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Der Gummibaum

Behutsam reibe ich mit einem feuchten Lappen die Blätter unseres Gummibaumes ab. Zuerst die obere Seite, danach die untere. Sie schmiegen sich in meine Hand. Es ist Wellness pur – für ihn und für mich.
Seitdem er zwischen der Balkontür und dem Fernseher in der Ecke steht, wächst an seinem Stamm ein Blatt nach dem anderen. Die Südseite der Wohnung bekommt ihm sichtlich besser. Seinen Lichtbedarf habe ich lange Zeit unterschätzt. Er hat bereits viele Jahre auf dem Buckel. Vielleicht ergeht es ihm wie mir, denn je älter ich werde, desto mehr liebe ich das Licht. Ich genieße es bewusster.
Wenn wir fernsehen, wird er mit spannenden Kriminalfilmen, grausamen Thrillern oder Konzertmitschnitten von beispielsweise Rammstein oder der Ersten Allgemeinen Verunsicherung berieselt, ober er nun will oder nicht. Er mag es, da bin ich mir sicher. Zwischendurch darf er die abendlichen Nachrichten mit uns verfolgen, doch die heben sich vom Genre des Thrillers kaum ab. Das Leben ist kein Zuckerlecken, und das weiß er.
Ich wische und wische, sodass die ursprüngliche Farbe der Blätter unter der Staubschicht in sattem Grün hervortritt. Sie glänzen in der Morgensonne. Stramm sind sie der Helligkeit zugewandt und können besser atmen.
Momentan komme ich mir richtig lieb und gut vor. Der Leser muss wissen, dass unsere Pflanzen robust sein müssen. Ich verwöhne sie nicht, gieße sie manchmal nur halbherzig. An Blätterabwischen ist kaum zu denken. Trotzdem mag ich ihr Grün. Allerdings müssen sie etwas abhalten können. Blutrünstige Thriller, meine miserable Pflege und das wahre Leben an sich haben den Baum gestählt. Sensibelchen überleben bei uns nicht.
Ich nehme das nächste Gummibaumblatt in die Hand. Eine Erinnerung taucht auf, die mich zum Schmunzeln bringt. Der Geruch von Bier kitzelt die Nase. Vor dreißig Jahren, wir wohnten noch in unserer ersten Wohnung, spülte ich, wie genau jetzt, den Staub vom Lappen. Nur tunkte ich ihn anschließend nicht ins Wasser, sondern in eine Schüssel mit Bier. Ich verzichtete auf eine Flasche meines Lieblingsbiers, da ich den Tipp einer Kollegin ausprobieren wollte. Ich rieb den Gerstensaft akribisch in jede Rille der Blätter. Das gesamte Bier verteilte ich darauf. Sie funkelten in einem beschwipsten Grün. Wohlgefällig betrachtete ich das verrichtete Werk. Obwohl wir in einer dunklen Mansardenwohnung lebten, war der Unterschied zum nüchternen Zustand des Gummibaums deutlich zu erkennen. Wahrscheinlich war er total besoffen, denn fangen meine Augen an, vom Alkoholgenuss zu glänzen, ist das für die Umgebung ein Warnzeichen.
Ob ich ihm damit einen Gefallen getan hatte, sei dahin gestellt. Sicher erging es ihm schlecht.
Die hinteren Blätter darf ich nicht vergessen. Der Baum ist verzweigt und kann zwei Stämme aufweisen.
Als wir ihn vor 40 Jahren von meinen Eltern zum Einzug in die erste Wohnung geschenkt bekamen, war er ein kurzer Hänfling. Ich freute mich über die neue Pflanze und nahm mir vor, ihn zu hegen und zu pflegen. Ich war so euphorisch endlich einen eigenen Wohnraum für unsere kleine Familie zu haben, denn wir mussten sieben Jahre darauf warten. Wir lebten in der DDR, was verschiedene Folgen hatte.
Eingaben, zahlreiche Besuche auf dem Wohnungsamt sowie eine chronische Wahlverweigerung, die uns befiel und einem staatsfeindlichen Akt gleichkam, fruchteten lange Zeit nichts. Unser erstes Kind wurde geboren. Damit wohnten vier Generationen in der Wohnung von Schwiegermutti: sie, ihre Eltern, wir und Baby Jens. Das muss man wissen, um die unendliche Freude zu begreifen, die uns damals das erste eigene Reich bescherte. Natürlich übertrug sie sich auf das Einzugsgeschenk, den Gummibaum. Wir schrieben den 8. Mai 1981, den Tag der Befreiung durch die Sowjetarmee.
Bald wurde ich erneut schwanger, und das Latexbäumchen führte ein Eckendasein. Kein liebes Wort, keine Pflege, nur halbherzige Güsse, damit er nicht vollständig verdurstete. Er bekam die ganze Hektik einer Familie mit zwei Kindern und voll berufstätigen Eltern mit.
Sein vorher so schönes Dunkelgrün verfärbte sich gelb. Blätter fielen zu Boden. Eines Tages war er im Weg, weil wir einen Schreibtisch kauften, der seinen Platz im Zimmer finden musste. Wegwerfen wollte ich ihn nicht, da ich ein schlechtes Gewissen bekam. Immerhin hat er uns ein Stück weit begleitet. Die Kinder besuchten bereits in die Schule.
Da ich für pragmatische Lösungen bin, kappte ich den Baum und stellte seinen oberen Teil in ein Wasserglas. Der nahezu blätterlose Stamm landete weiß blutend im Mülleimer.
Wider Erwarten wuchsen aus dem Senker Wurzeln, sodass ich ihn kurzerhand in einen Blumentopf pflanzte. Im Kinderzimmer war für ihn Platz. War es nicht eine gute Erziehungsmaßnahme, dass sie sich um den Gummibaum kümmern sollten? Zumindest redete ich mir das ein.
Was dann geschah, hatte niemand erwartet. Er bekam ein neues Blatt, und noch eins und noch eins. Sie verliehen dem Raum ein optimistisches Flair. Aus dem Senker entwickelte sich ein gesunder Baum. Offensichtlich liebte er den Kinderlärm, der später durch laute Techno-Musik abgelöst wurde. Sein Stamm wurde dicker und länger. In der Höhe fand er keinen Platz mehr, sodass er sich an der Decke entlangschlängeln musste. Wie er wuchsen die Kinder heran.
Liebevoll streife ich mit der Hand, dieses Mal ohne Putztuch, über die Oberfläche eines der fülligen Blätter. Sie fühlt sich glatt an und verströmt in Verbindung mit der grünen Farbe einen Hauch von Frische auf meiner Haut.
Mit der politischen Wende strömten gewisse Miethaie in das Haus, die die Bewohner mit drastischen Mitteln aus ihren Wohnungen vertrieben. Wir mussten uns ein anderes Zuhause suchen.
Ein Umzug stand an. Doch wie sollte man einen über zwei Meter langen Gummibaum transportieren? Wir sahen nur eine Lösung, nämlich, ihn zu kappen und neue Stecklinge heranzuziehen. Er sollte weiterhin in Familienbesitz bleiben. Beim Durchschneiden seines Stammes tropfte weiße Milch hervor. Dieses Mal deutete ich sie nicht als Blut, sondern als Tränen. Ich hatte gelesen, dass Pflanzen Schmerzen empfinden können.
Ich hänge der Vergangenheit nach und habe doch glatt Blätter übersehen, die gereinigt werden müssen. Sie sind derart verstaubt, dass sie zwischen dem gesäuberten Grün sofort auffallen.
In der neuen Wohnung wuchs einer der Senker zu einem ansehnlichen Gummibaum heran – natürlich stand er im Kinderzimmer. Einige Jahre später zogen die beiden Jungs aus. Sie wollten sich etwas Eigenes aufbauen. Jens nahm den Baum in eine andere Stadt mit. Der Rest der Familie begnügte sich mit Senkern.
Die Zeiger der Uhr drehten sich durch die Zeit. Aus unserem Steckling entwickelte sich ein mittelgroßer Gummibaum. Seine Glanzzeit war mit dem Wegzug der Kinder dahin. Er durfte sich noch mit uns freuen, weil ein Enkelkind die Familie bereicherte. Das Babygeschrei klang wie Musik.
Aber dann wurde es still, so still .... Niemand möchte sein Kind verlieren. Uns ist es geschehen ...
Einige Jahre sind seitdem vergangen, der Baum fristete ein Schattendasein. Vielleicht habe ich ihn manchmal gegossen, ich erinnere mich nicht. Jedenfalls ging er nicht ein. Das Leben verschonte ihn nicht.
Corona kam, und ich wurde, warum auch immer, aktiver. Unser Gummibaum bekam einen neuen Standort. Meist sind wir in seiner Nähe. Ich gieße ihn jetzt regelmäßig und habe sämtliche Blätter vom Staub befreit. Sie sehen aus wie poliert. Er ist ein Schmuckstück.
Man sagt, die Farbe Grün symbolisiere die Hoffnung. Er trägt sie in sich. Er ist ein hoffnungsvoller Baum. Seine Senker haben ihn stets neu erstehen lassen. Stoisch steht er da und lässt die Stürme der Zeit über sich ergehen. Er kann sich nicht gegen die Höhen und Tiefen des Daseins wehren. Trotz aller Tiefschläge strebt er aufs neue hoch hinaus. Ich schöpfe aus ihm Kraft.
Das Leben geht weiter.
Der Gummibaum begleitet uns seit vierzig Jahren. Er ist uns vertraut, fast möchte ich ihm einen Namen geben.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Brigitte Voß
Cover: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2021

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