Cover

Die Insel

Ein Fahrzeug fegt mit kühnem Schwung in eine Parklücke, wobei der Abfallbehälter auf dem Fußweg ins Schwanken gerät. Hinter der Frontscheibe sitzt ein weißhaariger Mann, der die Fahrertür langsam aufschiebt, das linke Bein herausschwenkt und das andere mit Unterstützung der Hände auf den Asphalt stellt. Dabei entschlüpft ihm ein "Aua, aua". Mit beiden Armen zieht er sich an der Tür hoch und humpelt zur Motorhaube. Seine Glieder sind von der langen Fahrt steif. Er prüft mit kritischem Blick die Stoßstange, an welcher der Behälter eine Kratze hinterlassen hat. "Hoppla!", entfährt es ihm mit belegter Stimme. Die Schultern schnellen in die Höhe, als wolle er sagen: 'Was solls.'

Er mustert die Umgebung. Der Fährhafen sieht genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hat. Der Greis dehnt die Brust und atmet die frische Meeresluft, die von der Insel herüberweht, ein. Sie verschafft ihm keine Erleichterung.

Er hievt den Koffer aus dem Fahrzeug, schnallt den Rucksack auf den Rücken und schlurft, das Gepäckstück hinter sich herziehend, in das Hafengebäude. Der Schalter, vor dem ein hektisch blinkender Weihnachtsbaum steht, wird soeben geöffnet. Der Beamte verkauft ihm ein Rückfahrticket. Der alte Mann schreibt auf die beigefügte Banderole seinen Namen 'Fred Hilscher' sowie die Adresse der Ferienwohnung, in der er einige Tage verbringen würde, und schlingt sie um den Koffergriff. Den Koffer stellt er in einen Container außerhalb des Gebäudes.

Fred schaut auf die Uhr. Da etwas Zeit bis zum Übersetzen des Schiffes ist, humpelt er zur Kaimauer, hinter der das Meer brodelt. Die blassrote Wintersonne vollendet ihre Tagesbahn. Am Horizont berührt sie bereits das Wasser. In Kürze wird sie in die Fluten tauchen, um der Dunkelheit zu weichen.

Er presst die Hand auf das Herz, das wie ein Klumpen in der Brust liegt und auf den Magen drückt. Aber das Pochen lässt sich nicht besänftigen.

Ohne Schwierigkeiten findet er zur Fähre "Inselfee 2", vor der nur drei Personen warten. Endlich können sie das Schiff betreten. Der alte Mann nimmt einen der erstbesten Plätze.

Die Schiffshupe ertönt, sie tuckern aus dem Hafen. Die Gischt sprüht an die Scheiben. Er ist der einzige Urlauber an Bord. Die Passagiere, die zwei Tische vor ihm sitzen, diskutieren lautstark. Der norddeutsche Dialekt ist ihm vertraut, sodass er nach der halbstündigen Überfahrt bestens informiert ist: Die junge Frau der Dreiergruppe unterzog sich auf dem Festland einer Zahnarztbehandlung. Und jetzt hat sie keine Ahnung, wo sie auf der Insel das Fahrrad zwischengeparkt hatte. Fred kann darüber nur den Kopf schütteln. Die Jugend ist heutzutage derart zerstreut, wie es ihm zustehen müsste. Doch sein Geist funktioniert. Manchmal wünscht er, es wäre anders. Die Gedanken an Ute würden ihn nicht so peinigen. Er schaut aus dem Fenster. Verstohlen wischt er Tränen aus beiden Augenwinkeln. Falten zerfurchen das Gesicht.

Er kann das Meer kaum noch erkennen, da die dunklen Wellen mit der mondlosen Finsternis verschmelzen.

Die Ankunft auf der Insel wird mit näselnder Stimme über die Lautsprecher bekannt gegeben.

Der alte Mann strafft den Rücken mit einem gequälten "Aua, oh!". Er wühlt im Rucksack, bis er das Gesuchte, eine Taschenlampe, findet, und lässt sie in die Anoraktasche gleiten.

Mit wackligen Beinen steigt Fred die Reling hinab. Sie ist so steil, dass er fürchtet, in die Tiefe zu stürzen. Die Hände suchen am Geländer Halt. Unten angelangt füllt er die Lungen mit der reinen Luft. Er stellt sich vor, wie sie in die entferntesten Winkel des Körpers strömt, dabei alle Wehmut mitreißt und diese mit der Ausatmung ausscheidet. Doch vergebens, die depressive Stimmung lastet auf ihm wie ein bleiernes Gewicht.

Ein Elektrokarren summt an ihm vorbei. Darauf wackeln die wenigen Gepäckstücke der Passagiere hin und her. Auf der Insel dürfen nur ein Rettungswagen, zwei Löschfahrzeuge sowie einige Elektroautos fahren, die den Gütertransport vom und zum Schiff gewährleisten. Er selbst muss laufen. Da er die Gegend wie seine Westentasche kennt, weiß er genau, wo er die Ferienwohnung finden wird. Er tastet sich im Schein der Taschenlampe auf dem Deich voran. Außerhalb der Urlaubssaison sind die meisten Wege, auch Straßen, nicht oder nur spärlich beleuchtet, sodass es nachts stockduster ist. Der alte Mann verlässt den Damm. Die Schwippbögen und Kerzen in den Fenstern erhellen die Umgebung kaum. In der Ferne, dort, wo er die Urlaubsunterkunft vermutet, sieht er einen Koffer auf dem Fußweg stehen.

Nachdem er die wenigen Sachen in die Schränke verstaut hat, öffnet er eine Flasche Wein und verschwindet in der weichen Polsterung des Ohrensessels. Da er in Ruhe nachdenken möchte, schaltet er die Tischbeleuchtung aus. Mit dieser Reise erfüllt er den Wunsch der verstorbenen Frau, seiner über alles geliebten Ute. Er ist Witwer, seit zehn Jahren, doch die Trauer ist allgegenwärtig, ist tief in ihm verwurzelt. Er empfindet den Tod der Partnerin wie eine Amputation, als hätte man ihm den rechten Arm abgeschlagen. Die Liebe zu ihr ist nie verblasst.

"Oh, Ute. Wo bist du jetzt?", schluchzt er in die Dunkelheit hinein.

Die Schmerzen im Rücken wecken ihn früh am Morgen. Der Sturm rüttelt an den Fenstern, es nieselt. Fred zieht den dicken Pullover über den Kopf. Unter den Jeans trägt er eine lange Unterhose. Ute hätte es so gewollt. Er nimmt den Anorak vom Haken und geht zur Inselbäckerei, um zu frühstücken. Im Laden hat sich seit damals nichts geändert. Nur das Personal hat gewechselt. Die Verkäuferin und gleichzeitige Bedienkraft schaut ihn erstaunt an: "Urlauber?"

Er nickt.

"Es ist aber auch ein Schietwetter!"

Er nickt erneut.

"Wer uns um diese Zeit besucht, der muss wahrhaftig ein Naturliebhaber sein", versucht sie ihn zum Sprechen zu bewegen.

Er antwortet nicht, bestellt lediglich ein Kännchen Kaffee sowie ein belegtes Brötchen.

Die Wortkargheit der Inselbewohner ist für ihn ein Gerücht. Sie schwatzen gern mit den Fremden vom Festland, bringen sie doch das Geld und sorgen für Abwechslung.

Fred wirft zwei Schmerztabletten in den Mund. Die Tasse in der Hand schwankt beträchtlich. Bislang kann er das Zittern kontrollieren, verschüttet keinen Tropfen.

Heute möchte er die Insel abwandern, sich erinnern, an das Zusammensein mit Ute. Er bezahlt und steht auf. "Au, au", stöhnt er. Erst als er bemerkt, wie ihm die Bäckerin wissend zunickt, wird ihm das Jammern bewusst.

Fred wandert durch die weitläufigen Dünen zum Meer, wobei er den schmächtigen Leib heftig gegen den Wind stemmen muss, bis er schließlich die Aussicht erreicht. Unter ihm zerrt schäumende Brandung an der Dünenbefestigung.

'Die Sonne schien', dachte er. 'Ich war noch grün hinter den Ohren und leider etwas hager, wie mein Vater. Daher zeigte das weibliche Geschlecht wenig Interesse an mir.'

Er untersucht die Bank, auf der er sich gerade ausruht, ob sie wohl dieselbe sei wie vor Jahren. Natürlich ist es eine andere. 'Aber der Rundblick ist unverändert schön, genau wie in jenen Zeiten', stellt er mit Befriedigung fest.

Die Vergangenheit überwältigt ihn: Als junger Bursche suchte er eine Sitzgelegenheit, da er den gelösten Schnürsenkel binden wollte. Er nahm Platz und drehte im Zuschnüren den Kopf zur Seite, da er gewahrte, dass jemand in der Nähe war. Ihn streifte ein so liebenswürdiges, reines Lächeln, dass er stutzte. Nie hatte ein Mädchen ihn derart angesehen.

"Es funkte sofort zwischen uns", murmelt er leise. Ein kaum wahrnehmbares Lachen, versucht die Falten in seinem Gesicht zu glätten.

Der alte Mann schaut auf die tosende Brandung. Er möchte aufstehen, was ihm misslingt, da der rechte Fuß nicht gehorchen will. Er massiert ihn, stapft mehrfach gegen den sandigen Boden und bemerkt, wie das Leben in die Zehen zurückströmt.

Fred folgt der Steilküste, bis er hinter einer Kurve den weißen Pavillon entdeckt. Holzbohlen führen durch den Dünensand, sodass er ihn ohne Schwierigkeiten erreichen kann. Ein Ausdruck der Überraschung gleitet über die Augen. "Mensch, der steht noch! Sieht genau so aus, wie immer", stellt er mit Zufriedenheit fest und geht hinein. Links neben dem Eingang hatte er Ute das erste Mal geküsst. Es kam, was kommen musste. Sie heirateten. Die Flitterwochen verbrachten sie auf ihrer Kennenlerninsel im Januar.

Ute schlug vor, den nächsten Urlaub auf der Insel im Februar zu verbringen, den übernächsten im März, dann April, usw. Und so hielten sie es. Allerdings bereisten sie das Eiland nicht jährlich. Mal waren die Abstände größer, mal kleiner, aber die Abfolge der Monate zelebrierten sie.

Zwei Jahre später, im Februar, eröffnete ihm seine Frau in diesem Pavillon, dass sie ein Kind erwarteten.

'Ach, war das eine schöne Zeit. Sie ist dahin! Für ewig dahin.' Tränen quellen aus den Augen des Greises. Er seufzt, mustert erneut den Ort und läuft mit hängenden Schultern weiter.

Er wandert von einem Ende der Insel zum anderen, sucht die Plätze auf, die ihm etwas bedeuten. Nebenbei denkt er: 'Ja, das war im März ... Das ist doch der tückische Stein, über den Töchterlein stolperte! Sie brach ihr Ärmchen dabei!' Oder: 'Hier hat sich seit jenem April nichts verändert. Sogar der knorrige Baum, der uns vor der Sonne schützte, steht noch.' Er betrachtet die Äste, auf denen Eiskristalle glänzen. Als sie ihm mitteilte, wieder arbeiten gehen zu wollen, standen sie darunter. Er war wütend, zeigte kein Verständnis und ist bis heute der Ansicht, eine Frau müsse bedingungslos für die Familie da sein, während der Mann arbeitet. Aber sie hing an ihrem Beruf als Kindergärtnerin, sodass er sie schließlich unterstütze, indem er im Haushalt half. Er liebte sie so sehr, liebt sie auch jetzt.
Er geht weiter und betritt nach einigem Suchen die einzige Gaststätte der Insel, die im Dezember geöffnet hat. Ein warmer Dunst, vermischt mit Essensdüften, empfängt ihn. Schnell findet er einen Platz, von dem er den Raum gut überblicken kann. Ihm fallen die Holzsäulen auf, die die Decken stützen. Geschnitzte Fische und Muscheln ranken sich um sie herum, genau wie früher. Auf den Fensterbrettern flackern rote Weihnachtskerzen, die den Gastraum in eine behagliche Gemütlichkeit tauchen. Tannengestecke, geschmückt mit Strohsternchen, dekorieren die Tische.

Nie wollte er das Lokal wieder betreten, denn es erweckt Schamgefühle und Erinnerungen, die ihn verwirren: Er arbeitete in Skandinavien, war mehrere Monate nicht zu Hause. Eine Schwedin zielte mit ihren weiblichen Reizen auf ihn, die er unmöglich ignorieren konnte. Seine Frau kam dahinter und stellte ihn in jenem Restaurant zur Rede. Zunächst leugnete er, was die Situation noch verschlimmerte. Sie misstraute, war zutiefst verletzt und enttäuscht. Ute schimpfte so laut, dass der Kellner sie bat, die Gaststätte zu verlassen. Es war ein fürchterlicher Urlaub, der Urlaub im Mai. Sie verlangte die Scheidung. Niemals hatte er so etwas erwartet. Es kostete ihn viel Kraft und diplomatisches Geschick, sie zum Bleiben zu bewegen.

Das Radio, das den Gastraum mit weihnachtlichen Weisen leise beschallt, holt ihn aus den Gedanken zurück.

Er bestellt ein Seemannsschnitzel mit Rotkohl und Kartoffeln. Das panierte Fleisch ragte auf beiden Seiten über den Tellerrand. Er säbelt einen Happen ab, bemerkt kaum, wie er die Gabel zum Mund führt. Nach wie vor fragt er sich, warum er ihr das angetan hatte. Der Bissen auf der Zunge erweckt Übelkeit.

'Nichts wie weg!' Er wirft das Geld auf den Tisch und flüchtet aus dem Restaurant.

Auf der Straße angelangt, reibt er das rechte Bein, das gegen die Flucht protestiert. Sein Gehirn hat die Situation rascher erfasst, als die Gelenke folgen konnten.

Schneefall setzt ein. Fred wischt die Nässe aus dem Gesicht.

'Die Zeit verging. Zusammen überwanden wir die Klippen des Lebens. Doch im Jahr unseres Novemberurlaubs türmte sich eine Hürde auf, die das Glück zerstörte, mir das Wertvollste nahm', grübelt er. Die Ärzte diagnostizierten bei Ute Krebs. Und so wollte sie noch einmal die Insel sehen, das Meer riechen, im November, in dem Monat, der an der Reihe war. Zehn Jahre liegt das zurück. Trotz der Schwermut verbrachten sie einen wunderbaren Urlaub, die letzten gemeinsamen Tage ... Fünf Wochen später starb sie.

Seitdem hat ihn die Traurigkeit nie verlassen. Wie ein Schatten haftet sie an ihm, wiegt schwer, will ihn zuweilen in den Abgrund ziehen. Die Träume und das Lachen meiden ihn.

Der alte Mann ist tief in Gedanken versunken. Er bemerkt nicht, wie der sanfte Flockentanz in einen weißen Sturm übergeht. Sein hinkender Gang lenkt ihn durch das Kiefernwäldchen dem Wasser entgegen. Die Bäume, gewöhnt an die häufigen Unwetter, ächzen und knarren im zunehmenden Wind. Ihre Krümmung von West nach Ost zeugt von der Heftigkeit der Orkane, denen sie oft ausgesetzt sind.

Er erreicht die Dünenlandschaft, hinter dem er die Brandung der wild um sich schlagenden Wellen hört.

Ein Hase hoppelt über den sandigen Weg, der vom Schnee weißlich gesprenkelt wird. Der Pfad endet am Strandzugang, den sie früher oft nutzten.

Fred betritt den Strand. Die Böen umpfeifen ihn mit aller Kraft, blähen den Anorak auf, ziehen und rütteln am wetterfesten Stoff, sodass er Schwierigkeiten hat, die Kapuze unter dem Kinn zu verschnüren. Immer wieder wehen sie ihm die Schnüre aus den Fingern. Vornübergebeugt, die Arme seitlich leicht abgespreizt, schwenkt er sie Schritt für Schritt vor und zurück, um sich durch die Windgewalten zum flutenden Meeressaum zu bewegen. Die Augen schmerzen, da Sandkörner hineinwehen. Oft wischt er sie mit dem Schal heraus. Die Schleifspuren, die das rechte Bein in gleichmäßigen Abständen nach sich zieht, werden rasch vom Sand verweht.

Er steht schwankend am Ufer und betrachtet das aufgewirbelte Meer.

Viel Willenskraft und Energie hat es ihm gekostet, diese Reise anzutreten. Er wusste, dass die Vergangenheit sein Innerstes erschüttern würde.

Die Gischt spritzt ihm ins Gesicht und hinterlässt einen salzigen Geschmack auf den Lippen.

Ihm kommt ihr letzter gemeinsamer Strandspaziergang in den Sinn. Sie liefen Hand in Hand. Ute rang ihm das Versprechen ab, noch einen Dezemberurlaub auf der Insel zu verbringen, denn der Reigen müsse geschlossen sein. Warum, hatte er nie verstanden, und sie konnte es nicht begründen. Ihr Wunsch war ihm allgegenwärtig. Es vergingen Jahre, bis er den Mut fand, hierher zu fahren.

Er dreht sich um. Der Sturm, der inzwischen die Stärke eines Orkans angenommen hat, gibt ihm kräftige Stöße in den Rücken und treibt ihn zurück zu den Dünen. Er findet keinen Halt, torkelt stolpernd nach vorn, bis er schließlich stürzt und im Sand liegen bleibt.

Er hört, wie das Blut in den Ohren pulsiert und einen Takt vorgibt, der die jaulenden Sturmgeräusche in einen gewissen Rhythmus presst. Im Hintergrund rauschen die Wellen, mal lauter und wieder leiser, je nachdem, ob sie sich vor oder zurückbewegen. Er lauscht dem machtvollen Singsang der Natur. Plötzlich taucht eine klare Stimme auf, die sich mit diesem vereint. Zunächst nimmt er sie kaum wahr. Sie wird deutlicher. Mit gemischten Gefühlen erkennt er, dass sie ihm vertraut ist, sehr sogar.

"Mein Fred, du bist in Gefahr! Wach auf!"

Die Worte hallen in ihm wider, zerren an den Nerven, denn sie kommen von seiner geliebten Partnerin.

Er reißt die Augen auf, bemerkt, dass er auf dem Bauch liegt. Wie lange er so gelegen hat, kann er nicht einschätzen. Die Hände krallen vor ihm den Sand, werden bereits vom Wasser umspült.

"Steh auf, schnell!"

Er möchte sich aufrichten, doch der Orkan presst ihn mit aller Wucht nieder. Er hat keine Chance, klebt am Boden fest. Die Flut drückt das Meer zu ihm heran, das Nass bleckt schon an den Unterarmen.

"Schnell. Beweg dich! Fliehe!"

Deutlich dringt Utes Stimme zu ihm. Er zittert vor Kälte. Arme und Beine hängen wie Eisklötzer herunter.

'Was passiert hier? Das ist unmöglich, du bist tot!', will er rufen, aber Sandkörner verstopfen ihm den Mund.

"Halte durch, mein Fred. Halte durch! Du schaffst es."

Zwischen zwei heftigen Windstößen gelingt es ihm, sich aufzusetzen. Er reibt mit Händen, denen jegliches Gefühl abhandengekommen ist, die Gliedmaßen. Es dauert für ihn eine gefühlte Unendlichkeit, bis das Blut in den Adern mit einem zarten Kribbeln erwacht.

"Ich werde bei dir sein, Fred, wenn immer du es wünschst, bei dir sein für immer und ewig ..."

Es gleicht einem Wunder, dass der Sturm an Stärke verliert, bis nur noch ein sanfter Windhauch den Sand kräuselt.

Der alte Mann dreht sich in den Vierfüßlerstand und drückt unter mehrfachem "Aua, aua, autsch ..." den Körper nach oben.

Die dicke Wolkendecke des Abendhimmels weicht einer durchlöcherten Schicht, durch die der Mond schimmert.

Er legt die Finger auf die Stirn und betrachtet das Meer, dessen Schaumkronen in weiter Ferne silbrig aufleuchten. Sie drängen nicht mehr mit aller Kraft der Küste zu. Die Ebbe hat begonnen.

Fred taumelt den Dünenweg entlang. Sein Zeitgefühl ist vollkommen durcheinandergeraten. Schließlich erreicht er den Ortskern, wo es nach Glühwein und Pfefferkuchen duftet. Hier wird geschnattert und diskutiert, Bratwurst gegessen und Punsch getrunken. Inselbewohner und Urlauber kommen ins Gespräch.

Vor dem Rathaus strebt ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum in die Höhe. Kinder haben die unteren Äste mit Basteleien behängt. Er hat dies am Morgen kaum beachtet, ist einfach vorbeigehastet.

Jetzt bleibt er stehen. Sein Blick streift Zweig für Zweig, wobei er jedes Detail erfasst. Welch kunstvolles Schlingenmuster in den Strohsternen! Von Kinderhand bemalte Kugeln leuchten golden im Schein der elektrischen Beleuchtung. Gefaltete Papiersterne schunkeln im Wind. Fred lächelt.

Er betritt das beheizte Zelt, kauft einen Glühwein mit Schuss und nimmt auf einem der Strohballen Platz. Die Frau auf dem Nachbarballen singt leise den Text zur weihnachtlichen Melodie, die aus den Trompeten der Musiker ertönt. Sie blasen auf dem Balkon des Gemeindehauses.

Der alte Mann fühlt sich wie neugeboren. Utes Stimme hat ihn ins Leben zurückgeholt, im wahrsten Sinne des Wortes, und den Sturm zum Stillstand gebracht. Er bemerkt die Veränderung, die in ihm vorgeht. Das Band der Trauer wird lockerer, er atmet freier. Nach vielen, vielen Jahren genießt er wieder die Schönheiten des Seins. Wärme schießt durch die Adern. Das verdankt er Ute, weil sie bei ihm bleibt. Sie hat ihn reichlich beschenkt.

Nachdem er ein zweites Glas getrunken hat, geht er in den einzigen Supermarkt der Insel, um ein Adventgesteck mit vier Kerzen zu kaufen.

Im Ferienquartier angekommen, stellt Fred das Gesteck auf den Tisch. Er zündet die Kerzen an, verschwindet in der weichen Polsterung des Ohrensessels und sucht im Radio, bis er die entsprechende Musik findet. "Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage", umsäuselt ihn die weihnachtliche Melodie. Lange hat er sich nicht mehr so behaglich gefühlt. Ute ist bei ihm, er spürt ihre Anwesenheit: "Und ich werde bei dir sein, wenn immer du es wünschst, bei dir sein, für immer und ewig ..."

Impressum

Texte: Brigitte Voß / Musiktext auf S.13 aus dem "Weihnachtsoratorium" von Johann Sebastian Bach
Bildmaterialien: Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /