Cover

Vorwort

Hiraizumi ist ein verträumtes Dorf, das etwa 170 km nordöstlich von Fukushima in der Präfektur Iwate liegt. Der Ort erlangte Berühmtheit wegen seiner Tempelanlagen, die die UNESCO im Juni 2011 in die Liste der Welterbestätten aufnahm. Sie zählen seit jeher zum japanischen Kulturerbe. 

Vor den verheerenden Ereignissen von 2011, die vieles verändern sollten, besuchte ich Freunde in Fukushima.

Der Ausflug nach Hiraizumi war der Erste, den ich in dem Land allein unternahm.

Fukushima ist umgeben von Hochgebirge mit Vulkanen, heißen Quellen (Onsen) sowie zahlreichen historischen Stätten. Die frühere Unbedarftheit der Menschen ist jedoch dahin. Tsunami und nukleares Inferno töteten, brachten jede Menge Leid über sie. Meine japanischen Freunde überstanden die Geschehnisse relativ unbeschadet, fürchten allerdings die Strahlung, von der niemand weiß, wie sie sich in Zukunft noch offenbaren wird.

Trotzdem existiert das Japan jenseits der Katastrophe weiter ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                                 

   Blick auf Hiraizumi mit gewässerten Reisfeldern

Hiraizumi

Ich drehe mich um. Aus den Sitzen lugen ausschließlich schwarze, manchmal auch grau melierte Haarschöpfe. Sie heben sich kontrastreich von den strahlend weißen Schonbezügen ab. In Deutschland sähe man rote, blonde, braune, schwarze Haare in gemixter Frisurenvielfalt. Doch ich bin im Land der Kirschblüten und düse mit dem Tôhoku-Shinkansen auf der Hauptinsel Honshû Richtung Norden (Region Tôhoku). Ziel ist das kleine Städtchen Hiraizumi. Es liegt zwischen Sendai und Morioka und ist dem Ausländer kaum bekannt. Reisfelder huschen an mir vorbei. Es scheint nichts anderes zu geben als Felder und unberührte Natur ...

Im 12. Jahrhundert war Kyôto als Hauptstadt Japans Zentrum der Politik und Kultur. Jedoch Hunderte von Kilometern nordöstlich, im sogenannten "Tiefen Osten", befand sich in Hiraizumi eine zweite Residenz, die von den Machthabern in Kyôto geduldet wurde. Der Ort ist mit der Tempelanlage Chuson-ji eine Stätte größter historischer Bedeutung. Über drei Generationen herrschte das mächtige Fujiwarageschlecht in Tôhoku. Die einflussreiche Adelsfamilie führte den Norden Japans zur kulturellen und geistigen Blüte.

Meine japanische Freundin erzählte von den reichlichen Goldvorkommen, die es in der Umgebung gab. Sie sollen sogar für den berühmten Nara-Buddha (etwa 760 km südwestlich von Fukushima) verwendet worden sein. Mit jenem Reichtum konnte sich der Fürst Fujiwara Kiyohira einen buddhistischen Traum erfüllen. Die Menschen sollten in Frieden in einer harmonischen Gesellschaft miteinander leben. Und in der Tat gab es während der rund 100 Jahre Fujiwaraherrschaft keine Kriege. Auf diesem friedlichen Nährboden schafften es Kiyohira, nach ihm sein Sohn Motohira und auch Enkel Hidehira, Hiraizumi zu einem glanzvollen buddhistischen Zentrum zu kultivieren ...

Ichinoseki - hier muss ich den Zug verlassen. Lange stehe ich auf dem Bahnhof vor dem Fahrplan, um die günstigsten Rückfahrzeiten herauszubekommen. Es ist schon ein hilfloses Gefühl, wenn man ständig von fremden Schriftzeichen angestarrt wird, die man nur langsam oder überhaupt nicht entziffern kann. Die wichtigsten Kanji für die verschiedenen Ortsbezeichnungen ließ ich von meiner Freundin aufschreiben, da man von der Lesung nicht auf die Aussprache schließen kann und umgekehrt. Trotzdem suche ich im Busbahnhof vergebens die Haltestelle nach Hiraizumi. Ich spreche einen Herrn an. Er ist hilfsbereit, bringt mich zum richtigen Haltepunkt und erklärt ausführlich das zugehörige Zeichen.

Der Bus fährt ungefähr eine halbe Stunde bis zur Tempelanlage. Beim Aussteigen lächelt mich der weißbehandschuhte Busfahrer an.

Vor mir erstreckt sich der Tempelkomplex, der 1126 von Kiyohira begründet wurde. Ich laufe die Tsukimi Zaka, einen von 400-jährigen Zedernbäumen gesäumten Weg, bergauf. 

 

 

Nach etwa zehn Minuten sehe ich die Hondô, die Haupthalle, vor mir. Hier finden religiöse Zeremonien statt. Japaner zünden vor dem Gebäude Räucherstäbchen an, klatschen in die Hände, werfen Geld in den Tempel, um die Götter günstig zu stimmen, und beten. 

 

 

Ich gehe weiter. Die alten Zedern beeindrucken durch ihre Höhe. Plötzlich entdecke ich eine Freilichtbühne. Sie ist aus Holz, wird von Säulen begrenzt und wirkt schlicht. In dezentem Grün und Orange leuchtet mir vom Bühnenhintergrund eine gezeichnete Kiefer entgegen. Die Nôgaku-dô ist eine der wenigen Openair-Nô-Bühnen der Welt. Sie wurde 1853 errichtet. Viele Menschen stehen erwartungsvoll davor. Sollte ich wirklich das Glück haben, einer Nô-Aufführung beiwohnen zu dürfen? Dazu noch gratis? Nô ist traditionelles klassisches Theater mit Musikbegleitung, stammt aus dem 14. Jahrhundert und wird nur von Männern gespielt.

Das wartende Publikum verstummt. Musiker und Chor betreten in prunkvollen Kimonos den Schauplatz. Besonders wertvolle Nô-Kostüme werden als Meisterwerke staatlich geschützt, auch in Museen oder Privatsammlungen aufbewahrt. Mit langsamen Bewegungen setzen bzw. knien sich die Akteure auf den Boden. Würdevoll platzieren sie die Musikinstrumente, bestehend aus Trommeln und Flöte, um sich herum. Diese Zeremonie dauert etliche Minuten. Ein für westliche Ohren merkwürdiger, monotoner Gesang ertönt. Die Tonhöhen werden im Singen hörbar angesteuert. Trommel sowie Flöte untermalen die männlichen Stimmen in gleichmäßigen Rhythmen und eintönigen Tonfolgen. Ich bin begeistert. Alle Köpfe schwenken nach links. Von dort erreichen die Hauptdarsteller das Podium. 

Einer von ihnen trägt einen prachtvollen roten Kimono mit Goldmuster. Das Gesicht bedeckt eine Maske. Nô-Larven können dreihundert bis vierhundert Jahre alt sein.

Andächtig schreiten die Künstler zur Bühne, wobei die Füße den Untergrund kaum verlassen, sodass ein schwebender Eindruck entsteht. Zehn Jahre soll ein Nô-Schauspieler benötigen, um die Gangart fehlerfrei zu beherrschen. Das Kanji für "Nô" bedeutet "können".

 

 

Es entwickelt sich ein singender Dialog. Sichtbare Action findet wenig statt. Innere Konflikte werden in altjapanischer Sprache ausgetragen. Auch die japanischen Zuschauer verstehen nicht, was gesprochen oder gesungen wird. Sie lesen in einem Begleitheft die Übersetzung mit. Die Dramatik gipfelt im Fächertanz. Meine Videokamera läuft heiß.

Total verklärt trenne ich mich von dem Ort. So eingestimmt besitze ich die besten Voraussetzungen, die doch so fremde Kultur zu genießen.

Ich betrete die Konjikidô, die sogenannte Goldene Halle. Sie wurde zum Nationalschatz Japans erklärt. Hinter Glas sehe ich drei prächtig geschmückte Altäre, auf denen verschiedene Buddhastatuen stehen. Zentrale Figur ist ein sitzender Amida. Das Wort "Amida" kommt aus dem Sanskrit und wird mit "niemals endend" übersetzt. Auf Wunsch seiner Frau soll Kiyohira 1124 die Konjikidô errichtet haben. Sie besteht aus Holz und gehört zu den schönsten und kostbar verziertesten der Welt.

Die Goldene Halle symbolisiert den buddhistischen Traum des Fürsten. Das Reich des Amida ist das friedliche Land, in dem Licht und Leben ewig sind. Jede Menge Blattgold leuchtet mir entgegen. Perlmuttüberzogene Säulen glänzen in Blau oder Weiß.

Die mumifizierten Körper von Kiyohira, seinem Sohn Motohira, dem Enkel Hidehira und Urenkel Yasuhira liegen unter den Altären. Die Särge wurden 1950 für akademische Forschungen geöffnet. Es ist einzigartig, dass vier Generationen eines Geschlechtes der Nachwelt erhalten geblieben sind.

Nicht weit entfernt von der Konjikidô steht die Sutrenhalle (siehe Coverbild), die Kyôzô. Sie beherbergt eine der größten Sutrensammlung des Landes. Die 5300 heiligen Schriftrollen gehören ebenfalls zum Nationalschatz Japans. Einige von ihnen sehe ich vor mir. Die Sutren sind mit Gold- oder Silbertinte auf Indigopapier geschrieben.

1337 gingen zahlreiche Kunstgegenstände durch ein Feuer verloren. Die Sutrenhalle und Teile der Konjikidô wurden beschädigt. Dennoch überlebten viele Kunstwerke der Heianperiode (794–1192). Objekte aus dem Besitz der Fujiwara können die Besucher in der Sankôzô, dem Schatzhaus, besichtigen. Dazu gehören die drei 2,66 m hohen Standbilder Buddhas sowie die 1,74 m hohe Senju, die 1000-armige Kannon, aus lackiertem Holz und Blattgold. Auch sie sind Nationalschatz Japans. Allerdings konnten die 1000 Arme der Göttin der Barmherzigkeit nicht verhindern, dass Kriege die friedvolle Periode der Fujiwara beendeten.

Es ist bereits spät, sodass ich die Tempelanlage verlasse. An einem Imbiss kaufe ich etwas, von dem ich nicht weiß, was ich da überhaupt esse. Ich frage die Verkäuferin. Sie holt sofort ihren Chef, der mir erklärt, worum es sich handelt. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass ich eine Knolle namens Konjak in den Händen halte, die ähnlich unserer Kartoffel schmeckt.

Schließlich sitze ich im Shinkansen und fahre zurück, zu meinen japanischen Freunden. Diese herrliche Natur, die erneut an mir vorbeihuscht, ist beeindruckend! Mir fällt ein, was ein japanischer Schriftsteller, Matsuo Bashô, im 17. Jahrhundert über die Umgebung von Hiraizumi geschrieben hat:

 

Das Sommergras,

es ist das, was bleibt

von den Träumen vergangener Krieger

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2014

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