Vorspiele
Was ich zu berichten habe, stellt in keiner Weise etwas Geheimnisvolles, Mysteriöses mit weitreichenden Folgen für das menschlichen Leben dar. Ich hatte nur eine Ahnung über ein stinknormales Ereignis, das rationale Menschen als Zufall abtun. Doch meine Umgebung fand die Geschehnisse, die damit in Zusammenhang standen, belustigend.
Vor dreizehn Jahren weilte ich zum Kuren in Bayern. Eines Tages fragten Patienten, mit denen ich am Tisch saß, ob ich Lust hätte, an einer Radtour teilzunehmen. Ich antwortete: "Lieber nicht, es passiert immer was."
"He?" Die Frau neben mir wollte mehr erfahren.
"Naja, ich stürze oft vom Fahrrad. Außerdem bin ich lange nicht gefahren."
"Wenn wir dich begleiten, ist alles anders."
Dieses Argument überzeugte mich.
Am folgenden Sonntag startete die Tour. Wir, das waren etwa sieben Personen, ließen uns im Kurheim die Bikes aushändigen, die einen gut gewarteten Eindruck machten. Wir fuhren durch Wälder und über Hügel. Leider spielte uns das Wetter einen Streich. Dunkle Wolken nahten, bis es nieselte, aber wir dachten nicht ans Aufgeben. Ich trat in die Pedale, um mithalten zu können. Warum nur, ging das so schwer? Die Beinmuskeln schmerzten.
Wir erreichten eine Ortschaft, wo wir eine Rast einlegten.
Ich sagte: "Ich bin vollkommen kaputt. Was ist da nur los? Ich fühle ..."
"Du hast ja einen Platten", unterbrach mich jemand aus der Gruppe. "Siehst du das nicht?"
"Hmm."
Die Männer kümmerten sich um den Reifen. Jeder glänzte mit besseren Vorschlägen, aber einen Ersatzschlauch hatte niemand parat. Hinzu kam, dass es mittlerweile in Strömen goss, blitzte und donnerte.
"Kommt, wir kehren um", kam es aus der Menge.
Wollten die mich in diesem von Gott verlassenen Nest zurücklassen?
"Ich werde meinen Kumpel fragen, ob er dich und das Fahrrad holen kann. Er ist mit seinem Transporter zur Kur gereist." Und flugs verschwand der nette Typ, um die anderen einzuholen.
So stand ich, ohne eine Menschenseele zu entdecken, am Rande der Straße in einem mir unbekannten Ort. Das Wasser tropfte von den Haaren und der Nase.
Ich betrachtete die Umgebung. Das Wartehäuschen einer stillgelegten Buslinie, durch dessen Ritzen der Wind pfiff, gewährte mir Unterschlupf.
Ich zweifelte, ob mich jemand abholen würde. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Scheinwerfer eines Fahrzeuges die Regenwand durchbohrten und die Fahrbahn absuchten. Ich sprang aus dem Unterstand und wurde samt Rad gerettet.
Immerhin ließ ich zwei Tage verstreichen, ehe ich beschloss, erneut ein Rad auszuleihen, um die Saline des Kurortes zu erkunden. Das Fahrvergnügen währte nicht lange, denn nach nur wenigen Metern fing der Reifen zu eiern an. Ich stieg ab und entdeckte das Malheur. Schlaff hing er in der Felge.
Mit grimmiger Miene gab ich das Fahrrad im Kurheim ab.
"Na, was machen Sie bloß!", bemerkte der Radverantwortliche.
"Werden die Dinger überhaupt instand gehalten?", kam meine bissige Antwort zurück.
"Wagen Sie es doch mal mit dem hier." Er schob mir ein anderes Bike zu. Ich lehnte dankend ab, da mir die Lust vergangen war.
Am Abendbrottisch erzählte ich den Tischgenossen von Schläuchen mit Löchern, aus denen die Luft zischte.
Zwanzig Stunden später konnte ich das tägliche Kurprogramm endlich abhaken, um die freie Zeit, die ich mit Ungeduld herbeisehnte, zu genießen. Die Sonne prasselte hernieder. Sollte ich es mit der Saline noch einmal versuchen? Mit dem Rad? Aber natürlich! Jetzt würde nichts mehr schiefgehen.
Ich schritt mutigen Herzens in den Keller und verlangte ein gründlich gewartetes Fahrrad. Der Radchef nahm es mit Humor. Sein Gesicht verzog sich zu einem charmanten Lächeln, das die Aggressivität meiner Stimme milderte und es unmöglich machte, ihm weiterhin zu zürnen. Bevor er mir ein Rad übergab, zeigte er am Objekt, dass alles in Ordnung sei. Ich schwang mich mit geschärften Sinnen auf den Drahtesel, doch nichts geschah. Zufrieden lächelnd genoss ich den Fahrtwind.
Die Saline beeindruckte wegen ihrer Länge. Ich kletterte darin herum und atmete die salzgeschwängerte Luft heftig ein.
Der tiefstehende, glutrote Sonnenball verriet, dass die Abendbrotzeit heranrückte. Ich radelte zurück. Was ist das denn schon wieder!? Ich kam kaum vom Fleck, obwohl ich die Füße wie eine Irre gegen die Pedale stemmte. Trotz des Asphalts hatte ich den Eindruck, durch bremsenden Sand zu fahren. Ich zögerte, den Vorderreifen zu betrachten, geschweige, dessen Luftinhalt zu prüfen. Das Corpus Delicti war stets der vordere Reifen. Schließlich drückte ich den Gummi tief hinein. Ein leises Pfeifen ertönte.
Ich hielt den Lenker fest, stand da, einfach nur da und versuchte zu begreifen, was mir innerhalb von nur einer Woche passiert war. So viele Zufälle?? Das ist unmöglich!
Langsam schob ich das Rad vor mir her. Ich hatte Hemmungen, erneut ein zerstörtes Fahrzeug abzugeben. Machte ich etwas verkehrt? Nein, ich trug keine Schuld! Mit dieser Einstellung schritt ich die Schräge zum Keller hinab, wo mir der Verantwortliche ungeduldig entgegensah, da der Feierabend nahte.
"Ich kann nichts dafür, wirklich nicht. Ich habe weder Ventil noch Schlauch angefasst. Die Luft ging einfach so raus."
Er runzelte die Stirn. "Wie stellen Sie das nur an?" Der Humor schien ihn zu verlassen, denn das Lachen in seinen Augen verschwand. Eine gereizte Stimmung lag zwischen uns. Ohne Erwiderung verließ ich den Raum.
Zur Beruhigung meiner Nerven suchte ich das Gespräch mit einer Kurpatientin, die ich bereits kennengelernt hatte und die mir zunehmend sympathisch wurde. Als Anne von den mysteriösen Ereignissen erfuhr, lachte sie und tratschte sofort alles weiter, sodass das gesamte Kurheim Bescheid wusste.
Abends, in der Kneipe, musste ich immer wieder von den platten Reifen berichten.
"Das gibt es doch nicht!" oder "Was machst du bloß?", waren die wenig hilfreichen Antworten. Sie rissen Witze, bis auch ich in ihr Gelächter einstimmte, und stellten sogar die Behauptung auf, ich würde mental zerstörerische Wellen aussenden.
Ein Rad rührte ich in Bayern nie mehr an.
Das Orakel
Am folgenden Wochenende fragte Anne, ob ich Lust hätte, mit ihr im angrenzenden Wald zu wandern. Ich sagte zu und so marschierten wir los. Die Wolken türmten sich vom Himmel herab, zeitweise nieselte es. Uns störte das nicht, da wir über Gott und die Welt diskutierten. Schließlich debattierten wir über das Lauftempo.
"Sag mal, können wir etwas langsamer gehen? Ich bin ganz außer Puste."
"Hä? Mir schmerzt schon die linke Seite, weil du so stürmisch wanderst." Ich presste die Worte heraus, da mir die Luft fehlte.
"Wie bitte? Du läufst doch in dem schrecklichen Tempo."
"Nee, ich laufe nur so schnell, weil ich dir kaum folgen kann."
Wir blieben stehen, sahen uns an und konnten uns immer besser leiden.
Annes Stirn legte sich plötzlich in Falten.
"Was ist los?", fragte ich.
"Hier ist ein magischer Ort."
Ich schaute mich um, bemerkte jedoch keine Auffälligkeiten. Hatte sie recht? Immerhin nahm sie in ihrem Heimatort an einem Kurs für Alchemie teil, das wusste ich bereits. Im Aufstellen von Horoskopen schien Anne ebenfalls geübt, wie ich aus Gesprächen mit anderen Patienten erfahren hatte. An all diesen Humbug glaubte ich nicht.
Sie wies auf das dunkelgrüne Moos, das den Boden bedeckte und sich an den Baumwurzeln und -stämmen emporzog.
"Na und? Das ist Moos, ich sehe nur Moos, weiter nichts", antwortete ich.
"Merkst du es denn nicht? Da ist etwas Mystisches. Irgendetwas Schlimmes ist hier passiert. Das spüre ich."
"Hä?"
In jenem Moment kämpften sich einige Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke, sodass das Moos in einem wahrhaft geheimnisvollen Licht aufleuchtete.
"Siehst du, es stimmt", bekräftigte sie ihre Behauptung.
Ich schaute in die Ferne und wusste nicht, was ich antworten sollte. Dabei entdeckte ich einen Punkt, der Konturen annahm und sich als Radfahrer entpuppte. Er fuhr gemächlich dahin. Als er nur wenige Meter von uns entfernt war, hob ich den Arm, zeigte auf ihn und hörte, wie ich meiner zukünftigen Freundin mitteilte:
"Der steigt gleich ab, um die Reifen zu untersuchen. Der hat 'ne Panne."
Kaum hatte ich das gesagt, stieg er ab und hockte sich neben das Rad. Wie auf Kommando eilten wir gleichzeitig in seine Richtung.
"Sagen Sie, haben Sie etwa einen Platten?", fragte Anne.
"So ein Mist! Was denken Sie denn, was das ist?" Er fluchte mit Ausdrücken, die ich noch nie gehört hatte. In Bayern ist eben manches anders.
Schleunigst suchten wir das Weite. Mir hatte es die Sprache verschlagen.
"Mensch, du hast ungeahnte Fähigkeiten!" Ehrliche Bewunderung schwang in ihrer Feststellung mit.
Ich schwieg, um zu verstehen, was sich soeben abgespielt hatte, ehe meine dürftigen Erklärungsversuche begannen: "Alles nur Zufall ..." oder "Bei so viel Reifenpannen ist es einfach normal, so etwas auszusprechen ..." Allerdings leuchteten mir die eigenen Argumente nicht ein.
"Glaub doch an deine übersinnlichen Kräfte. Nimm sie an. Du brauchst keine Angst davor zu haben." So und ähnlich versuchte sie, mich zu beruhigen.
Dass ich magische Fertigkeiten besitzen sollte, musste ich erst einmal kapieren, bevor ich den neugierigen Mitpatienten Rede und Antwort stand. Der Buschfunk würde sich rasch ausbreiten. Und so war es auch: Anne "trommelte" flink.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf ging ich abends in die Sauna. Ich wollte allein sein, um in Ruhe über die nebulösen Vorkommnisse nachzudenken. Vor mir waberte der Dampf, und ich war froh, niemanden zu sehen. Oder war da jemand? Ich meinte, Umrisse einer Person zu erkennen, die hin und her lief. Der dichte Nebel wich ein wenig zurück. Ich traute den Augen kaum: Vor mir ragte ein muskulöser Adoniskörper in die Höhe, dessen einziges Kleidungsstück ein Filzhut mit überbreiter Krempe war. Nackt war hier normal. Aber der ungewöhnliche Hut auf dem Kopf?
Ich weiß noch genau, wie mich der exotische Anblick motivierte, meine mystischen Kräfte spielen zu lassen. Doch leider vergebens, nichts konnte ich daraus orakeln.
Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2014
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