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Oma


Ich wache auf, weil mir zu eng ist. Die Beine können nicht so zappeln, wie ich es gern möchte. Ich drücke und drücke, es geht nicht. Ich stoße überall an.
Hinten presst etwas an meinen Kopf, die Seiten lassen mir nicht viel Platz. Nach unten kann ich rutschen. Ich liege hart auf einer zusammengefalteten Decke. Es ist hässlich. Nein, ich will das nicht! Am liebsten würde ich weinen. Ganz laut, damit mich jeder hört. Aber ich bin schon groß, und große Mädchen heulen nicht mehr.
Wo bin ich? Es ist dunkel. Mir fallen Geschichten von bösen Gespenstern ein. Ob hier eins ist? Ich blinzele durch die Wimpern, um ein bisschen sehen zu können, doch das hilft nicht. Es dauert eine Weile, bis die Augen sich an die Finsternis gewöhnt haben.
Der Mond guckt durch das kleine Fenster, das mir bekannt vorkommt. Neben mir steht ein Küchentisch. Darauf entdecke ich zwei Schüsseln. In einer trocknet der Abwasch. Die Oma hat gestern Abend das Geschirr sauber gewaschen. Endlich bin ich hellwach.
Ich befinde mich in der Küche von Oma, in ihrer grauen Badewanne und muss schlafen. Sie ist mein Bettchen. Die Angst verschwindet.
Ich liege auf der Seite und kratze mit den Fingernägeln über den Wannenrand. Das ergibt ein doofes Geräusch, bei dem mir komisch wird. Es ist eklig, außerdem ist mir ein Fingernagel kaputt gegangen, weil die Wand rau ist. Oma kann den bestimmt wieder ganz machen. Sie ist ja erwachsen.
Ich weiß nicht warum. Jedes Mal schabe ich mit den Nägeln an dem Grau hoch und runter, wenn ich in der Küche bei Oma übernachte, obwohl ich dabei eine Gänsehaut bekomme.
Ich rutsche in der länglichen Badewanne an das Fußende, drehe mich herum, um heraus zu klettern, mit den Füßen zuerst.
Leise öffne ich die Tür, stehe barfuß auf dem Korridor und spitze meine Ohren. Es ist ruhig. Leider. Nur den Opa höre ich aus dem Schlafzimmer schnarchen. Wecke ich die beiden, werden sie böse, wie alle Erwachsenen. Ich würde so gern aufstehen, um mit Christine zu spielen.
Enttäuscht steige ich wieder in das Wannenbettchen und kneife krampfhaft die Augen zusammen, um erneut einzuschlafen. Das würde Oma so wollen.

So oder ähnlich sind die Erinnerungen an die Übernachtungsbesuche bei Oma.
Was ich damals nicht wusste, ich lag in einer sogenannten Zinkbadewanne, und Christine war die Cousine. Sie wohnte unter der Wohnung der Großeltern. Damals, das war in den 1950 ziger Jahren.
Häufig, wenn ich bei Oma und Opa übernachtete, war die graue Wanne mein Bett. Ich war klein und sehr zart, sodass ich gut hineinpasste. Oma wuschelte mich in Decken ein.
Die Küche war extrem schmal. Darin stand ein Kohleofen, daneben ein großer Küchentisch, auf dem immer etwas herumlag, und darunter fanden sich meist die Schüsseln für den Abwasch.
Auf der anderen Wandseite thronte ein uralter Küchenschrank am Fenster. Er bestand aus massivem Holz. Neben der Tür auf derselben Seite war der einzige Ausguss installiert, mit einem Hahn, aus dem nur kaltes Wasser floss. Spürte man ein Bedürfnis, musste man eine halbe Treppe hinabsteigen, denn dort war das WC. Jedoch die Hände konnte man nur in der Küche waschen.
Wurde gebadet, was einmal in der Woche geschah, ich glaube freitags oder sonnabends, wurden zwei großen Töpfe auf dem Kohleofen benutzt. Fließend warmes Wasser gab es in vielen Wohnungen noch nicht.
Ich badete allerdings nie in der Zinkwanne. Zumindest kann ich mich nicht anders erinnern. Bei meinen Eltern erwärmte ein Durchlauferhitzer das kostbare Nass, das in eine emaillierte Badewanne floss. Was für ein Luxus das war, war mir als kleines Mädchen nicht bewusst.
Das Badewasser bei Oma wurde auf dem Ofen mit Kohle erhitzt, in die Zinkbadewanne gegossen und mit kaltem Wasser auf die gewünschte Temperatur gebracht. Gebadet wurde stets in der Küche.
Ließ man die gefüllten Töpfe auf dem Kohleofen stehen, stand einem zu jeder Zeit warmes Wasser zur Verfügung.
Die Küche war das Reich meiner Oma. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass sich Opa darin zu schaffen machte. So ist anzunehmen, dass Oma selbst die Töpfe vom Herd nahm, um deren Inhalt in die Badewanne zu gießen. Schwerstarbeit pur.
Ich vermute stark, dass in der Wanne aus dem grauen Metall bereits mein Vater als Kind badete. Viele Jahre später beschrieb er, wie außergewöhnlich es war, als er nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, die ihn in Sibirien festhielt, in die Zinkbadewanne stieg und ihr gesäubert wieder entstieg. Oma bereitete ihm das Bad zu. Das wird ihr eine unbeschreibliche Freude gewesen sein. Nach all den Entbehrungen und der mangelnden Hygiene fühlte er sich wie neugeboren.  
Ich habe keine Ahnung, wo sich die Badewanne in der beengten Wohnung befand, wenn sie nicht genutzt wurde.
Übrigens soll Napoleon seine Zinkwanne extrem geliebt haben und sie auf den Feldzügen, sogar nach Russland, mitgenommen haben.

Meine Oma war blond. Im Alter ergraute sie kaum. Lediglich um die Schläfenregion machten sich gräuliche Haarflecken breit. Sie frisierte ihre Haare niemals zu einem Dutt, wie ich es oft bei anderen Omas der damaligen Zeit gesehen habe. Eine Kaltwelle formte die Haarpracht, die sie nach hinten kämmte.
Überhaupt kleidete sie sich nicht wie eine graue Maus, wie das bei den betagten Damen normalerweise üblich war. Die dunklen und gedeckten Farben ließen die Frauen älter erscheinen, als sie waren.
Oma war Schneiderin und zog durchaus buntere Kleidung an. Sie mochte dekorative Elemente, wie farbige Paspeln oder Bänder als Kantenabschluss.

Oma lebt nicht mehr. Jetzt bin ich die Oma. Ich kleide mich ebenfalls nicht grau, weil es mich erblassen lässt.
Diese Farbe ist weder Fleisch noch Fisch, weder Schwarz noch Weiß. Ist das sie überhaupt eine Farbe?
Ich mag sie wie die Zinkbadewanne, in der ich schlafen musste, nicht.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2021

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