Starkregen prallt an die Fensterscheiben des Restaurants, als wolle er die Gäste herauslocken, um sie zu durchnässen. Die Straße ist überflutet, das Wasser strebt hastig in die Höhe.
»Komm, wir gehen lieber«, sagt Felix und schaut verwundert aus dem Fenster. »Wir machen es uns zu Hause bequem und feiern dort unseren ersten Hochzeitstag weiter.«
Sie verlassen das Restaurant und waten durch das Nass. Er verspürt einen unwiderstehlichen Drang, seine Laura zu küssen. Sie hat ihn zur Feier des Tages mit einem schulterfreien Kleid überrascht. Seine Hände umfassen ihre schmalen Schultern. Er küsst sie. Die Schmetterlinge im Bauch kitzeln, wie damals, als sie sich kennenlernten.
Zunächst leistet er Widerstand, als sie ihn von sich schiebt, doch der ungewöhnliche Druck ihres Armes befördert ihn in die Wirklichkeit zurück.
Der Sturm pfeift mit warnendem Geheul durch die Straße und spielt mit seinem triefenden Pferdeschwanz, der rhythmisch auf den Rücken klatscht.
»Was passiert?«, fragt sie. Ihre geduckte Körperhaltung sowie das Krächzen in der Stimme signalisieren ihm ihre pure Angst.
»Weiß nicht, die haben vereinzelte Gewitter vorhergesagt, aber sowas nicht.«
Er drängt: »Komm, lass uns schleunigst ...« Während er den Satz mit »... nach Hause gehen«, vervollständigt, sackt sie vor ihm nahezu senkrecht in einen spritzenden Strudel.
Er erfasst es nicht. Soeben stand sie vor ihm, im Bruchteil einer Sekunde ist sie verschwunden. Gelähmt verharrt er, sein Blick ist wirr, bis die Fassungslosigkeit einen Weg findet, um sich in überschlagenden Schreien zu entladen: »Laura, Laura ...« Seine Hände peitschen suchend durch das Wasser. »Wo bist du?«
Er versucht, zu tauchen, was nicht gelingt. Das tobende Gebräu befördert ihn nach oben. »Mein Mädchen!«, taumelnd sucht er die Umgebung ab.
Eine tote Katze treibt vorbei.
Jemand packt ihn unter den Achseln und zerrt ihn in ein Boot. Er schlägt wild um sich, doch der Unbekannte ist stärker.
»Laura, Laura ...«, ruft Felix ohne Unterlass, während ihn Rettungskräfte in eine Decke hüllen und beschwichtigend auf ihn einreden.
Langsam beruhigt er sich. Er berichtet von Lauras Verschwinden.
Ein Uniformierter sagt: »Die Kanalisation ist überflutet. Gullydeckel wurden hochgedrückt, sodass Kanalschächte offen liegen. Die Wasa ist über die Ufer getreten und strömt durch die naheliegenden Straßen ...«
Laura in der Kanalisation? Diese Vorstellung ist für Felix zu viel. Er springt aus dem Boot. Die Rettungskräfte müssen hilflos zusehen, wie ihn die Strömung davonträgt.
Er versucht, seinen Körper gegen die tosenden Wassermassen zu steuern. Richtung Restaurant. Zurück zu Laura!
Wasser schwappt in Mund, Nase und Ohren. Er keucht nach Luft. Instinktiv greift er um sich und erwischt einen Laternenpfahl.
Die Atmung beruhigt sich.
Er lässt sich fallen und kämpft mit Muskeln, hart und schwer wie Beton, erneut mit den Fluten.
Die Wucht der Strömung ist gewaltig. Mit schäumender Gischt schwemmt sie ein Haus aus seinem angestammten Fundament. Es ächzt und stöhnt, bevor es auseinanderbricht.
Eine Hauswand kommt auf ihn zu. Felix starrt auf das Unfassbare. Ein stechender Hieb.
Laura! Seine Lippen formen lautlos ihren Namen, ehe er nach unten gepresst wird, und ihn das tosende Nass umschlingt.
Das Trümmerstück schaukelt davon.
Texte: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2021
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