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Das dunkle Loch

Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Mein Körper fühlt sich an, als würden ihn massige Gewichte in die Matratze drücken, so wie es bei alten Leuten sein soll, bevor sie sterben.
Irgendetwas stimmt nicht, nur kann ich nicht erfassen, was es ist.
Bewege ich die Zunge hin und her, signalisiert sie, dass Zähne herausgebrochen sind. Manchmal trifft sie auf spitze Dolche. Der Geschmack von Blut ist Warnung genug, damit aufzuhören.
Durch die halbgeschlossenen Augen dringt Morgenlicht. Es ist grell, sodass ich sie sofort wieder schließe.
Die Vögel auf dem Baum vor dem Fenster krakeelen furchterregend. Ihr Lärm setzt ätzende Säure in meinem Gehirn frei. Die Schmerzen jagen mich aus dem Bett in die Senkrechte. Mir wird übel. Die Wände tanzen Polka, während ich wie in Zeitlupe zu Boden sinke.
Ich erwache aus der Ohnmacht, neben mir stinkt das Erbrochene.
Ich finde für all das keine Erklärung.
Ich muss zur Arbeit. Rasch bin ich angekleidet.
Zähneputzen bleibt außen vor, der Mund streikt. Er öffnet sich nur zu einem kleinen Spalt. Ich wische Blut aus einem Gesicht, das mich fleckig und schief aus dem Spiegel anschaut. Egal! Die Zeit drängt.
Im Bus treffen mich merkwürdige Blicke, aber niemand fragt. Ich kann die Übelkeit schwerlich unterdrücken.
Die Kollegen sitzen im Aufenthaltsraum und trinken Kaffee, bevor sie in die Produktionshallen verschwinden.
»Gtn Mrrgen«, quetsche ich durch die nahezu verschlossenen Lippen.
Sie murmeln einen Gruß zurück. Ihre Gespräche ersticken. Sie mustern mich, bis einer feststellt: »Wie siehst du denn aus!«
Mir wird bewusst, wie demoliert mein Gesicht im Spiegel ausgesehen hat.
»Was ist passiert?«, fragt unsere Sekretärin mit besorgter Stimme.  
»Sch wes nscht ..., bringe ich hervor, »Sch knn msch nscht ernnern.«
Schweigen.
»Du musst das doch wissen«, ruft ein Kollege.
Sosehr ich das Gehirn zermartere. Anstelle der Erinnerung klafft ein dunkles Loch.
»Wolltest du nicht zu einer Geburtstagsparty«, versucht eine Mitarbeiterin zu helfen.
»Sch wes nscht.«
»Der hat einen Schock, der muss zum Arzt«, sie sieht die Sekretärin fragend an.
»Bring ihn sofort in die Klinik.«
»Ds ist nscht notwendig«, erwidere ich. Der Kopf steht kurz vor einer Explosion.
Die Kollegin hievt mich in ihr Auto.
Nach einer gründlichen Untersuchung meint der Weißkittel: »Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung, der Kiefer ist zweifach gebrochen.Wie ist das bloß passiert?«
Ich ziehe die Schultern hoch und antworte: »Ernnerng scht weg.«
Wie durch eine Schicht aus Watte höre ich: »Sie kommen auf Station« sowie »Es kann sein, dass sich die Erinnerung wieder einstellt, oder auch nicht.«
Ich liege im Krankenzimmer und betrachte gähnend die Decke, als sich die Tür öffnet.
»Mxe«, grüße ich mit geschlossenem Mund.
»Wie geht es dir?«, fragt der Freund prompt.
Maxe sieht anders aus als sonst.
»Die Nase ist gebrochen«, kommt er der Frage zuvor.
Schweigen.
»Erinnerst du dich?«
»Ernnerng scht vschwunden.«
»Echt?«
Ich nicke.
»Nun denn, auf der Geburtstagsparty von Laura haben wir gestern Abend ganz schön gebechert. Auf der Rückfahrt bist du auf der Stange meines Fahrrades mitgefahren. Ich kam ins Trudeln, und wir fanden uns auf einem Feld wieder ...«
Undeutlich erinnere ich mich an eine rasante Fahrradfahrt. Alles andere bleibt im Dunkeln.
»Du siehst vielleicht aus«, grinst Maxe mich an.
»Nd d erscht!«, erwidere ich.
Wir lachen.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2021

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