Die Dame spaziert durch den Park. Sie trägt einen schicken Mantel. Auf ihrem Kopf thront eine wuschlige Pelzkappe. Füße und Beine werden von Stiefeln aus feinstem Leder gewärmt. Obwohl der November grau ist, werden ihre Augen von einer dunklen Sonnenbrille bedeckt.
Sie bleibt in einiger Entfernung vor mir stehen, wühlt in ihrer Handtasche, um letztendlich die Tüte mit den Leckereien für die Enten in den Händen zu halten. Wie immer, reißt sie kleine Brocken heraus und wirft sie etwas ungelenk in den Teich den anstürmenden Wasservögeln entgegen. Während sie beim Werfen den Arm nach hinten schwingt, verrutscht der Mantelärmel und legt das Armband frei. Es funkelt aufreizend. Zweifellos ist sie reich.
Sie füttert die Enten, doch für mich hat sie keine einzige Krume übrig. Oft muss ich mir dieses Schauspiel gefallen lassen. Ich wünschte, ich wäre einer dieser Vögel, müsste keinen Hunger erleiden, hätte ein Federkleid und würde nicht frieren.
Des Öfteren pflegt die Fremde mit zusammengepressten Lippen an mir vorbeizurauschen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Wage ich, um eine kleine Gabe zu bitten, schließt sie stets die Augen, wohl, um sich meinen jämmerlichen Anblick zu ersparen, und spuckt mich voll. Diese feine Dame! Ich hingegen lehne demütig mit dem Rücken an meinem Lieblingsbaum.
Die einzige Kopfbedeckung, die ich besitze, steht vor mir und wartet darauf, mit Geldmünzen belohnt zu werden. Einst spielten Kinder mit dem ausgebeulten Hut. Ich bat sie, ihn mir zu schenken, was sie auch prompt taten.
Ich habe nichts, weder eine Arbeit noch eine Wohnung. Ich bin nichts, ich tauge zu nichts. Niemand mag mich.
Wie würde ich mich über die altbackenen Brot- oder Kuchenreste, die sie zum Teich transportiert, freuen. Der Hunger nagt. Mein Darm protestiert mit Schmerzen, weil ihm jegliche Tätigkeit fehlt.
Aber nein, sie speist damit die Enten! Ich habe nichts gegen die Vögel, sie sollen nicht hungern.
Sie könnte etwas Geld in den Hut werfen, sodass ich mir Brot oder wenigstens ein Brötchen leisten könnte. Doch nichts, nichts dergleichen erfolgt!
Oft werde ich bespuckt, geschlagen, beschimpft. Neulich hingen mich junge Männer mit dem Kopf nach unten an einen Baum. Es dauerte, ehe mich beherzte Spaziergänger befreiten.
Heute wählt die Dame wieder einmal den Weg an mir vorbei. Obwohl ich nicht bettele, spuckt sie mir ins Gesicht.
Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Ich bleibe nicht sitzen. Nein! Ich schleiche ihr hinterher. Der Blick ist auf ihre Tasche gerichtet, aus der ein verlockender Kuchengeruch strömt. Ich will sie ihr entreißen. Sie schaut mich an, ich spucke ihr ins Gesicht. Ich spucke und spucke. Auf die dunklen Brillengläser, die Wangen, ihre Lippen – überall hin. MEIN Speichel rinnt an ihr herunter ... Leider trocknet der Mund zu schnell aus.
Sie steht wie gelähmt vor mir, bringt keinen Schrei heraus.
Die Tasche lasse ich ihr. Ich bin doch kein Dieb!
Rasch eile ich davon. Ich fühle mich wahnsinnig gut. Der habe ich es gegeben!
Die Rache schmeckt süß.
Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Brigitte Voß
Cover: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2021
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