Cover

Heimkehr

In der letzten Nacht konnte ich kaum ein Auge schließen. Das Lager ist übervölkert, sodass ich mit drei Personen auf zwei Pritschen schlafen musste. Die Wanzen haben mir unangenehm zugesetzt. Dicht an dicht sind sie auf der Suche nach Blut über den Körper gekrabbelt, wovon die juckenden Stellen auf der Haut zeugen.

Seit einigen Tagen verdichten sich die Gerüchte, dass alle »B«- und »C«-Leute auf den Transport kämen. Obwohl ich krampfhaft versuche, jegliche Hoffnung zu verbannen, höre ich stets genau zu. Die Worte »Nach Hause, nach Hause ...« verfangen sich in den Ohren und pulsieren unablässig wie Lebenssaft durch meine Adern. Was für einen Klang haben diese Zauberworte, welche Gefühle rufen sie hervor: »Nach Hause!«

Sollte dieses Dasein wahrhaftig ein Ende finden? Sollte ich endlich meine Lieben wiedersehen? Mein Leipzig? Ja, würde ich sie denn wiedersehen können, käme ich wirklich nach Hause? Habe ich überhaupt ein Zuhause, oder ist es zerbombt? Sind die Eltern und die Schwester noch am Leben? Tausenderlei Gedanken stürmen auf mich ein und durchwühlen die entferntesten Winkel des Gehirns. Äußerlich bleibe ich ruhig. So ruhig, dass es mir unheimlich vorkommt. Ich muss die vorschnellen Hoffnungen abbremsen. Und trotzdem: »Nach Hause, nach Hause, nach ... !«

Ich gehöre zu den »C«-Leuten. »A« steht für arbeitsfähig und »D« für transportunfähig. Das ergab eine Untersuchung im Lazarett des OK-Lagers (68/5) zu Tscheljabinsk. OK heißt ohne Kraft, nicht arbeitsfähig für den russischen Staat.

Ich bin wie so oft krank. Der wässrige Durchfall quält. Die starken Schmerzen an der Hand haben dazu geführt, dass ich vorübergehend eine Schiene trage.

Gestern hieß es plötzlich: »Alle »C«- und »B«-Leute gehen heute baden.« Nach dem Waschen erhielten wir frische Unterwäsche. Meine ist lang und dick. Ich bin froh, denn für den Oktober wäre sie für solch einen Transport genau das Richtige. Ein Heimtransport?

Der Tag beginnt vor dem Essen mit einer Namenslesung. »Werner Schröter«, mein Name wird als allerletzter aufgerufen. Beinah hätte man mich mit einem Namensvetter verwechselt, der wieder zurücktreten musste. Überraschenderweise sind nicht alle Landser dabei, die gestern zum »Baden« in die Banja durften.

Es folgt eine Bestandsaufnahme der Kleidung.

Nach dem Frühstück wird mir eine Nummer auf den Handrücken gekritzelt. Verwundert betrachte ich die C 697. Allmählich glaube ich, dass ich zu den Glücklichen gehöre, für die es heimwärts geht.

Die Zeit verrinnt. Es wird Mittag. Nichts tut sich. Das Aufbruchsfieber sinkt auf den Nullpunkt.

Plötzlich heißt es: »Fertig machen!« Bevor ich das Lazarett verlasse, werde ich erneut durchsucht.

Draußen fassen wir Mittagessen, bestehend aus einer dünnen Milchsuppe nebst Kascha (Grütze).

Noch sind wir nicht zum Tor hinaus, als wir entsprechend der Nummer auf der Hand antreten und einzeln an einem Tisch vorbei müssen. Dahinter sitzt ein russischer Offizier mit einer langen Liste. Schon aus der Ferne entdecke ich, dass einige Namen dick durchgestrichen sind. Welch ein Schreck! Je näher ich komme, desto näher kommt auch ein solcher Strich. Ich bin wieder auf alles gefasst, mein Herz ist es weniger. Es klopft, als wolle es den Brustkorb sprengen, um der Enge zu entfliehen. Glücklicherweise muss nicht ich umkehren, sondern der Mann zwei Nummern hinter mir. Ich atme tief auf und bin ungemein erleichtert.

Endlich ist es soweit. In Zehnerreihen passieren wir das Tor. Niemand bewacht uns mehr mit einem Gewehr. Uns begleiten lediglich einige Russen, die uns zum Transportzug bringen werden.

Ich betrete die Freiheit.

Ist das real? Ist das für immer? Ich setze die Schritte wie in Trance.

Wir erreichen den Zug, der aus 46 schlichten Güterwaggons besteht. Am liebsten möchte ich die hässlichen, roten, rostigen Käfige, die uns die Tausende von Kilometern nach Westen befördern sollen, umarmen. Mit Ehrfurcht bestaune ich den Wagen mit der Nummer 45, dem ich zugewiesen bin. In ihm werden sich 40 Mann häuslich niederlassen.

In der Mitte steht ein Ofen. Auf dem Boden liegen Strohsäcke, die nicht in jedem Waggon zu finden sind, denn nur die »C«-Leute werden damit bedacht.

Der Transport wird 1600 Personen umfassen, davon sind 800 Kriegsgefangene und 800 Zivilisten. Ich entdecke alte Männer und junge Frauen. Man munkelt, dass man sie in Ostpreußen festgenommen habe. Wir schütteln nur den Kopf: Diese Menschen hierher nach Sibirien zu verschleppen! Die Haare mancher Frauen sind sogar geschoren!

Nach Hause, nach Hause. Von einer mitfahrenden Ärztin will man wissen, dass unser Fahrtziel Frankfurt/Oder ist.

 

Wir schreiben den 6. Oktober 1945. Es ist bereits dunkel, als der Zug anruckt. Heimwärts! Meine Zweifel verfliegen.

Wir fahren an Tscheljabinsk vorbei, kommen aber nicht weit, denn der Zug bleibt stehen. Stehen ... genau wie die Bilder der Erinnerung, die ich am liebsten wegschieben möchte: die abstürzenden Flugzeuge, die Schützengräben, die dröhnenden Gefechte, die uns einzingelnden Panzer, das furchtbare Sterben, einschlagende Granaten ... zwei Splitter sind im Rücken verblieben, ... immer wieder Hunger und Durst.

1943 kam ich an die Ostfront, mein Leben zählte 21 Jahre.

Die Offensiven bei Orel und Bjelgorod scheiterten. Die Russen drängten uns stetig zurück. Ich geriet in sowjetische Gefangenschaft. In Gedanken sehe ich die einzelnen Stationen, die ich durchlief: das Durchgangslager in Kursk, das Arbeitslager Tscheljabinsk, im Lazarett von Schumicha mit Malaria und Ruhr und zum Schluss ein zweites Mal in Tscheljabinsk.

Nie wieder werde ich wohl die tief klingende Stimme des russischen Offiziers vergessen, der uns am 8. Mai verkündete: »Der Krieg ist jetzt zu Ende.« Mir traten die Tränen in die Augen. Das sinnlose Morden ist vorbei. Frieden! Ein schönes Wort. Frieden in Europa! Das ist ein riesiger Schritt zum Besseren. Vielleicht auch der Heimfahrt entgegen?

Der Zug rüttelt mich in die Wirklichkeit zurück. Die Räder rollen. Es ist so merkwürdig: »Gen Westen zu fahren.« Ich ertappe mich, wie ich ungläubig den Kopf schüttele, obwohl der Verstand weiß, dass es heimwärts geht.

Nachts liegen wir wie die Sprotten in einer Richtung, exakt ineinandergeschachtelt. Für die Ofenwache finden sich alsbald Freiwillige. Sie halten die beengende Schlafstellung nicht mehr aus.

Zwei kleine Fenster gestatten Ausblicke nach Außen.

Ein Wagenältester wird gewählt. Er und jeweils zwei Mann holten täglich die Verpflegung, die im vorderen Teil des Zuges ausgegeben wird: Brot, Fisch, Speck, Suppe oder Kascha. Die Teilung der Nahrung erfolgt in den einzelnen Güterwagen und ist eine hochnotpeinliche Angelegenheit mit Zank und Streit.

Der Jüngste in unserem Wagen ist 16 Jahre und der älteste etwa 45 Jahre alt.

Wir passieren Swerdlowsk, wo ich andere Kriegsgefangenen-Transporte entdecke, die sich nicht von der Stelle rühren. Wir haben Glück, und fahren daran vorbei.

Der Herbst lässt den Ural bunt erstrahlen. Endloser Wald teils unberührt.

Auf einem Bahnhofsschild lese ich, dass es noch 781 km bis Moskau sind.

Wir queren die Wolga. Der mächtige Strom flößt mir Ehrfurcht ein.

Der Zug stoppt auf einem Vorstadtbahnhof. Ich steige aus. Als nahezu freier Mensch betrete ich die Welt, um Wasser zu holen. Niemand bewacht mich. Ich mische mich unter die Zivilisten und komme mir dabei sonderbar vor.

An manchen Stationen stehen Frauen, die auf Tauschgeschäfte warten. Sie bieten Backwaren, Milch, usw., gegen Seife oder beispielsweise Kleidungsstücke. Uns ist das Handeln streng untersagt. Meist treibt die Begleitmannschaft mit Knüppeln hungrige Landser in die Waggons zurück.

In der Dunkelheit erreichen wir Moskau. Die Hälfte der Strecke ist geschafft.

Als es hell wird, fahren wir durch die Stadt und rangieren auf verschiedenen Bahnhöfen. An Aussteigen ist nicht zu denken. Mit gewechselter Waggon-Zugrichtung geht es mittags weiter.

Zehn Tage sind seit unserer Abreise vergangen. Längst gibt es kein Frischbrot mehr, sondern nur Trockenbrot. Hält der Zug in ländlichen Regionen, schwärmen Unentwegte aus, um auf den Feldern etwas Essbares zu finden, bis sie mit Stöcken zurückgetrieben werden. Rüben, Kohlköpfe, usw. werden gleich roh verzehrt, was bei einigen zu Bauchverstimmungen führt.

Stoppen wir im Wald, sammeln wir Feuerholz.

Wir passieren Dünaburg, wo Flüchtlinge oder Rückkehrer mit all ihrem Hab und Gut die Bahnsteige bevölkern. Manche geben uns von ihrem Trockenbrot.

Wilna! Ich freue mich, wieder sind wir ein Stück der Heimat entgegen.

Eydtkuhnen, wir fahren durch vormals ostpreußisches Gebiet.

Aber wie sieht es hier aus! Gumbinnen ist ein einziger Trümmerhaufen. Auch auf dem Land ist alles tot und leer. Kisten und Kästen mit Gebrauchsgegenständen sehen wir auf den Bahnhöfen. Möbel, Spiegel, Fahrräder, Nähmaschinen, usw., stehen einfach so da und sind den Unbilden der Witterung preisgegeben. Sie harren offenbar darauf, nach Russland transportiert zu werden. Wo sind die Einwohner? Niemand erntet die Kartoffeln auf den weiten Feldern.

Die beiden Ostpreußen aus unserem Waggon drehen bei dem Anblick ihrer Heimat fast durch. Ich bin seltsam gespalten. Einerseits bin ich glücklich, dass wir uns Deutschland nähern, andererseits durchdringt mich schmerzhafte Trauer über das Unheil, das dieser unseligste aller Kriege über Land und Leute gebracht hat. Eine ganze Provinz ist verwüstet, zerstört und tot. Wie mag es zuhause aussehen?

Wir halten in Königsberg. Unser einziges Trachten ist darauf gerichtet, irgendetwas Essbares zu ergattern. Wir buddeln Kartoffeln aus tiefem Schlamm und kochen sie. Am dritten Tag tut sich endlich was. Wir wechseln in einen Zug mit deutscher Spurweite und schleppen alle Sachen, darunter auch den Ofen samt Feuermaterial, ziemlich weit zum anderen Zug. Der neue Wagen, ein ehemaliger Werkzeugwagen, ist länger, sodass wir beim Schlafen auf dem Boden etwas mehr Platz als bisher haben.

In Allenstein betteln wir vor den Zügen, die nach Russland fahren, nach Lebensmitteln. Bei Erfolg erhalten wir Brot oder Körner, ich erwische gekochte Kartoffeln.

Auf den Nachbargleisen werden Ostpreußen aller Altersgruppen auf offene Waggons verfrachtet. Sie mussten ihre Wohnungen innerhalb kurzer Frist verlassen und dürfen nur wenig Gepäck mit sich führen. Sie gehen einem ungewissen Schicksal entgegen.

Ich suche das erste Mal den Verbandswagen auf, denn die Furunkel an den Beinen machen mir zu schaffen.

In Thorn verkaufen Einwohner Weißbrote für 60 Reichsmark.

Uns befallen Läuse.

Endlich fahren wir über die Oder und erreichen nach einer 4000 km langen Fahrt den Bahnhof Frankfurt/Oder. Welch ein Gefühl, wir haben es geschafft. Die Freude ist unbeschreiblich.

Wir müssen antreten.

 

Ich bin in einer deutschen Stadt, sehe deutsche Zivilisten, eine Straßenbahn, Straßenarbeiter, an einer Plakatsäule klebt eine Konzertankündigung, ... Alles, was wir uns so lange ersehnt hatten. Wir sind in der Heimat, tatsächlich in Deutschland! Mein Herz hüpft im Staccato. Im Gegensatz dazu sieht Frankfurt traurig aus. Das Bahnhofsviertel ist nahezu zerstört. Je weiter wir uns den Außenbezirken nähern, desto weniger Beschädigungen weisen die Häuser auf, umso normaler ist das städtische Leben. Die Geschäfte haben geöffnet.

Wir müssen noch zweimal in engen Räume auf dem Fußboden einer Kaserne des Kriegsgefangenen-Entlassungslagers übernachten, wobei wir kreuz und quer, in- und übereinander, ein Bein auf des anderen Kopf, in den unglaublichsten Verrenkungen liegen. An Schlaf ist nicht zu denken.

Am Folgetag bekomme ich endlich meinen Entlassungsschein. Ich staune ihn an. Er ist ein kostbares Heiligtum.

Noch sind wir nicht endgültig frei. Am Nachmittag fassen wir für drei Tage Marschproviant, bestehend aus Brot, amerikanischem Büchsenfett, 1 Löffel Zucker, Mehl, auch Trockenkartoffeln, Salz. Es geht drunter und drüber, sodass die Verteilung ungerecht erfolgt.

Im Laufschritt passiere ich das Tor – das Tor in die Freiheit. Was ist das für ein Gefühl! Ich bin wieder frei. Ich kann unternehmen, was ich möchte, die Schritte dorthin lenken, wohin ich will, ohne Posten, ohne Gewehr und ohne »dawaii«. Ich kann durch deutsche Straßen gehen, mit Menschen in meiner Muttersprache sprechen, sie denken so wie ich ...

Nur einer, der selbst in einem fernen Land gefangen war, kann ermessen, was das heißt.

3000 Kriegsgefangene sind heute entlassen worden, und sie alle wollen weiter. Entsprechend groß ist das Gedränge. Daher meiden wir den Frankfurter Hauptbahnhof und laufen einige Stationen. Mit jedem Schritt genieße ich die wiedergewonnene Freiheit.

Mittlerweile haben sich mir zwei Freigelassene angeschlossen, einer möchte wie ich nach Leipzig.

Es ist bereits dunkel. Wir warten an einem Haltepunkt auf einen leeren Kohlenzug, den uns der Stationsvorsteher angekündigt hat.

Er kommt, aber erst am folgenden Tag.

Es ist ein herrliches Gefühl, durch den Wald Richtung Berlin zu fahren. Meine Gedanken schweifen voraus ... Ob sie wohl ahnen, dass ich komme? Ich bin ruhig und voller Zuversicht, dass die Eltern und meine Schwester noch leben, und ich ein Zuhause habe. Und wenn nicht? Ich mache eine wegschiebende Handbewegung. So grausam kann das Schicksal nicht sein!

Wir sind in Berlin, laufen durch die Stadt und fühlen uns wie im Paradies. Wir steigen in die Straßenbahn. Ziviles Leben. Zu bezahlen brauchen wir nichts. Vorbeigehende mustern uns interessiert. Wo wir herkommen? Mitleidige Menschen drücken uns etwas Geld in die Hand, damit wir unseren vier Wochen alten Bart abrasieren lassen können. Aber dazu haben wir weder Zeit und Lust.

Wir fahren durch die Ruinen der Stadt. Überall türmen sich Schutt und Trümmer. Trotzdem herrscht kein Chaos. Das Leben ist wieder in Schwung.

Es ist Frieden. Egal was kommen würde, es wäre auf jeden Fall erträglicher als das Leid und das Elend, was in den letzten Jahren über die Menschen gekommen war.

Etwa 15 Uhr erreichen wir den Anhalter Bahnhof. Eine dichte Menschenmenge staut sich, und wird von der Polizei zurückgehalten. Aufgrund der Entlassungsscheine werden wir bevorzugt behandelt und bekommen die Fahrkarten nach Leipzig. Schwestern laufen hinterher und geben jedem von uns eine Schnitte Weißbrot. Es gibt noch Fürsorge, Liebe und Menschlichkeit.

Fahrgäste, darunter auch Entlassene, die später hinzukommen, sitzen in den Fenstern, auf den Trittbrettern und Dächern. Da die Fenster keine Scheiben haben, werden sie zum Ein- und Aussteigen genutzt.

Wir schauen uns um. Alles interessiert uns in diesem Abteil, die freien Menschen, wie sie sich geben, ob sie lachen oder ernst dreinblicken, usw. Eine Zeitung – das ist ja ein Wunderding! Die Freiheit schmeckt süß. Bald bin ich zu Hause.

Wir müssen noch eine Nacht auf dem Bahnhof von Wittenberg verbringen.

In Bitterfeld steigen wir am nächsten Tag um. Es folgt das allerletzte Stückchen unserer 4000 km langen Reise. Die Passagiere im Zug sprechen Leipziger Mundart. Sächsisch! Ich glaube es kaum. Mein Heimatdialekt. Eine Frau gibt uns ein Marmeladenbrot. Wir sind aufgeregt und können uns nur mit Mühe zur Ruhe zwingen.

Die ersten Häuser von Leipzig tauchen auf. Sie sind zerbombt. Die Eltern? Meine Schwester?

 

LEIPZIG HAUPTBAHNHOF!!! Wir sind am Ziel. Es ist der 3. November 1945.

Wir fallen uns um den Hals. Endlich. Endlich!!!

Der Weg führt uns an Trümmern vorbei. Viel ist zerstört. Wir verabschieden uns.

Vor dem Bahnhof bleibe ich stehen. Ich betrachte die zerbombten Gebäude auf dem Vorplatz, beobachte eine Weile die Straßenbahnen und die Zivilisten. Allmählich dämmert mir, dass ich jetzt zu ihnen gehöre, dass ich selbst einer bin.

Es ist Sonnabend, entsprechend herrscht reges Treiben.

Die Linie, mit der ich fahren müsste, ist noch nicht wieder in Betrieb genommen. Daher laufe ich mit den allersonderbarsten Gefühlen zum Augustusplatz. Leipzig, mein Leipzig!

Die Menschen mustern mich. Ich bin unrasiert, dreckig und trage zerrissene Klamotten am Leib.

»Wo kommen Sie denn her?«

»Aus Sibirien.«

»Ach du meine Güte!«

Ich steige in die Linie 6 und stelle mich hinter dem Fahrer, um aufmerksam das Ausmaß der Zerstörungen zu betrachten. Im Stadtteil Reudnitz ist es weniger schlimm ... die Riebeckbrücke ... Thornberger Kirche. Zum letzten Mal um die Ecke ... die Stötteritzer Straße ... bei Bekannten vorbei – ach, wie sieht es dort aus! Ihr Haus ist zerbombt. Sind sie gar umgekommen?

Ich steige aus, renne fast. Da ist sie, unsere Häuserfront, sie ist unbeschädigt.

Eine Minute Weg noch. Kurz schaue ich zum Fenster hoch, drücke lange den Klingelknopf ... ich stürme die halbe Treppe hinauf ... Schritte kommen mir rasch entgegen ... Und jetzt, nach 800 Tagen der Gefangenschaft, gibt es ein endloses Umarmen zu dritt auf dem Treppenabsatz. Und Tränen. Vor Freude. Vor Glück. Mama ..., meine Schwester ...

Und oben, die Wohnung, sie ist unversehrt, alles ist noch vorhanden, steht an seinem gewohnten Platz.

 

Endlich, endlich, endlich!!!

 

 

 

NIE werde ich vergessen, NIE!    

 

 

 

 

 

*****

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

 ICH WIDME DIESEN BEITRAG ALLEN KRIEGSOPFERN.






Von 3,155 Millionen Kriegsgefangenen der Wehrmacht kehrten 1,1 Millionen aus der Sowjetunion nicht mehr zurück.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:

Nächste Seite
Seite 1 /