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Mathilde

Liebe Mathilde,

ich weiß nicht, ob es Sinn macht, dir zu schreiben, da du sowieso weder einen Briefkasten noch einen Computer besitzt. Auch wenn ich den Bogen Papier ausdrucke, wirst du ihn nicht beachten, geschweige denn bemerken, dass sich darauf Buchstaben befinden. Und trotzdem verfasse ich diese Zeilen, da ich überzeugt bin, dass du sie verstehst. Du wirst deren Inhalt erspüren und mental erfassen, was ich dir mitzuteilen habe.

Zunächst einmal muss ich dir mitteilen, dass ich stinksauer bin. Ohne ein Abschiedswort bist du verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Jährlich fügst du mir dieses Leid zu. Ist das die feine Art?

Ich bin derzeit im Wald, auf unserem Zeltplatz, und natürlich traurig, dich wieder nicht anzutreffen. Sicher wirst du, wie in den letzten Jahren, für einige Monate verschwunden sein.

Auch die Igel kommen nicht mehr. Ihr geräuschvolles Schnaufen in der Dämmerung fehlt mir sehr. Ist dir bekannt, warum sie fern bleiben? Stets habe ich ihnen ein mit Wasser gefülltes Schälchen unter die Birke gestellt. Ich glaube, sie sind beleidigt. Vielleicht haben sie es nicht verkraftet, dass ich sie in einer heißen Sommernacht beim Sex gefilmt hatte? Aber das ist doch schon so lange her. Unter uns gesagt, Mathilde, so interessant war das auch nicht. Stundenlang rannte der Liebhaber um seine Angebetete herum, während sie sich um ihre eigene Achse drehte und ihn nicht ranließ. Beide stöhnten recht geräuschvoll. Als es zum Höhepunkt kam, war ich todmüde, da es bereits weit nach Mitternacht war. Zu allem Unglück hatte auch der Akku der Filmkamera seine Energie verloren. Schade, dass sie nicht mehr kommen. Es ist alles so traurig.

Der Herbst ist angebrochen. Ich mag diese Jahreszeit, besonders in der Natur.

Mir fällt ein Haiku treffend zur Saison ein. Das ist eine japanische Gedichtform mit folgender Anordnung: 1. Zeile fünf, 2. Zeile sieben und 3. Zeile wieder fünf Silben.

 

Herbstlaub duftet schwer

betöret meine Sinne

Wind gönnt Blättern keine Ruh

 

Es ist, als schämen sich die Blätter, sie wechseln die Farbe, werden rot, orange oder gelb. Ich vermute, sie empfinden Scham vor dem Herabfallen, davor, dass die Kraft verbraucht ist und sie sich nicht mehr an den Zweigen halten können. Sie würden am liebsten im Erdboden verschwinden. Jede Energie ist einmal am Ende. Selbst meine Reserven schwinden. Ich stehe im Herbst des Lebens und bemerke den Alterungsprozess sehr wohl. Ich kämpfe dagegen an, falle langsamer als das Laub, das anstrebt, auf dem Waldboden dem Verwesungsprozess entgegenzusehen, um rasch in die Erde einzutauchen. Ich mag den modernden Geruch der Blätter. Ob meine Zersetzung so würzig riechen wird? Ich glaube kaum ... Ja, ja, ich höre schon auf! Ich weiß, dass du als Antwort mich mit deinen immerfort staunenden Augen anschauen würdest, da du kein Verständnis für diese makabere Ader besitzt.

Weißt du bereits das Neueste aus dem Wald? Ich habe die Schwarzen gesehen. Ich meine die schwarzen Eichhörnchen, die die einheimischen Rostroten allmählich verdrängen. Sie kommen aus den USA. Gestern hätten wir beinah ein Schwarzes überfahren, als es mit einem Apfel im Maul vor unserem Auto über die Straße huschte. Ich möchte, dass die Rostroten bleiben, ich bin sie gewöhnt, doch die Schwarzen sind robuster, außerdem immuner gegenüber einer Viruserkrankung, den Eichhörnchenpocken. Es ist nun mal so, das Stärkere setzt sich immer durch, das verstehst du genau.

Ob du es willst oder nicht, das folgende Haiku musst du über dich ergehen lassen:

 

Schwarzes Eichhörnchen

der Stärkere setzt sich durch

Segen der Natur?

 

Ich sehe schon wieder deine großen Augen auf mich gerichtet, fragend, was das soll? Du weißt, ich quassele dich gern zu, vor allen Dingen, wenn ich, wie jetzt, einsam vor dem Wohnwagen sitze. Da du es bevorzugst, in der Ferne zu weilen, pflege ich diese Tradition mit einem Brief.

Aber zurück zu den Eichhörnchen. In Großbritannien ist deswegen ein wahrer Rassenkampf ausgebrochen. Die Schwarzen werden einfach abgeknallt, um die rostroten Einheimischen, die es dort kaum noch gibt, zu beschützen. Immerhin existiert eine Fraktion, die gegen die Abknallerei auftritt. Das königliche Inselreich ist zutiefst gespalten. Gleichfalls musste ich mir von deutschen Mitbürgern rassistische Bemerkungen über die schwarzen Invasoren anhören.

Der Klimawandel wird unsere Natur verändern, die stärkere Rasse die schwächere verdrängen, sowohl im Tier- als auch im Pflanzenreich. Na und? Das Leben geht weiter, ist in permanenter Entwicklung, neue Arten entstehen und herkömmliche vergehen. Es kennt keine Stagnation. Nehmen wir doch zum Beispiel das Wasser. Es bewegt sich in einem fort ... Was ist? Du magst das nicht wissen? Wie ich dich einschätze, sind dir die Eichhörnchen gleichgültig. Du springst lieber herum und schaust mich mit deinen Kinderaugen an.

Oh, soeben beginnt das Konzert der röhrenden Hirsche. Sicher kennst du es. Sie dröhnen ihre Männlichkeit in die Dunkelheit und buhlen um die Weibchen. Die Melodie, die sie während der Brunft singen, ist gruselig schön. Letzte Nacht waren sie besonders eifrig. Ich vermute, sie hatten einen heftigen Sexualtrieb, denn zum Frühstück hörte ich sie noch immer.

Sag mal, bist du eigentlich männlich oder weiblich? Nie stellte ich dir die Frage, weil es im Grunde egal ist, jedenfalls mir.

Folgendes Haiku gefällig?

 

die Hirsche röhren

der Wald ist dunkel und schwer

Sterne ergrauen

 

Ich höre schon auf, ich weiß, dich lassen die literarischen Ergüsse kalt.

Es ist finster geworden. Eine Kerze flackert auf dem Campingtisch. Ich sitze, mit einer warmen Jacke bekleidet, unter den Kiefern und schreibe dir den langen Brief. Das ist Ersatz für die fehlende Kommunikation mit dir. Kein Mensch ist hier weit und breit. Viele Campingnachbarn bleiben um diese Jahreszeit zuhause. Ich sage dazu nur: Stadtmenschen! Verweichlicht und pimpelig!

Freilich, nachts klingt der Wald geheimnisvoll an mein Ohr, obwohl ich die Decke über den Kopf ziehe. Es knackt, knirscht, raschelt, das Käuzchen heult oder es bellt in der Ferne ein Hund. Kann ich verdächtige Geräusche nicht zuordnen, richte ich mich im Bett auf, um sie zu analysieren. Dabei murmele ich ein Mantra: "Wer soll schon über mich Alte herfallen? Wer soll schon über mich Alte herfallen. Wer soll schon ..." Du wirst es kaum glauben, es wirkt stets: Ich schlafe friedlich wieder ein.

Was wäre es für eine Freude, wenn du morgen früh auf der Campingstuhllehne sitzen und mir Begrüßungsblicke zuwerfen würdest? Es ist eine Wunschvorstellung. Ich bin überzeugt, du reist in den Süden, weil dir die deutschen Winter zu hart sind. Doch unser Klima ändert sich. Die sonst so frostige Jahreszeit wird wärmer. Viele deiner Artgenossen bleiben hier. Aber du?? ... Du brauchst keine Angst vor der Kälte zu haben. Ich helfe dir. Freunde lasse ich niemals im Stich. Kennst du die Story von der "Weihnachtsgans Auguste"? Da in deiner Welt Gänse nicht existieren, schiebe ich vorweg, dass dies ein großer, weißer Vogel ist. Genau, wie die Geschichte erzählt, würde ich einen dicken Pullover stricken - für dich. Versprochen! Denk darüber nach und streng das winzige Gehirn an.

Weißt du noch, wie wir uns kennenlernten? Ich saß einsam vor dem Wohnwagen. Da kamst du daher gehüpft - ein Vogelkind, aus dessen Augen Wissbegierde leuchtete. Natürlich sprach ich mit dir. Bereits damals warst du mutig, bliebst direkt vor mir stehen und lauschtest, was ich zu sagen hatte. Fragend sahst du zu mir auf. Wenn du meiner überdrüssig wurdest, verschwandest du im Unterholz, wo vermutlich dein Zuhause ist. Oft hast du mich besucht, sodass ich jede Menge Monologe loswerden konnte.

Da ich mit niemandem spreche, der keinen Namen besitzt, rief ich dich kurzerhand Mathilde.

Zunächst dachte ich, eine kleine Drossel hopst vor mir herum, doch mit der Zeit verfärbte sich dein Latz rot. Da erkannte ich, dass du ein Rotkehlchen bist.

Und eines Tages reagiertest du auf meine Kontaktaufnahme. Nein, nicht mit dem freundlichen, eindringlichen Gezwitscher, das oft aus dem Wald herüberschallt. Ich saß auf dem Campingstuhl und du wühltest mit dem Schnabel durch das Erdreich, wirktest extrem beschäftigt. Plötzlich erhobst du dich in die Lüfte, bist zu mir geflattert. Unmittelbar vor meinem Gesicht bremstest du ab. Ich zuckte zurück, du flogst erneut weg, um das Spiel zu wiederholen. Wie habe ich mich über diese Antwort gefreut. Es war die perfekte Kommunikation ohne Worte. Das Erlebnis vergesse ich nie. Mathilde, komm nächstes Jahr wieder an unseren Wohnwagen. Bitte, bitte, bitte ...

 

Es grüßt dich ganz toll

Gitti

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2014

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