Schlaflos wälze ich mich von der einen auf die andere Seite, bis ich schließlich die Zudecke zurückwerfe, seufze und Löcher in die Luft starre. Erinnerungen lähmen. Das Vergangene quält.
Ein Blick auf den Wecker verrät, dass es erst 2.30 Uhr ist. Ich bin überzeugt, dass der Schlaf mich hasst, und ich bis zum Morgen wach bleiben werde.
Plötzlich fixieren meine Augen das Gemälde gegenüber an der Wand. Bevor ich gestern Abend ins Bett ging, hängte ich es auf. Es lacht mir zu, als wäre es die Sonne persönlich. Mir wird warm ums Herz. Die Freude über das Geschenk einer Bekannten ist enorm. Sie hatte es vor Jahren selbst auf die Leinwand gebracht. Ich beneide sie um diese Begabung.
Der Vollmond, der sein silbriges Licht in der klaren Sternennacht durch das weit geöffnete Fenster auf das Bild lenkt, lässt den darin abgebildeten blau-weiß schimmernden Himmel bedrohlich erscheinen. Er spannt sich über eine toskanische Hügellandschaft. Ein Pärchen geht Seite an Seite einen Weg entlang, den hoch aufragende Zypressen säumen. Obwohl die Personen vom Betrachter weglaufen, wirken sie miteinander vertraut.
Ich will schlafen! Die körperlichen Schmerzen verhindern das. Und bin ich einmal wach, fängt das Gehirn an zu arbeiten und fragt nach dem Warum. Warum mein Sohn? Es ist ein Warum, dem niemals schlüssige Antworten folgen.
Nur langsam straffen sich die Muskeln, damit ich mich in die Höhe stemmen kann, um aufzustehen und in die Küche zu schlurfen. Mit einer Flasche Wein in der Hand kehre ich zurück und kuschle mich erneut unter die warme Decke. Hin und wieder lasse ich den roten Saft durch die Kehle rinnen. Wohlsein durchrieselt die Glieder.
»Zp, zp, zp, ...«, dringt es an das Ohr. Sofort sitze ich senkrecht und recke den Kopf vor, um besser orten zu können, woher das Geräusch kommen könnte. »Zp, zp, zp, ...« Es wird lauter und ist in kurzen Abständen zu hören. Es nervt, da es in einer endlosen Schleife kurvt und keinen Halt findet. Woran erinnert es nur? Ich kenne es.
Der Mond schaut zu, wie ich aus dem Bett springe, in den Korridor laufe, um zu erkunden, ob da jemand ist. Vergebens.
»Zp, zp, zp, ...« Vorsichtig öffne ich die Zimmertüren und wage einen Blick in die Räume, wobei ich jeden Moment einen Schlag auf die Schädeldecke erwarte. Doch nichts von dem passiert. Offensichtlich bin ich allein.
»Zp, Zp, Zp ...« Aus sämtlichen Ecken dröhnt es rhythmisch zu mir herüber. Die Trommelfelle drohen zu platzen.
Ich renne zurück in das Schlafzimmer, werfe mich auf’s Bett und ziehe die Daunendecke so weit hoch, dass ich die Umgebung noch beobachten kann. Die Flasche auf dem Fußboden muss umgekippt sein, denn würziger Rotweingeruch dringt zu mir. Er vermischt sich mit einem süßlich, sauren Gestank, der den Magen krampfen lässt.
Die Nerven sind zum Äußersten gespannt.
Mir ist unklar, was soeben geschieht. Unvermittelt schwebe ich über mir und erkenne den Umriss meines Körpers, der sich unter der Bettdecke abzeichnet. Ich gerate in Panik und versuche, in die schützende Hülle zu gelangen, wo ich hingehöre. Es misslingt, da ich nicht weiß, wie man das anstellt.
Der Teil, der von mir oben an der Wand gleitet, erbebt wie unter einem defekten Massagegerät und wird gegen etwas Hartes geschleudert. Der Rücken protestiert mit brennenden Stromstößen. Ich finde mich in meinem Körper wieder und bin erleichtert. Das gruselige Dröhnen ist verschwunden. Nur ein leises »Zp, Zp, Zp ...« ist noch zu hören.
Wo bin ich? Wie bin ich auf diese Wiese gelangt? Es ist, als bin ich hier und doch nicht hier. Weil der Wind die Haare ins Gesicht schleudert, gehe ich in die Hocke und krame in der Tasche herum, die neben mir steht. Obwohl sie mir nicht gehört, entdecke ich darin einen Gummi. Ich wusste, dass er dort ist. Woher? Die Arme bewegen sich wie die Glieder eines Roboters, dessen Greifer die störrischen Strähnen zu einem Pferdeschwanz binden.
Ich stehe auf und betrachte die Umgebung. Die Landschaft kommt mir vertraut vor. Wo habe ich die Zypressen, die am Wegesrand wachsen, schon einmal gesehen? So sehr ich auch nachdenke, das Gedächtnis lässt mich im Stich.
»Zp, Zp, Zp ...«
Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Dies ist der Singsang der Zikaden, die Melodie des Südens! Er stört oft die Nachtruhe, wenn ich am Sterbeort meines Kindes weile.
Nirgendwo ist ein Mensch zu sehen. Ich weiß nicht, wo ich bin, und was ich jetzt machen soll.
Ich rufe: »Hallo, ist hier jemand.« Niemand regt sich. »Haalloo!«
Ein warmer Windhauch weht ins Gesicht. Die Luft knistert. Ich spüre, wie sich die zarten Härchen auf den Armen aufrichten. An der Biegung des Weges taucht eine männliche Gestalt auf, die mit riesigen Schritten zu mir eilt. Sie ist von hagerer Figur und trägt einen schwarzen, weit geschnittenen Anzug aus leichtem Gewebe. Hosenbeine und Ärmel schlottern um die viel zu dünnen Gliedmaßen. Der Wind verstärkt sich, je näher er kommt, und schiebt einen erdigen Geruch mit einer widrigen süß-sauren Nuance vor sich her. Ich bin wie am Boden festgewachsen und kann nicht fliehen. Vor mir bleibt die Person stehen. Unter dem Jackett schaut ein nachtfarbenes Shirt hervor, dessen Kapuze bis zu den Augen heruntergezogen ist. Die übergroßen dunkle Pupillen durchbohren mich. Sie leuchten wie Glut.
Ohne zu Überlegen presse ich die Hand gegen den Brustkorb, bis er schmerzt, um zu verhindern, dass das klopfende Herz herausspringt.
»Guten Tag«, grüßt er salopp. Der Atem, der seinem Mund entströmt, riecht derart ekelhaft, dass ich zurückweiche. Sofort packt er meinen linken Unterarm, dass die Knochen knacken, und zieht mich zu sich heran. Die Berührung brennt wie Feuer auf der Haut. Ich schreie vor Schmerz.
Die Zikaden singen unbeirrt ihre Melodie.
»Du gehst mit mir! Warum soll ich in der wunderbaren Landschaft allein spazieren?« Die Frage klingt wie ein Befehl. Die Stimme krächzt, als müsse sie geölt werden. Er schleift mich neben sich her.
Ich bringe keinen Laut hervor.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragt er.
Die Angst schnürt mir den Kehlkopf zu.
»Weißt du, wer ich bin?«, forscht er erneut. Ungehalten pressen sich seine Finger in meinen Arm. Ich rieche verbranntes Fleisch.
Eifrig schüttle ich den Kopf.
Er drückt stärker. Mittlerweile müsste er alle Knochen gebrochen haben.
»Ich bin der Tod!«
Mir verschlägt es weiterhin die Sprache.
Er wiederholt die Worte.
»Tod, Tod, Tod«, schallen sie mir entgegen.
»Hast du das endlich kapiert?«
Ich nicke, noch immer schnürt es mir den Kehlkopf zu.
»Man nennt mich auch Sensenmann, schwarzer Mann, Gevatter Tod, Bruder Hein, Knochenmann, Schnitter ... es gibt eine Menge Bezeichnungen.«
»Bist du gekommen, um mich zu holen?«, bringe ich kaum hörbar hervor.
»Hole ich dich nicht heute, hole ich dich morgen. Das spielt doch keine Rolle. Die Zeit ist unendlich. Und ihr Menschen seid ein Nichts in der Ewigkeit. Ihr nehmt euch viel zu wichtig. Ha!«
Ich schlucke. Ich weiß aus verschiedenen Märchen, dass man mit dem Tod reden, ja sogar feilschen kann. Daher nehme ich allen Mut zusammen: »Wenn das so unbedeutend ist, warum hast du mir mein Kind genommen?« Erwartungsvoll schaue ich ihn an. »Ich will das jetzt endlich wissen. Warum?«
»Ach, ja natürlich.«
»Und!?«, dränge ich, da er schweigt.
Er räuspert sich, ehe er antwortet: »Sein Mörder hat mich hinters Licht geführt. Das mag ich überhaupt nicht. Das Lebenslicht deines Sohnes sollte in meiner Höhle bedeutend länger flackern. Was ihn betrifft, war das so vorgesehen. Hmm, stimmt.«
»Es gibt einen Plan?« Ich überlege einen kurzen Moment, ehe ich mit drohendem Unterton entgegenwerfe: »Warum bist du unfähig, ihn einzuhalten, lässt dich von Verbrechern betrügen?«
»Ha! ...«, stößt er angriffsbereit hervor und möchte sich wohl verteidigen. Allerdings bin ich nicht zu bremsen: »Du behauptest, Macht über jegliches Leben zu haben, es beenden zu können, wenn es so weit ist?« Ich betone den Satzteil ›wenn es so weit ist‹ und fahre fort: »Mein Kind hatte noch viele Lebensjahre vor sich, du Schwächling ...« Ich muss aufhören, da die Tränen den Kehlkopf quetschen.
»Ich sage dir doch, das war so nicht geplant.« Ärger schwingt in seiner Antwort mit.
Der Respekt vor ihm schwindet. »Du bist ein Wurm, ein verdammtes Nichts, ein jämmerlicher Schlappschwanz! Du selbst bist ein Massenmörder! Genau so ein Massenmörder, der meinen Sohn und eine Vielzahl unschuldiger Menschen auf dem Gewissen hat!«
Er tobt: »Ich lasse mich nicht in die Enge treiben, du nichtswürdiges Weib! Ich mache nur meinen Job! Und den erledige ich gut!«
Der Wind, der ihn umgibt, verbreitet einen intensiveren Gestank nach moddriger Erde und süßlich-saurer Verwesung. Ich möchte mich losreißen, aber die Hand des Todes umschlingt weiterhin den linken Unterarm. Sie drückt wie eine Schraubzwinge unbarmherzig zu.
Er beugt sich zu mir herab und haucht mit abgehackten Silben: »Ich- bin- das- Au-ßer-ge-wöhn-lich-ste, was es auf der Welt gibt. Man hat mir mit Achtung und mit Furcht zu begegnen. Ich dringe bis in den Mittelpunkt jeglichen Seins, ich bin ein Mysteri ...«
»Warum nimmst du nicht die Verbrecher zu dir, bevor sie ihre menschenverachtenden Taten ausführen, sodass Unschuldige sterben müssen?«, unterbreche ich die Litanei.
»Ohne mich gäbe es kein Leben. Ich reguliere den menschlichen Bestand durch Kriege, die ihr bereitwillig führt, oder durch Seuchen, die eure mächtige Pharmaindustrie nur bekämpft, wenn sie damit Gewinne erzielt. Und hast du mal an die Klimaerwärmung mit ihren Naturkatastrophen gedacht? Das ist alles hausgemacht. Ihr schaufelt nicht nur euer Grab, sondern euch gleich mit hinein. Arbeitslos werde ich nie. Ihr seid fügsame Helfer. Ha!« Selbstgefällig wendet er den Kopf zu mir und legt eine lange Pause ein, um die Worte wirken zu lassen. Dann sagt er noch: »Ich erlöse die Menschheit von jeglichem Leiden.« Seine übergroßen, schwarzen Pupillen funkeln mir entgegen.
Verhöhnt er mich?
»Zp, Zp, Zp ...« Die Zikaden durchbrechen die Stille.
»Warum fürchtet ihr Menschen mich, den Tod, und verlängert bewusst die Qual des Daseins, nur weil ihr das ewige Leben erhofft? Freilich, euer sogenannter medizinischer Fortschritt behindert meine Arbeit. Ihr werdet alt, älter und uralt und damit eine Last für die Gesellschaft. Viele Greise und Greisinnen sind dankbar, wenn ich komme, um sie zu holen, denn sie wünschen doch nur eins: »Für immer schlafen, die Schmerzen und die Einsamkeit vergessen.« Mit hypnotischer Stimme wiederholt er »schlafen«, als würde er mich auf der Stelle einschläfern wollen. »Der Lebensabend macht müde und schlaff. Ist es nicht besser, die Nacht bricht an?«
»Mein Kind durfte nicht einmal alt werden. Du hast sein Sterben zugelassen, warst machtlos, obwohl es nach deinen Worten nicht geplant war. Du Weichei!«
Der stinkende Dunst, der ihn umgibt, erweckt Brechreiz. Ich kann ihm nicht entrinnen. Er presst mich an seine Seite und zerrt mich den Weg entlang, der kein Ende nimmt. »Hast du jemals darüber nachgedacht, dass ich einigen von euch Menschen Schlimmeres erspare, indem ich sie in jungen Jahren aus eurer Mitte reiße? Quälende Krankheiten, Leid durch Terroranschläge, Verkrüppelungen infolge atomarer Kriege?«
Ich hole mit der freien Hand aus, um ihn zu packen. Mit überschlagender Stimme brülle ich: »Ich bringe dich um!«
Er fängt sie auf und lacht: »Du willst den Tod töten? Mein Vorteil ist, dass ich unsterblich bin. Ihr beneidet mich darum? Glaube mir, hättet ihr das ewige Leben, ihr würdet trotzdem Mittel und Wege finden, eure Feinde zu ermorden.«
Die Zypressen, die links und rechts von mir in die Höhe ragen, engen wie die Gitter einer Gefängniszelle ein. Die Wolke, die sich in dem weiß-blauen Himmel direkt über uns zusammenballt, droht herabzustürzen. Obgleich ich das Gefühl habe, dass die Luft um uns herum dünn wird, weil ich nur mit Anstrengung atmen kann, versuche ich weitere Fragen nach dem ›Warum‹ zu stellen: »Du hast im Märchen ›die Boten des Todes‹ behauptet, dass Fieber und Schmerz dein Kommen ankündigen. Allerdings von Höllenängsten hast du nie gesprochen. Mein Kind musste unvorstellbare Panik erleiden, bevor du es holtest. Warum!? Konntest du ihm das nicht ersparen? Antworte!«
Seine schwarzen, flammenden Pupillen brennen in den Augen, sodass mir Tränen die Wangen herunterrinnen.
»Sieh es doch mal so: »Alles, was tot ist, braucht ihr Menschen nicht mehr zu fürchten.«
Ich verliere die Fassung.
Ein gellendes »Warum?« weckt mich. Der Schrei hängt mir in den Ohren. Spontan ergreife ich den Zipfel des Bettbezuges und wische mir damit den Schweiß von der Stirn. Der Pyjama klebt auf dem Rücken. Ich blinzele. Der Vollmond schaut immer noch ungehemmt in das Schlafzimmer und untersucht mit fahlem Licht das Gemälde an der Wand. Sehe ich richtig? Pulsiert es? Ich springe aus dem Bett und eile zu dem Bild. Die pulsierenden Wellen auf der Leinwand beruhigen sich, bis es bewegungslos bleibt. Ein süßlich-saure Erdgeruch dringt in den Raum. Ich kenne den widerlichen Gestank zu gut. Stammt er von den Farben?
Der Weg, auf dem das Paar dicht nebeneinander läuft, ist mir bekannt. Mit einem Schlag fällt mir alles wieder ein. Sie sind nicht miteinander vertraut. Mitnichten! Er hat ihren linken Arm gepackt und zieht sie neben sich her. Ich weiß es besser, denn diese Frau war ich, zumindest in meinem Traum.
Habe ich etwa einen Pferdeschwanz? Gestern Abend hatte ich keinen. Die Hände schnellen nach oben und ziehen einen Gummi aus den Haaren. Einige Minuten lang starre ich ihn an. Panik kraucht in mir hoch.
Auf dem hellen Bettvorleger hat der Rotwein, der aus der umgekippten Flasche floss, blutige Spuren hinterlassen. Ich laufe auf den Korridor. Die Schlafzimmertür steht offen. So auch die anderen Türen, die ich vor dem Einschlafen geöffnet hatte, um zu sehen, aus welcher Richtung das störende »Zp, Zp, Zp ...« kam. Daran erinnere ich mich genau.
Wie in Trance wandle ich durch die Räume. Ein stechender Schmerz im linken Unterarm holt mich in die Wirklichkeit zurück. Da es mir nicht gelingt, ihn anzuheben, um ihn zu untersuchen, drehe ich langsam, ganz langsam den Kopf und senke die Augen, bis ich gewahre, dass er bläulich schimmert. Mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Blasse Brandblasen sprießen aus der feuerroten, nässenden Haut und formen den Abdruck einer Hand, deren Finger deutlich zu erkennen sind.
Woher kommen sie? Woher???
Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Cover im Original Manuela Schauten
Cover: Manuela Schauten
Lektorat: Brigitte Voß
Satz: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 28.09.2017
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