. Die dunkle Gasse, die Tür am Ende. Das Geräusch von Schritten hinter sich. Die Hand ihrer Schwester, die sich fest um ihre klammerte. Dann ein Schlag, Finger die ihr langsam entglitten. Ein Schrei und Hände die sie grob herumrissen.
„Verdammt!“. Drews Fluch riss Lucy aus ihrer Vergangenheit.
Drew riss das Lenkrad herum und trat gleichzeitig die Bremse durch. Lucy wurde in ihrem Sitz nach vorne geschleudert und der Gurt schnitt ihr unsanft in die Schulter.
Der Pick-up kam schräg auf der Straße zum Stehen. Direkt vor ihnen starrte eine Kuh mit riesigen Augen durch die Windschutzscheibe.
„Bist du in Ordnung?“, fragte Drew während er sich aufrichtete und vorsichtig den abgewürgten Motor neu startete und den ersten Gang einlegte. Lucy nickte stumm mit aufgerissenen Augen. Mitten auf der Straße stand eine Kuh. Und zeigte keinerlei Reaktion auf beinahe Zusammenstoß mit dem Auto, was nur durch die schnelle Reaktion Drews verhindert werden konnte.
Das ist wieder mal typisch für dieses Kaff, fand Lucy. Langsam manövrierte Drew das Auto um das Tier herum, welches sich immer noch keinen Schritt bewegt hatte.
Drew fummelte ein kleines Handy aus seiner Hosentasche und gab eine Nummer ein. Währenddessen erklärte er, als hätte Lucy gefragt, was auf einmal eine Kuh auf der Straße verloren hatte: „Manchmal gehen die Rinder hier durch die Zäune. Wir rufen den Sheriff an und sagen ihm Bescheid. So sind die anderen Fahrer gewarnt. Jack wird sich freuen. Seine Schicht ist gleich zu ende. Jetzt darf er nochmal los und das Vieh einfangen.
Bei den letzten Worten drückte er ihr das Handy in die Hand.
„Hier, übernimm du das. Ich muss beim Fahren aufpassen, will nicht in das nächste Rind reinfahren, das hier rumsteht.
Zögernd nahm Lucy das Handy in die Hand. Sie wollte doch mit niemandem reden. Aber das ließ sich jetzt wohl nicht vermeiden.
Sie hob das Handy an ihr Ohr, als auf der anderen Seite schon abgehoben wurde.
„Hier ist Jack, was ist das Problem Drew? Immer wenn du mich um diese Zeit anrufst, gibt es irgendein Problem“, ertönte die grimmige Stimme eines Mannes aus dem Hörer. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe.
„Ähm, also, hier ist nicht Drew“, brachte sie dann hervor. Ihre Stimme klang piepsig. Verdammt, ich hasse es mit der Polizei zu reden, dachte Lucy und warf Drew einen wütenden Blick zu. Er hatte ihr einfach das Handy in die Hand gedrückt und manövrierte den Pick-up jetzt vorsichtig über die Straße. Er ignorierte sie.
„Wer ist denn dann da und was ist passiert“, drang die nun höfliche aber auch etwas beunruhigte Stimme des Sheriffs an ihr Ohr. Sie atmete einmal tief durch.
„Hier ist eine Kuh“, stieß sie dann hervor.
An der anderen Seite des Telefons herrschte Schweigen. Drew stieß ein Prusten aus, das sich verdächtig nach einem unterdrückten Lachen anhörte.
„Da ist eine Kuh“, fragte der Sheriff mit besonderer Betonung auf das Wort Kuh. Lucy fiel erst jetzt ihr Fehler auf.
„Ja, ich meine nein. Hier ist eine Kuh auf der Straße“, verbesserte sie sich. Innerlich schallt sie sich selbst für ihre Nervosität.
„Die Kuh steht mitten auf der Straße. Man sieht sie nicht wirklich, wenn man mit dem Auto auf sie zukommt. Drew hat gesagt, ich soll Ihnen Bescheid sagen".
Der Sheriff kommentierte ihre Erklärung mit einem freundlichen Lachen.
"Gut, verrätst du mir trotzdem, wer du bist?"
"Lucy Green", antwortete sie knapp. Die Fragen, die er stellte, erinnerten sie zu sehr an die letzten Wintermonate, in denen andere Polizisten sie immer wieder mit Fragen durchlöchert hatten.
"Okay Lucy", redete der Sheriff, Drew hatte in Jack genannt- weiter. "Wo steckt unsere Kuh denn, die mich um meine wohlverdiente Nachtruhe bringt?".
"Auf dem Highway, wo denn sonst? Gibt es hier mehrere?". Lucy merkte selbst, wie ihre Stimme schnippisch wurde. Aber was sollte sie denn sonst tun. Polizisten sagen immer, sie sind dein Freund und Helfer. Aber in Wirklichkeit sind sie nie da, wenn man sie braucht. Und dann stellen sie nur Fragen, Fragen, Fragen...Aber dadurch wird es auch nicht besser. Die Vergangenheit konnte durch Fragen auch nicht verändert werde. Leben konnte nicht zurückgeholt werden.
Lou spürte wie ihr das Handy aus der Hand genommen wurde.
"Jack? Hier ist Drew. Wir sind auf dem Highway 14, zwischen der Nielson Ranch und der Scheune vom alten Runner. Das Rind sah aus wie eins von Nielson. Ich hab das Brandzeichen aber nicht gesehen, also könnte es auch wem anders gehören."
Auf der anderen Seite wurde wohl gesprochen, denn Drew verstummte kurz. Mit einem Seitenblick auf Lucy sprach er dann weiter. "Ja, ist sie. Ich hab Lourace grade vom Flughafen geholt und bring sie jetzt zu Marcie. Das Fohlen von Sugar kommt, also solltest du dich darauf vorbereiten ihr morgen einen Besuch abzustatten".
Nach ein paar weiteren Sätzen legte er auf und verstaute das Handy wieder in seiner Hosentasche.
"Du telefonierst wohl nicht so gerne, was", fragte er Lucy. Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. Er grinste weiter.
Sie hätte ihm am Liebsten seinen Hut um die Ohren gehauen, doch dann würden sie wohl mit dem Auto im nächsten Graben landen. Deshalb begnügte sie sich mit einem weiteren bösen Blick "Ich heiße Lucy. Nicht Lourance, kapiert. Und wann sind wir endlich da", schnauzte sie ihn an.
Er ließ ihr gezicke einfach an sich abprallen. "Genau jetzt", antwortete er gelassen.
Sie bogen von der Straße auf eine holprige Einfahrt ab, die von weißen Zäunen umgeben war, ein. Vor ihnen tauchten mehrere Gebäude aus der Dunkelheit auf, eine große Scheune, mit geöffnetem Tor, aus der gedämpftes Licht drang. Daneben ein kleines zweistöckiges Häuschen, das von einer Veranda umgeben war und im Hintergrund drei weitere Gebäude.
Kaum stand der Wagen auf dem Platz zwischen Scheune und Haus, sprang Lucy aus ihm und machte sich daran, ihre Koffer von der Ladefläche zu wuchten. Dass sie bei ihrem Sprung vom Sitz und der folgenden Landung schmerzhaft auf ihren Pumps umgeknickt war, versuchte sie zu ignorieren.
Wesentlich gelassener kam Drew aus dem Wagen und umschritt ihn gerade, als eine Frau aus der Scheune gelaufen kam.
"Drew, es ist endlich da! Ein kleine Stütchen und Sugar ist auch wohlauf.“
Lucy musterte die Frau, die einen kleinen Freudetanz um Drew herum aufführte und ihn schließlich in die Arme schloss. Dieser lachte fröhlich auf und erwiderte die Umarmung. Die Frau war ungefähr 35, entschied Lou. Sie trug alte Jeans, ein zerschlissenes graues Shirt und-natürlich - Cowboystiefel, Hut und Gürtel. Ihr dunkelblondes Haar war Schulterlang und zu einem lockeren Knoten verschlungen. Marcie. Lucy rührte sich nicht von der Stelle und wartete bis Marcie sich aus der Umarmung löste.
"Lourance! Wie schön dich zu sehen", rief Marcie und schloss auch sie in die Arme. Lou blieb stocksteif stehen und rührte sich kein Stück. Marcie schien das zu bemerken und ließ sie wieder los.
"Sie möchte lieber Lucy genannt werden", sagte Drew an Marcie gewannt, grinste Lucy dabei aber schelmisch an. Diese presste die Lippen zusammen und starrte an ihm vorbei.
"Oh, natürlich. Lucy, es ist so schön dich zu sehen. Es tut mir leid, dass ich dich nicht selbst abholen konnte, aber Sugar hatte ein paar Probleme bei der Geburt. Möchtest du das Fohlen sehen? Es ist ganz bezaubernd, ganz schwarz mit...", plapperte Marcie munter drauflos.
Lucy konnte und wollte nicht mehr. Es war einfach zu viel.
"Ich möchte nicht. Wo ist mein Zimmer, ich will schlafen", brachte sie dann hervor. Marcie hielt verblüfft inne. Dann fing sie sich.
"Aber, ja. Du musst ganz müde sein. Im zweiten Stock das Zimmer auf der rechten Seite gehört dir. Ich hab dein Zimmer schön für dich fertig gemacht, du musst also nur noch ins Bett fallen und schlafen. Drew, wärst du so lieb und würdest ihre Sachen hochbringen?".
"Nein, danke. Ich bring meine Koffer selbst hoch", warf Lucy ein, bevor Marcie oder Drew noch irgendetwas sagen konnten. Dann stapfte sie, die Koffer hinter sich her ziehend, zu dem Haus, öffnete Fliegengitter und Tür- natürlich nicht abgeschlossen- und ließ die Beiden draußen allein zurück.
Der Flur war in dunklem Holz gehalten, ein paar Bilder hingen an der Wand, ein Sideboard stand neben einer der drei Türen, die aus dem Flur führten. Am Ende des Gangs war eine Treppe. Lucy lief sie hinauf und zog die Koffer mit. Oben angekommen fand sie einen Lichtschalter und öffnete die Tür auf der rechten Seite. Sie betrat ein Zimmer mit einer Dachschräge auf der gegenüberliegend zur Tür und einem großem, tiefen Fenster mit breiter Fensterbank an der linken Wand. Ein gemütliches Bett stand an der Dachschräge. Ein Schrank neben der Tür und ein Schreibtisch an der rechten Wand. Neben dem Fenster standen ein kleines Regal und ein Schaukelstuhl. Lucy lies die Koffer mitten im Raum stehen, zog ihre Jacke aus und warf sie auf den Schaukelstuhl, dasselbe machte sie mit ihren Schuhen, dann schmiss sie sich auf das Bett. Sie rollte sich zusammen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Wieso war sie hier? Es machte doch alles keinen Sinn. Sie wollte zurück, sie wollte nicht hier sein, wo alle so tuen würden als sei nichts passiert. Als hätte es ihre Schwester nie gegeben. In Hamburg wurde sie wie eine Glaspuppe behandelt, aber da konnte sie wenigstens zu Cinth. Hier war sie allein.
Oh Cinth, wie konnte das alles nur passieren, fragte Lucy sich, dann schlief sie ein.

Impressum

Texte: Die Geschichte gehört mir. Vervielfältigung ist nicht gestattet.
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2010

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