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Momente

Aus der Ferne dringt das Brodeln des Baches an mein Ohr. Es teilt mit, dass Hindernisse den vorbestimmten Weg des Wassers zum See erschweren. Trotzdem strebt es dem Ziel mit spritzender Geschwindigkeit entgegen. Ich sehe die schäumende Gischt bildhaft vor mir, wie sie gegen die Steine brandet. Es ist wie ein letztes Aufbäumen vor dem Tod. Jede Sekunde, Zehntelsekunde, Hundertstelsekunde, vermischen sich die Wassermoleküle mit denen des Sees. Der Bach stirbt, er geht in eine andere Existenz über. Der exakte Augenblick des Sterbens ist nicht genau feststellbar.

So in Gedanken verloren, fühle ich dennoch den nassen Jeansstoff auf der Haut und darunter die Kälte des Findlings, auf dem ich sitze. Er kennt mich, ebenfalls der Baum, der seinen kräftigen Stamm als Lehne anbietet, wenn Kummer und Schmerz von mir Besitz ergreifen. Dieser Ort übt eine magische Anziehungskraft aus.

Der Mond hat es schwer, sich durch die dicken Wolken zu kämpfen, sodass die Dunkelheit die Umgebung mit ihrem schwarzen Mantel auszulöschen droht. Trotzdem sind die Steine am See, die Bäume sowie der schmale Wiesensaum zwischen mir und dem Ufer allgegenwärtig. Ich sehe die Dinge auch ohne Licht, zu oft suchte ich hier Trost.

Der Nieselregen vermengt sich mit den Tränen, als wolle er die Traurigkeit vorantreiben.

Damals, kurz nach der Hochzeit mit Paul, lernte ich jenes Naturparadies kennen. Ich war so glücklich. Paula, das gemeinsame Kind, krabbelte unter den Bäumen und steckte alles in den Mund, was es auftreiben konnte.

Er war der Mann, der mein Inneres zum Schwingen brachte. Immer wollte ich ihn durchdringen, eins sein mit ihm. Er empfand genau wie ich und bewies dies mit innigen Umarmungen, kleinen Aufmerksamkeiten, auch durch die Liebe zu unserer Tochter.

Doch nichts bleibt, wie es war. Das Leben gleicht dem Wasser, ist ständig in Bewegung, strömt, wird mitgerissen, sogar wenn es ruhen will. Hindernisse türmen sich auf, die es über Umwege, die mathematische Formeln kaum vorhersagen können, umfließt oder überschäumt. Es stürzt aus schwindelerregenden Höhen von Felswänden und strebt nur dem einem Ziel entgegen, sich mit dem großen Urgewässer zu vereinen.

Wann legten sich in meiner Ehe die ersten Steine in den Weg? Bekam die Familienidylle Risse? Und warum? Warum!? Ich habe Ahnungen, die nicht in Worte zu fassen sind. Es begann mit Momenten, kleinsten Teilen von Momenten, die das Bewusstsein nicht wahrnehmen konnte. Und als es dazu in der Lage war, war es zu spät, für immer zu spät. Hätte ich den Augenblick erkannt, wäre die Kette unheilvoller Ereignisse nie eingetreten, mir viel Leid erspart geblieben.

Fing es damit an, dass er mich vor Freunden schlecht machte? Ich war die Kommunikativere, die Lustigere, die gern in ihrer Mitte gesehen wurde. Ja, sie mochten mich, sprachen lieber mit mir als mit ihm.

Hatte er bereits vor dieser Zeit forschende Blicke zu mir gesandt, Blicke, die ich nicht deuten konnte? War das der entscheidente Moment? Und was ist mit der fernen Vergangenheit? Womit nahm das Schicksal seinen Lauf?

Ein Knacken und Rascheln aus dem Gebüsch fegt mit einem Schlag die Grübeleien hinweg. Ich drehe den Kopf so heftig nach hinten, dass sich die Haarspange löst, zu Boden fällt und in der Dunkelheit verschwindet. Die Haare folgen der Bewegung und flattern im Wind. Das Geräusch verstummt, dafür glänzen zwei bernsteinfarbene Augen zwischen den Zweigen. Ist das ein Wolf? Beobachtet er mich? Immerhin wurden in der Region Wölfe gesichtet.

„Bumm, bumm-bumm“ sprudelt das Blut durch die Adern und lässt mich aufspringen. Doch sosehr ich die Augen zusammenkneife, sie können die finstere Wand der Nacht nicht durchdringen. Das Bernsteingelb scheint verschwunden, so auch das Knistern im Buschwerk. Während ich in Ratlosigkeit verharre, höre ich die Stimme meines Gewissens: „Einem Wolf sollte man nie in die Augen schauen.“ Aber genau das hatte ich getan. Ich habe Paul in die Augen geschaut, fragend, warum er mir das antat. Warum er mich vor anderen denunzierte, mich hinderte, auszugehen oder Freunde zu treffen. Ich sah in seine Augen, wollte den Grund erfahren. Er fühlte sich provoziert.

„Ich bin schuld, an allem schuld“, rufe ich in die Dunkelheit. Weinkrämpfe erschüttern meinen Körper, die Knie vibrieren. Langsam gleite ich auf den Stein zurück.

Hätte ich mich anders verhalten, wäre ich noch glücklich mit ihm und säße nicht hier, mitten im Wald allein am See, mit Gedanken, die es schaffen würden, sogar die Finsternis zu verdunkeln.

Wie wird es sein, wenn die nassen Fluten nach mir blecken, durch die Körperöffnungen eindringen und die Atmung ersticken? Alles Leben kam einst aus dem Wasser, beherbergt es in seinen Organismen und würde ohne ihm ausgelöscht. Kein Wasser – kein Leben. Ich sehne mich zurück, zum Ursprung des Seins. Ich möchte mich mit ihm vereinen, wie damals mit Paul. Werde ich den Mut aufbringen?

Ich verdränge diese Frage und andere Überlegungen schieben sich in den Vordergrund.

Die Spannung in der Ehe stieg, er hatte mich den Freunden entfremdet. Ich ließ es geschehen, weil ich ihn liebte, so unendlich liebte. Hörig war ich ihm, versuchte, alles recht zu machen. Es reichte nicht aus. Als er die Arbeit verlor, war ich für ihn da, streichelte seinen Arm. Da schlug er mit der Faust in mein Gesicht, brüllte mich an. Später kamen Tritte hinzu, er fesselte er mich ... Nein, ich mag mich nicht ins Detail verlieren. Ich wollte die Polizei holen, er entriss mir das Telefon und schrie, ich würde unser Glück zerstören.

Es folgten Tage, an denen er sich entschuldigte, versprach, es nie wieder zu tun und um Verzeihung bat. Paul versüßte sein Flehen mit Geschenken, verwöhnte meine Empfindungen und tat alles, um mich zum Bleiben zu überzeugen. Ich liebte ihn noch immer und schöpfte Hoffnung, eine trügerische Hoffnung. Er war listig wie ein Wolf. Kaum hatte er mich beruhigt, prügelte er weiter. Gewalt und Ruhephasen wechselten einander ab. Ich verzieh ihm, wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war feige und schwach.

Unser Kind, die kleine Paula ...

Ich versuche, die überstarken Gefühle, die so mächtig einstürmen, abzuschütteln, stehe auf und haste zum Ufer, als ginge es um mein Leben. Der Untergrund ist weich, das feuchte Herbstlaub bleibt an den Schuhen hängen.

Es hat aufgehört zu regnen. Dafür zeigt der Wind seine Kraft und bläst die Wolken beiseite, sodass der Mond die kräuselnden Wellen des Sees in silbergrauen Schattierungen aufleuchten lässt. Ich stelle mir vor, sie bestünden aus Quecksilber, dessen Dämpfe der Oberfläche entsteigen und gleich Nebelschwaden über das Gewässer wabern. Mein Arm taucht zum Gruß in das metallene Nass hinein, das mit Eiseskälte zurückschlägt und ihn vertreibt. Lange betrachte ich die Hand, als ob sie der Träger der Kälte sei.

Wo sind die Tropfen des Quecksilbers, die die Haut schmücken, auf ihr perlen und mich versilbern, wenn ich den Schritt wage?

Ich hebe den Kopf und versuche, die Landschaft des gegenüberliegenden Ufers zu erkennen, doch der weiße Dunst hat sich dort eingenistet. Von den Zweigen und Blättern platschen dicke Wassertropfen auf mein Haar.

Paula, sie überlebte die Stürme der Zeit mit stummen Blicken: Mama wurde geschlagen, Mama weinte vor Schmerzen, Mama hatte bunte Flecke auf der Haut, Mama trug oft eine dunkle Sonnenbrille ... Das Kind litt unter der häuslichen Gewalt, sie war wie gelähmt und außerstande, ihr Leid in Worte fassen. Dafür wachte sie nachts schreiend auf, von Albträumen geplagt. Später, in der Schule, glänzte sie mit ungenügenden Leistungen sowie erneutem Bettnässen. Ständig plagten sie Gewissensbisse, da sie die Mama vor dem Vater nicht beschützen konnte.

Warum sprach ich nicht mit ihr, um sie von dieser Last zu befreien?

Gestern Abend hat meine Schuld Nahrung erfahren, wiegt schwerer als jemals zuvor. Ein Zurück ist unmöglich! Ich sitze am Strand und beobachte, wie sich die Wasserdämpfe in der Ferne auflösen. Die rauen Felswände am anderen Ufer glänzen wild zu mir herüber. Regen und Nebel haben sie gereinigt. Auch der See wird jegliche Verantwortung von mir spülen. Es ist notwendig, doch die Erinnerungen an die Vergangenheit lenken mich ab.

Paul kam bei einem Fahrradunfall ums Leben. Ich trauerte ihm unzählbare Tränen nach, liebte ihn noch immer und schmückte regelmäßig sein Grab.

Paula war es, die nach vielen, vielen Jahren die Mauer des Schweigens durchbrach, die ihr Vater zwischen uns errichtet hatte. Sie hatte sich zu einer selbstbewussten Frau entwickelt, jede Menge Bücher gelesen und sogar Psychologie studiert, wahrscheinlich um besser zu verstehen. „Wie kann man nur lieben, was einen zerstört?“, fragte sie oft.

„Er hatte komplizierte Eltern, daher war er so brutal“ und „Er hatte Stress auf Arbeit“ und „Ich habe falsche Dinge gesagt“ und „Er versicherte mir ständig seine Liebe“ und „Er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen“ und „Ich liebte ihn, ich liebte ihn so sehr“, und ..., und ..., und ..., sprudelten ihr meine Antworten entgegen. Sie wischte sie mit den Worten beiseite: „Liebtest du auch die Schläge? Nicht dein Verhalten war verantwortlich, sein Charakter ließ ihn gewalttätig werden. Er trägt die Schuld. Auch wenn ihn deine Reaktionen gestört haben sollten, er sie nicht ertragen konnte, hatte er keineswegs das Recht, dich zu misshandeln. Der Fehler lag nicht bei dir. Du darfst dich nicht schuldig fühlen! Du bist nicht daran schuld!“

Meine kluge Tochter ließ nicht locker, bis sie es schaffte, dass ich endlich über die erlittene Gewalt sprach, obwohl ich die Erinnerung daran aus dem Gehirn verbannen wollte. Die Zeit, die der Ehe mit Paul folgte, lebte ich in einer Art Trance, die Paula mit aller Kunst durchlöcherte, zunächst mit extrem dünnen Nadeln. Nur ein Hauch der Realität konnte sich durch die schmalen Öffnungen zwängen. Die Nadeln wurden dicker, bis schließlich die Umnebelung, die mich wie ein Gefängnis umgarnte, zerbröckelte. Die Sonnenfinsternis wich dem sprühenden Licht. Ich fing an zu glauben, dass sie recht hatte. DU DARFST DICH NICHT SCHULDIG FÜHLEN! DU BIST NICHT DARAN SCHULD!

Mein Leben veränderte sich, ich verbrachte Jahre der Freude und des Genusses mit Paula und neu gewonnenen Freundinnen. Männer hatten kein Zugang, existierten für mich nicht mehr ...

Ein lang gezogenes tiefes Brüllen unterbricht meine Gedanken. In der Ferne röhren Hirsche ihre Männlichkeit durch die Nacht. Die kapitalen Tiere buhlen um die Gunst der weiblichen Artgenossen. Sie stimmen einen Kanon der Brunftschreie an.

Mich fröstelt, ich ziehe die Jacke enger um den Körper, doch sie ist durchnässt vom Regen und den Nebeltröpfchen. Ich sollte sie ausziehen, sie wärmt nicht mehr. Wozu auch, die Stunde ist gekommen, ich werde das sinnlose Dasein beenden.

Die Bilder des gestrigen Abends steigen vor meinem inneren Auge auf: Er lag in der Küche. Bevor er stürzte, prallte sein Hinterkopf mit einem dumpfen Poltern auf die Tischkante. Jegliches Leben schien aus ihm zu weichen. Je mehr Farbe Patrizios Gesicht verlor, desto größer wurde das blutige Rinnsal, das auf dem Weiß der Fußbodenfliesen rote bizarre Muster zeichnete. Zur Säule erstarrt registrierte ich den leblosen Mann, den Italiener, der mich mit sonnigem Gemüt vereinnahmte, der ständig lachte und allem Negativen eine optimistische Richtung wies. War ich seine Mörderin? Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis die Frage mit all ihren Konsequenzen in die verstecktesten Winkel meines Bewusstseins drang. Ich erwachte aus der Reglosigkeit und griff zum Telefon. Während ich mit dem Rettungsdienst sprach, hörte ich ein Stöhnen. Der Mann, den ich heiraten wollte, richtete sich auf und sah mich mit einer Grimasse an, die nichts Gutes verhieß. Plötzlich stand er, zunächst schwankend, und wollte über mich herfallen. Ich stieß die Küchentür auf, rannte durch die Nacht. Ich rannte und rannte. Als ich mich umdrehte, war er verschwunden. Ich fand mich am See wieder, wo ich Qual und Scham ertränken werde.

Paula, du freutest dich, dass ich Patrizio in mein Herz aufnahm. Du konntest nicht ahnen, was ich hätte ahnen müssen. Ich schäme mich, da ich so naiv war und erneut einen brutalen Mann in mein Haus ließ. Ich nahm die Momente der beginnenden Gewalt, die ich doch so gut kannte, nicht wahr. Oder ignorierte ich sie?

Er begann, mich wegen Kleinigkeiten zu beschimpfen und zerstörte persönliche Gegenstände, wie den Teddy aus meinen Kindertagen. Erst gestern stellte ich ihn zur Rede. Wir diskutierten, er wurde aggressiver, bis er mich ins Gesicht schlug und das Zimmer verließ. Anstatt die Polizei zu holen, saß ich einfach nur da und habe geheult, wie damals bei Paul. Nichts hatte ich gelernt und wieder versagt.

Ich ging in die Küche, um die Wunden zu kühlen. Patrizio saß am Tisch. Mein Anblick reizte ihn, er kam mit geballten Fäusten auf mich zu. Doch dieses Mal wehrte ich mich, drosch auf seinen Körper ein. Es war ein wundervolles Gefühl, ihn zu schlagen und nicht wieder aufzuhören. So schnell, wie es auftauchte, verschwand es, als er das Gleichgewicht verlor und stürzte ...

Vor Tagesanbruch muss es geschehen. Meine Füße bewegen sich im Zeitlupentempo dem Wasser, der Erlösung von Schuld und Scham entgegen.

NICHT DEIN VERHALTEN WAR VERANTWORTLICH, SEIN CHARAKTER LIEß IHN GEWALTTÄTIG WERDEN. ER TRÄGT DIE SCHULD.

Ich stehe bereits bis zu den Knien im See. Er ist kalt, jagt den Schmerz durch die Knochen. Ist das der erste Moment eines schleichenden Todes?

Ich gehe weiter. Das Nass schwappt über die Gürtelschnalle, die mir Patrizio in seiner Heimat kaufte. Trotz der eisigen Temperatur sind die Gedanken in Aufruhr.

Es dämmert, wird heller, und die Felsen am gegenüberliegenden Ufer glühen in einem rötlichen Orange. Die aufgehende Sonne verstärkt die Glut. Kleinste Sternchen blitzen auf, tauchen die obere Kante des Felsrückens in ein leuchtendes Rot, sprühen in den Himmel und über den See. Das gleißende Sonnenfeuer spiegelt sich in den Wellen. Wie in Hypnose betrachte ich das Naturschauspiel. Die Füße halten inne, bewegen sich nicht, trotz des Kommandos: „Lauft! Bringt mich ins tiefe Wasser, bis es sich über mir schließt, sich meine Moleküle mit seinen vermengen, sodass ich eins bin mit der Natur.“

NIEMAND HAT DAS RECHT, DICH ZU SCHLAGEN! DU BIST NICHT DARAN SCHULD. SCHÄME DICH NICHT.

Eine unsichtbare Kraft zwingt mich umzukehren, zurück zum Strand zu gehen. Oder bin ich es gar selbst? Ein Teil von mir, der fordert, das todbringende Nass zu verlassen?

Ich stehe am Ufer. Die Muskeln zittern, während die roten Sternchen, die von den Wellen herübergetragen werden, meine Seele erhellen.

Die Jacke hängt schwer herunter. Ich beobachte, wie die Hand das Telefon aus der Innentasche holt und eine Nummer wählt. Auf dem Bildschirm tummeln sich Wassertropfen, die ihm nichts anhaben konnten. Die Verbindung kommt zustande. Eine verschlafene Stimme meldet sich. Sie gehört Paula.

Ich schluchze in das Handy: „Bitte, bitte, du musst mir helfen. Komm her, hilf mir ...“

 

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2014

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