Nach der Berufsausbildung habe ich vor einer Woche meine erste Arbeitsstelle angetreten, weit weg von zu Hause. Die Kollegen sind mir freundlich gesonnen. Allerdings sind sie bedeutend älter, allesamt verheiratet und haben andere Interessen als ich. Freundschaften konnte ich noch nicht schließen.
Es ist deprimierend, nach getaner Arbeit das Zimmer zu betreten, wo mich keine Menschenseele erwartet.
Heute musste ich Überstunden absolvieren.
Ich beschließe, das Zentrum der Kleinstadt aufzusuchen, um ins Kino zu gehen. In der Spätvorstellung läuft ein Spielfilm, der wegen seiner Schauspieler gute Kritiken erhielt.
Endlich ist es so weit. Der Film handelt von einem brutalen Vergewaltiger, der Frauen mit langem blonden Haar bevorzugt. Ich würde voll seinen Kriterien entsprechen.
In seinem Befriedigungswahn quält er die Opfer bestialisch, bevor er sie tötet. Als Fetisch säbelt er einen Finger ab ...
Mein Herz wummert kräftig gegen die Brust. Die Spannung knistert im Kinosaal. Es ist befreiend zu wissen, dass ich nur als Zuschauer einer Fantasie folge.
Der Abspann folgt, ich verlasse das Kino.
Laut Plan, müsste bald der für heute letzte Linienbus kommen. Aber eben nur laut Plan. Ich warte vergebens an der Haltestelle.
Meine Schritte führen mich Richtung Landstraße. Sie bietet die einzige Möglichkeit, ins benachbarte Dorf zu gelangen, in dem ich wohne. Taxis sind in der DDR rar, in dem Provinznest sowieso.
Ich werde die vier Kilometer zu Fuß zurücklegen.
Fade beleuchtet der Mond die Strecke, die vor meinen Füßen liegt, und in der Ferne von der Dunkelheit verschluckt wird.
Ich laufe auf der linken Straßenseite. Der Kinofilm spukt im Kopf herum. Was wäre, wenn aus dem Gebüsch ein Mann springt, um mich hineinzuzerren?
Allein der Gedanke an eine Vergewaltigung erzeugt Panik. Ans Sterben mag ich gar nicht denken.
Nichts geschieht.
Ich beginne, das nächtliche Flair zu genießen.
Scheinwerfer durchstechen die Dunkelheit! Ihr Licht wird größer. Mir sinkt das Herz in die Magengrube. Ein Auto fährt mit hoher Geschwindigkeit vorbei.
Ich atme tief und und schreite entschlossener voran. Es wäre besser, bald am Ziel zu sein.
Ein Motorrad kommt entgegen!
Die Angst ist kalt.
An meiner Seite verlangsamt der Fahrer das Tempo. Er schaut mich gefühlte Stunden lang an, ehe er davon düst.
Wendet er etwa? Das Motorengeräusch nähert sich auf der anderen Straßenseite. Er fährt im Schritttempo neben mir her.
Die Nacht hängt bleischwer über der Straße.
Die Übelkeit quetscht meine Kehle.
Was soll ich machen? Umkehren? Das würde nichts bringen, denn die halbe Strecke müsste bereits hinter mir liegen.
Ich schaue in seine Richtung. In der Dunkelheit erkenne ich die kräftige Gestalt nur verschwommen.
Die Angst saugt sich wie ein Blutegel in meinem Gehirn fest. Ich denke an den Spielfilm, an Folter und Sterben. Was, wenn ich seinem Beuteschema entspreche?
Er dreht erneut seinen Kopf zu mir.
Wäre ich doch nur nicht ins Kino gegangen!
Kein anderes Fahrzeug nähert sich.
Mich beherrscht die pure Panik.
Er fährt langsam neben mir her.
Endlich, der Feldweg! Ich biege ab.
Er folgt nicht.
Ich stolpere voran.
Hastig steige ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.
Erleichtert verschließe ich die Tür.
Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2021
Alle Rechte vorbehalten