Oliver lief durch den weiträumigen Park. Er schaute zum dritten Mal zurück, da die Gefühle, die dabei sein Herz erwärmten, wie ein Rausch auf die Sinne wirkten. Er betrachtete mit Wohlgefallen das Schloss, das sich gegen den Himmel reckte, um der Menschheit zu verkünden, hier herrschen Macht und Reichtum. Seit die Schwester den Grafen van der Meyen geheiratet hatte, schwelgte er in Luxus und Wohlstand. Nicht nur die sieben Zimmer, die er in dem Prachtbau bewohnte, sondern auch die Luxuslimousine, die auf der Straße wartete, erfüllten ihn mit Begeisterung.
Er öffnete das Tor, dessen verschlungene Ornamente in der Mittagssonne golden aufflammten, sodass schmerzende Blitze über die Augen bis in die Stirn gelangten. Er legte die Finger auf die Augenbrauen und massierte die Haut in kleinen Kreisen.
Bereits der seitliche Anblick des Gefährtes linderte den Schmerz. Lichtreflexe ließen das Schwarz der Karosse in unterschiedlichen Schattierungen aufleuchten und formten sanft geschwungene Linien. Er musste einfach mit der Hand darüber streichen, den Lack spüren, um anschließend mit zittriger Ungeduld die Autotür zu öffnen. Der Geruch der Ledersitze strömte ihm entgegen. Er schaute auf den Bordcomputer und erfreute sich am Klang des Motors.
Ohne Ziel fuhr Oliver durch die Kleinstadt. Er wollte gesehen, bewundert werden, mit der Luxuslimousine, die ihm gehörte.
Unvermutet ertönten Geräusche aus der Soundanlage. Die Bässe spielten mit seinen Hosenbeinen und brachten sie zum Flattern. Er staunte, hatte er doch den Player nicht angestellt. Die tiefen Töne dröhnten derart, dass sie jegliche Melodie unterdrückten. Oliver regulierte die Toneinstellungen, damit er mitsingen konnte, denn diesen Hit mochte er.
"I'm on the highway to hell,
On the highway to hell ..."
Der Kopf bewegte sich heftig zu den Rhythmen der Musik, die Hände schlugen abwechselnd im Takt auf das Lenkrad.
"No stop signs,
Speed limit,
Nobody's gonna slow me down ...",
trällerte er weiter. Abrupt unterbrach er den Gesang, da neben ihm eine Stimme krächzte:
"Hey Satan,
Payin' my dues ...".
Erschrocken sah er auf dem Beifahrersitz eine ältere Person, die mit Begeisterung den heißeren Kehlkopf traktierte, um den Song fortzusetzen.
"Was machen Sie in meinem Fahrzeug?" Er drehte die Anlage leiser. "Wie kommen Sie hierher?"
Der Fremde schaute ihn nur an.
"Steigen Sie sofort aus!", schrie er den Unbekannten an und stoppte das Auto. Da dieser keine Reaktion zeigte, versetzte ihm Oliver einen Hieb in die Seite, doch der Greis schien mit dem Sitz verwachsen. Er landete nicht, wie vorgesehen, auf dem Fußweg.
Wie von Geisterhand gesteuert, fiel die soeben erst geöffnete Beifahrertür ins Schloss. Gleichzeitig ging die Innenbeleuchtung an. Der junge Mann stöhnte. Er drückte Knöpfe auf der Armatur, um das Licht wieder abzustellen. Es war zwecklos.
Der Alte thronte wie eine Figur aus Beton auf dem Platz und starrte ihn mit ausdruckslosen Augen an. Er versprühte eine elektrisierende Ausstrahlung, die in der Luft ein kaum hörbares Knistern erzeugte.
Oliver setzte die Fahrt fort, die Augenlider flatterten. Der Schmerz tauchte erneut hinter der Stirn auf, tobte mit einer Urgewalt, die die Augäpfel herauszupressen drohte. Ohne nachzudenken, nahm er die Finger vom Steuer und massierte heftig die Stellen um die Brauen herum, was die Qual ein wenig minderte.
Neben ihm ertönte ein Räuspern. Der unheimliche Besucher fasste in das Lenkrad. Lächelte er?
Das ließ er sich nicht bieten: "Das Auto gehört mir. Lassen Sie das!" Er stieß den fremden Arm beiseite und brachte die Limousine wieder in seine Gewalt.
Der Alte legte betont langsam die Hände zurück auf die Knie und stierte ihn weiterhin an.
"Was wollen Sie von mir?" Auch diese Frage blieb unbeantwortet. "Ich kehre um, nach Hause. Wenn Sie dort im Fahrzeug bleiben, hole ich meinen Schwager."
Nur das leise brummende Geräusch des Motors erfüllte Raum. Der Greis schwieg.
"Der schmeißt sie raus!", er dehnte jede Silbe, aber der Unbekannte reagierte nicht.
Ein kalter Windhauch wehte mit ungestümer Kraft durch das Haar des Fahrers und fachte die Migräne erneut an.
Wieso ging das Schiebedach auf? Sogleich schielte er zum Beifahrer, doch der sah ihn mit reglosen Augen an.
Oliver bebte, Gruselschauer veranstalteten auf dem Rücken ein Wettrennen. Die eindringenden Sonnenstrahlen verstärkten die Qual im Gehirn. Trotzdem wandte er den Kopf nach oben ins Licht. Das Dach klappte gemächlich zurück, und die Öffnung zum Himmel vergrößerte sich.
Der Alte saß ohne die geringste Bewegung, blickte ihn unentwegt an.
Ein schrilles Heulen zerschnitt die Luft. Oliver zuckte zusammen. Mit Erstaunen nahm er wahr, dass die Limousine den Dauerton verursachte. Er drehte Knöpfe, drückte Schalter, checkte den Bordcomputer, die Hupe jedoch dröhnte weiter. Das Blut schoss ihm in die Wangen. Fußgänger schauten voller Neugierde auf die Fahrbahn.
Die Innenbeleuchtung flackerte, blendete ihn, um daraufhin wieder auszugehen. Gleichzeitig zeigte das Schiebedach, dass es ein eigenes Innenleben besaß. Der ohrenbetäubende Klang der Sirene erzeugte Schmerzwellen hinter der Stirn. Die Nerven drohten zu zerreißen.
Erneut kontrollierte er das Informationssystem, bekam aber keine Antworten, betätigte Hebel, die ihm nicht gehorchten. Er war hilflos, musste alles geschehen lassen.
"Sie sind das!", schrie er den unerwünschten Fahrgast an. "Hören Sie auf damit!"
Der Mann lachte, erst leise. Das Gelächter ging in ein Kreischen über, dass mit dem Hupton ein schauerliches Duett johlte.
Plötzlich sah Oliver vor der Kühlerhaube einen Baum auftauchen, der zu einem Riesen anwuchs, bis sich das Fahrzeug in dessen Stamm wühlte. Er bemerkte, wie Zweige nach ihm griffen, hörte das Splittern der Scheiben, das Knirschen des Holzes, jedoch auch das Brechen seiner Knochen.
Was danach geschah, wusste er nicht mehr so genau. Menschen rannten zur Unfallstelle, legten ihn auf den Fußweg und holten den Rettungswagen ...
Gestern wurde der Trümmerbruch im rechten Arm operiert. Er betrachtete den verbundenen Arm, den der Krankenpfleger im Bett etwas höher gelagert hatte.
Die Tür wurde geöffnet. Seine Schwester betrat den Raum.
"Oli, ich bin so froh, dass du noch lebst. Ein Schutzengel hat dich begleitet."
Er musste zulassen, dass sie ihm einen feuchten Schmatz auf die Wange gab.
"Wie ist denn das passiert?" Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Krankenbett.
"Weißt du, da war ein Fremder im Auto. Der saß einfach so neben mir und starrte mich immerfort an. Ich weiß überhaupt nicht, wie er reingekommen ist. Dann ging das Schiebedach auf, von ganz allein, meine Limousine hupte und, und ... das war der Unbekannte, der hat das ..."
Sie ließ ihn nicht ausreden: "Hattest du die Tabletten genommen?"
Er zog die Schultern hoch, wobei er leise murmelte: "Vergessen."
"Mensch, das war einer deiner schizophrenen Schübe! Den Mann hast du dir bloß eingebildet. Alles andere auch."
Mark lief mit federndem Schritt dem Fahrzeug entgegen. Unter dem linken Arm trug er eine dicke Akte. Er konnte den Moment kaum erwarten, der folgen sollte. Jetzt, jetzt geschieht es: Die Scherentüren öffneten sich, indem sie nach vorn oben schwenkten. Der weiße Schwan lud sie zum Einsteigen ein. Jedes Mal gab ihm dieser Anblick einen Adrenalinstoß, der wie eine Droge auf ihn wirkte.
"Wow", sage Sophie, die neben ihm hertrippelte, "das ist ja ein toller Schlitten!"
"Leider nicht meiner, gehört der Firma." Er warf den Aktenordner auf den Rücksitz. Bevor er losfuhr, regulierte er den Bordcomputer und aktivierte die Liveschaltung zur Fernsehkamera seiner Wohnung.
"Alles O. K.", stellte er fest.
"Sind das deine Zimmer?", fragte sie und schaute auf den Bildschirm. Die Verblüffung war ihr anzuhören.
"Ja. Jederzeit werden Fenster und Türen angezeigt. Eine ungewollte Öffnung löst sofort Alarm aus, auch übers Smartphone."
"Wow!"
Er schmunzelte: "Warte, ich stell noch, die Kaffeemaschine an. Wir können gleich nach unserer Ankunft Kaffee trinken." Er tippte auf der Oberfläche des Telefons herum. "Sooo, und jetzt reguliere ich die Zimmertemperatur etwas höher, damit es kuschelig ist, wenn du bei mir die Hüllen fallen lässt." Verschmitzt lachte er sie an.
"Mensch, wen hab ich mir denn da geangelt!"
Er wies auf das u-förmige Gebäude vor ihnen. "Du holst mich doch gerade von der Firma ab!"
"Na, und?"
"Ich bin Softwareentwickler, insbesondere von Apps", half er nach. "Bei mir zuhause ist alles vernetzt."
"Na, das kann ja heiter werden."
Mark wühlte in der Tasche des Jacketts und beförderte eine Brille zutage. Bevor er diese aufsetzte, schaute er Sophie triumphierend an. Seine Finger hantierten an dem kleinen Gerät, das auf dem Gestell befestigt.
"Was machst du? Was ist das?"
Eine kurze Pause verging, ehe er sagte: "Also, du wurdest am dritten Februar vor fünfundzwanzig Jahren geboren. Deine ursprüngliche Haarfarbe ist braun, du magst Hunde, bist Fan der Gruppe 'Seeed' und ...", er stutze für einen Moment, "du hast ein Kind, ein dreijähriges Mädchen?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, startete er den Motor und beschleunigte so heftig, dass die Handtasche der Beifahrerin aus dem Vorderfach geschleudert wurde. Doch es war ihr egal. Heiße Röte flutete ihr Gesicht. Sie bedeckte die Wangen mit den Enden des Schals, damit er es nicht bemerkte.
"Woher willst du das wissen?", stellte sie die Gegenfrage.
"Duuu? Eine Mutter?", bohrte er weiter und drehte sich zur Seite, um sie besser beobachten zu können.
"Pass auf, wo du hinfährst!", herrschte sie ihn an.
Er schaute wieder geradeaus.
Sie schwieg. Sie musste das soeben Gehörte erst verarbeiten, ehe sie sagte: "Das geht dich nichts an. Wir kennen uns gerade einmal zwei Tage." Ihre Stimme nahm einen scheppernden Klang an.
"Das ist schon richtig", brummelte er.
Auch sie lenkte ein: "Ich hätte es dir später erzählt. Bestimmt!" Sie nickte zur Bekräftigung mit dem Kopf. "Doch wieso weißt du dies alles?"
Der Fahrer verlangsamte das Tempo und suchte eine Parklücke, wollte er doch in Ruhe darüber reden. Er ließ den Lenker demonstrativ los, da der Einparkassistent selbständig kurbelte.
"Wow", rutschte es Sophie heraus, obwohl sie von selbstlenkenden Systemen wusste. Gleich darauf stöhnte sie auf. Das Fahrzeug streifte fast die benachbarte Stoßstange.
Mark deaktivierte den Assistenten mit den Worten "Was ist das bloß für eine Scheiße!", ergriff das Lenkrad und verhinderte im letzten Moment den Zusammenstoß. Er runzelte die Stirn, weil der Bordcomputer keine Auffälligkeiten anzeigte. Nach einem geräuschvollem Atemzug sagte er: "Nun denn, lassen wir das jetzt." Er lächelte sie an. "Ich möchte dir erklären, woher ich weiß, dass du zum Beispiel ein Kind hast."
Sie wandte sich ihm prompt zu, sodass der Verschluss ihres Parkas riss. Ein Knopf fiel zu Boden.
Er schaute auf die abgerissene Stoffschlaufe, wobei er erklärte: "Das Zauberwort heißt Gesichtserkennung. Also, ich brauche nur ein Foto von dir zu schießen. Ein spezielles Computerprogramm vergleicht deine wesentlichen Gesichtsmerkmale im Internet mit anderen Fotos von dir und liefert gleichzeitig die passenden Informationen dazu. Prima, nicht wahr? All das, was ich über dich erfahren habe, hast du selbst in Facebook oder sonst wo im Netz preisgegeben."
Sie sah ihn an, rang nach Worten.
"Ich arbeite zurzeit daran, dass dieses Programm schneller arbeitet."
Mark lenkte das Fahrzeug aus der Parklücke. Menschen, Häuser und Bäume huschten vorbei.
Da sie nicht antwortete, stellte er fest: "Gutes Sounddesign. Man erkennt sofort, wer der Hersteller ist."
"Hmm." Sie betrachtete die schwarzlackierten Fingernägel und überlegte, wie sie reagieren sollte. Schließlich meinte sie: "Du entkleidest Personen, die dich interessieren, nur um die Neugierde zu befriedigen? Ich hoffe, sie sind einverstanden damit." Ihre Augen schossen Blitze. "Hast du mich vorher um Erlaubnis gebeten?"
"Ojeeeh!", er seufzte in einem Ton, der Geringschätzung ausdrückte. "Ich helfe der Polizei, Kriminelle zu erkennen und sie zu finden."
"Was ist mit Terroristen? Wenn die deine dämliche Software besitzen?" Die Frage verhallte im Auto, bis sie befahl: "Halt an, ich steige aus. Ich will nichts mit dir zu tun haben!"
Diese Entschlossenheit überraschte ihn. Er hatte sich Sophie als sanftes Mädchen vorgestellt, die zu ihm aufsah und er mit männlichen Armen beschützen würde.
"Halte an!", rief sie.
"Du bist ja hysterisch." Er suchte eine Stelle, wo sie aussteigen könnte und bremste ab. Anstatt das Tempo zu drosseln, beschleunigte das Fahrzeug und raste davon.
"Was soll das?", herrsche sie ihn an.
Er umklammerte mit festem Griff das Lenkrad, um den Weg zu weisen. Doch wider Erwarten reichten seine Kräfte nicht, dem Widerstand der Steuerung entgegenzutreten. Die Hände rutschten ab.
"He, lass das! Was machst du?" Sie bemerkte, wie ihr Herz gegen den Brustkorb schlug.
Das Lenkrad kreiste, kreiste ohne menschliche Führung und gab die Richtung vor. Mark war außerstande, die Lenkung zu beeinflussen. Er drückte das Bremspedal bis zum Anschlag. Vergebens! Er hatte die Gewalt über das Fahrzeug verloren.
Sie schrie.
Er kratze sich vor Aufregung die Wangen und fühlte, wie die warme Körperflüssigkeit aus der verletzten Haut pulsierte.
Sie rasten auf eine Menschengruppe zu, die am Rand der Straße auf das grüne Signal der Ampel wartete. Er versuchte, mit letzter Anstrengung gegenzulenken, das Auto zu stoppen. Es reagierte nicht. Die Jammerlaute auf dem Beifahrersitz vermengten sich mit den Schreien der Passanten. Das, was in nur wenigen Sekunden geschah, lief vor seinen Augen wie in Zeitlupe ab. Menschenleiber schwebten durch die Luft, prallten behutsam auf die Frontscheibe. Ein abgerissener Arm rollte in unendlicher Streckung der Zeit auf ihr herab und hinterließ eine blutige Spur. Blut, überall spritzte Blut ...
Sophies Schreie verstummten. Die Umgebung erstrahlte in einem Licht, dessen Helligkeit Marks Sinne verwirrte. Sie bedeckte die Szenerie wie ein Grabtuch und entführte ihn in eine fremde Welt.
Felix schaute auf die Uhr. Pünktlich, 22.00 Uhr, schnurrte die Klingel an der Wohnungstür. Er öffnete. Vor ihm stand Freund Ecki mit dem Unbekannten. Er wies mit dem Arm auf die Sitzecke, die Besucher sollten Platz nehmen. Sie sprachen zunächst kein Wort. Er verschwand in die Küche, wo die Kaffeemaschine brodelte, den Tisch hatte er bereits gedeckt.
Während er eingoss, musterte er den gegenübersitzenden Herrn. Er trug einen schwarzen Anzug, aus dem ein ebenso dunkles Hemd lugte. Die Krawatte wurde von einem langen Bart überdeckt, dessen Schwarz graue Strähnen belebten, wie auch die kräftigen Haare, die in Wellen bis zum Kragen reichten. Aus den Augen leuchtete ein wilder Charakter.
Felix begann das Gespräch: "Ich begrüße Sie. Hatten Sie eine angenehme Reise?"
Der Gast nickte nur und fragte: "Wie alt bist du?"
"Achtzehn."
"Ist das deine Wohnung?" Er betonte die letzten Silben, redete mit französischem Akzent.
"Nein, die gehört Mutter."
Der Mann schwieg.
"Ich pauke für die Abschlussprüfungen in der Schule. Danach muss ich was machen, will arbeiten, mein Wissen anwenden", erwähnte Felix.
"Warum?"
"Ich will endlich raus, aus diesem Loch. Geld verdienen, was erleben!"
"Wo ist dein Vater?"
"Er wurde im Suff vom Zug überrollt."
"Was macht die Mutter?"
"Sie liebt Komasaufen, treibt sich rum, landet oft in der Ausnüchterungszelle oder im Krankenhaus, wo sie auch jetzt ihren Sturz auskuriert."
"Aha", sagte der Unbekannte und schien irritiert.
Ecki wühlte in den Zeitungen, die kreuz und quer auf dem Tisch lagen. "Hier ist es drin." Er schlug das Minzer Tageblatt auf und las die Überschrift vor: "Der Horror tobt in unsere Kleinstadt". Bevor er die Lektüre fortsetzte, hüstelte er, lächelte den Freund an und nickte dem Schwarzhaarigen zu: "Seit etwa zwei Wochen reißt die Kette unheilvoller Unfälle auf den Minzer Straßen nicht ab. Insgesamt sind fünfzehn Todesopfer zu beklagen. Erst gestern preschte ein Fahrzeug, gelenkt von einem 25-Jährigen, mit Tempo 90 in eine Menschengruppe, die an einer Ampel wartete. Er und die Beifahrerin waren sofort tot. Weitere fünf Personen erlagen den Verletzungen. Drei Schwerverletzte werden im Klinikum behandelt. Die Ursache des Unglücks wird von einer Expertenkommission untersucht."
Er kramte ein anderes Blatt hervor, die Seiten raschelten beim Umblättern. Endlich fand er das Gesuchte. "Hier", er zeigte auf eine Textpassage, "damit haben wir begonnenen."
Der Fremde beugte sich nach vorn, um besser zu verstehen.
"Der Schwager des Grafen van der Meyen kam mit dem Schrecken davon, als seine Luxuslimousine in der Schulstraße in einen Baum fuhr. Es gibt Hinweise auf Fremdeinwirkungen. War es ein Attentat? Die Untersuchungen laufen noch."
"Und all die Toten und Verletzten gehen auf euer Konto?" Der Gast forschte in Eckis Augen, die ihn anlächelten.
"Uns ist das egal. Wir tüfteln gern, wie wir die günstigste Lösung finden. Wenn dabei gestorben wird, ist das ein Nebenprodukt."
Der Unbekannte grinste und betrachtete die Urkunden an der Wand. "Gehören die Ihnen?"
"Ja, auf die sind wir besonders stolz." Ecki legte dem Freund die Hand auf die Schulter und fügte hinzu: "Er ist der Spezialist auf diesem Gebiet, von ihm lerne ich viel."
"Reden Sie, ich muss mehr wissen", befahl der Schwarzhaarige.
Felix antwortete: "Nun gut. Im Falle des Schwagers kaperten wir von der Straße aus die Bordelektronik mit dem Smartphone und manipulierten die Limousine während ihrer Fahrt. Wir schalteten die Innenbeleuchtung ein, bewegten das Schiebedach, ließen die Hupe ertönen, stellten die Musik an und spielten mit der Zentralverriegelung. Dann krachte es."
Der Gast führte die Tasse zum Mund.
"Für uns ist das ein Kinderspiel", übernahm der andere das Wort. "Früher drehte man manuell den Tacho zurück, heute wird die Software im Steuergerät geknackt und verändert. Im Falle des gestrigen Unfalles drangen wir in das Programm der Fahrzeugelektronik ein, deaktivierten die Bremsen und zwangen dem Einparkassistenten unseren Willen auf. Das war Schwerstarbeit, doch wir hatten es geschafft. Hier, von dem Zimmer aus."
Aus den Augen der beiden Hacker strahlte der Stolz.
"Und das Auto landete in der Menschengruppe. Fabelhaft!", sagte der Besucher.
Felix fügte hinzu: "Mit unserer Methode könnten wir Autobatterien manipulieren, und so die Fahrzeuge schädigen, oder die Motoren abschalten, usw. Es existieren ungeahnte Möglichkeiten, die uns offen stehen. Doch leider fehlt dazu das nötige Kleingeld."
"Falls ihr für uns arbeitet, bekommt ihr jegliche Unterstützung", ließ der Fremde vernehmen.
Ecki sah ihn einige Sekunden an. Er hüstelte und sprach weiter: "O. K., von jenem Arbeitsplatz aus", er zeigte in die Ecke, wo mehrere Bildschirme standen, "sind wir in der Lage, den Standort, sagen wir mal, des Präsidenten, zu ermitteln, wenn dieser in der Staatskarosse unterwegs ist. Und dann erst wird es interessant. Die Software ihrer Bordelektronik wird eine Polka tanzen, deren Takt wir vorgeben. Alles Dagewesene werden wir in den Schatten stellen. Ein schwerer Unfall ist gewiss."
Sein Freund ergänzte: "Allerdings geben wir keine Garantie, dass dabei das Staatsoberhaupt ums Leben kommt."
Ecki legte für kurze Zeit die Stirn in Falten. Ihm missfiel der letzte Satz, daher sagte er: "Wir können jedes System knacken, wir tüfteln mit Leidenschaft. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht."
"Ihr erzählt viel. Beweise?", drängte der Besucher.
"Vielleicht die Unfallberichte in den Zeitungen?", erwiderte Felix. Er gab dem Kumpel ein Zeichen. Den Gast forderte er auf: "Wir haben für Sie eine Präsentation vorbereitet. Kommen Sie."
Sie hörten das leise Summen des Computers, der auf dem Eck-Arbeitsplatz stand. Daneben türmten sich DVDs, lagen Festplatten sowie Fachzeitschriften und -bücher. Sie zeugten von einem kreativen Chaos. Dahinter ragten vier Bildschirme in die Höhe, über denen eine Vielzahl von Strippen, Kopfhörern und Kabeln herabhing.
Die Ausführungen der beiden stießen auf ein reges Interesse. Nach mehren Stunden erhob sich der Unbekannte. Er sagte: "Danke." Weiter nichts. Die Körperbewegungen des Mannes deuteten an, dass er gehen wollte. Sie brachten ihn zur Tür. Zum Abschied überreichte er mit angedeuteter Verbeugung und vorgestreckten Armen ein zusammengefaltetes rotes Tuch, auf dem eine Visitenkarte aus rotem Plastik lag. Ecki nahm das Geschenk entgegen. Der Fremde ballte die rechte Hand zur Faust und presste sie auf das Herz. Er rief in die Stille der schwindenden Nacht: "Rot sind Kampf, Leidenschaft und Blut." Es wirkte wie eine Parole. Er öffnete die Tür. Seine Schritte verhallten auf der Treppe.
Felix lehnte den Rücken an die Wand und beobachtete, wie der Freund den Stoff auf die Couch warf, um die Karte zu studieren. "Hier steht nur eine Telefonnummer", stellte er fest. Er drehte und wendete das Plastik zum wiederholten Male, ohne dass sich an dieser Tatsache etwas änderte. "Ich versteh das nicht. Weder Firma, noch Adresse ... Er hatte auch damals nicht gesagt, wer er ist, sondern nur erwähnt, dass er uns Aufträge vermitteln könnte. Du weißt ja, ich bin mit ihm ins Gespräch gekommen, in einer Kneipe." Er hob den Kopf: "Eh, ist dir übel? Du bist ja kreidebleich im Gesicht!" Da keine Antwort kam, grübelte er leise weiter: "Wer ist nur jener Mensch?"
Endlich reagierte Felix, kam auf ihn zu und sagte: "Falte die Fahne auseinander, dann wirst du es wissen."
Ecki nahm das Tuch. Er breitete es in voller Größe auf dem Teppich aus. Er schluckte vor dem, was er sah: Aus einer gelben Rosette züngelten schwarze Flammen und formten fremdländische Schriftzeichen. Vor ihnen lag die gefürchtete Flagge der Sedilisten, einer Terrororganisation, die die Weltherrschaft ihrer Religion anstrebte und Andersdenkende ausrottete.
Ecki fing an zu jubeln: "Hier ist was los. Die brauchen unsere Fähigkeiten, die wollen UNS. Wir werden reich, können uns jede Elektronik leisten."
Sein Freund stimmte in den Jubel nicht ein. Er sah ihn nur an.
"He, Felix, wir kommen raus aus diesem Nest, dieser Enge. Morgen rufen wir die Nummer an. He, du! Es ist doch alles nur ein Spiel, ein Disneyland, und wir sind mittendrin!"
Texte: Brigitte Voß // Songtext auf Seite 3: AC/DC "Highway to hell"
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2014
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