Beate verlässt die Fähre in Kristiansand, so wie jedes Jahr im Juni. Die Zollbeamten winken, sie solle durchfahren, was sie aufatmen lässt. Sie hält sich nicht weiter in der Stadt auf, sondern lenkt ihr Auto Richtung Stavanger.
Die Vergangenheit stürmt auf sie ein, quält sie, wenn sie norwegischen Boden betritt. Sie muss aufpassen, dass sie in der Aufregung das Gefühl für Geschwindigkeit nicht verliert, denn in diesem Land gelten andere Verkehrsregeln, deren Überschreitung teuer werden kann. Unterwegs hält sie in einem kleinen Ort vor einem Lebensmittelgeschäft an, um „tre fiskeboller“ und „tre flasker brus“ zu kaufen. Sie nimmt einen der Fischklöße aus der Verpackung und beißt herzhaft hinein. Seit der Abfahrt in Deutschland hat sie nichts mehr gegessen. Nachdem sie ihren Durst mit Limonade gestillt hat, setzt sie die Fahrt fort.
Der Film der Erinnerung startet, ohne sie zu fragen. Er beleuchtet alle Einzelheiten des Urlaubes, den sie und die Freundin vor sieben Jahren in Norwegen verbrachten. Seitdem sucht sie jährlich die Stationen der gemeinsamen Reise auf, wobei Angst, aber auch Magenbeschwerden ihr arg zusetzen. Beate ist ratlos, warum sie sich das antut. Jegliches Grübeln darüber bleibt in einer Endlosspirale hängen. Ihr Innerstes wird gezwungen, diese Selbstkasteiung auf sich zu nehmen. Nichts kann sie dagegen unternehmen, da sie keine Ahnung hat, woher der übermächtige Druck kommt.
Die Finger, die das Lenkrad umfassen, zittern, als sie das Lachen der Freundin hört. Das Gedächtnis holt ihr Gesicht hervor, das permanent zu lächeln schien. Aus den mandelförmigen, grünen Augen, die sie mit dick aufgetragener Wimperntusche betonte, leuchtete der Schalk. Der blonde Pony bedeckte die geschwärzten Augenbrauen. Sie trug das Haar meist offen, was Aufsehen erregte, da es bis zu den Hüften reichte. Diese Schönheit warf Schatten auf Beate, die sie in die Rolle des Mauerblümchens drängte.
Die Freundin stammte aus reichem Hause, sodass ihr die Eltern für die bestandene Prüfung eine Reise nach Norwegen nebst Auto schenkten. Die beste Kumpanin gab es in der Gratispackung dazu.
‚Damals lag uns die Welt zu Füßen, zwanzig Jahre waren wir alt‘, überlegt Beate. ‚Es hätte ein traumhafter Urlaub werden können.‘ Sie seufzt und fügt mit lauter Stimme hinzu: „Hätte! Wenn nicht ...“ Sie beginnt zu singen, um die bohrende Erinnerung zu verdrängen. Später würde sie noch genug leiden.
Endlich erreicht sie Stavanger, wo sie sich in das Hotel begibt, in dem die Freundinnen vor genau sieben Jahren von erlebnisreichen Tagen in Norwegen träumten.
Die Unruhe vor den kommenden Nächten erfasst sie. Sie ist aufgekratzt, an Schlaf ist nicht zu denken. Daher bummelt sie durch die Altstadt. Die weiß getünchten Holzhäuser leuchten in der tief stehenden Sonne und vermitteln ein Gefühl von Reinheit. Den Gehweg schmücken Töpfe, in die die Bewohner bunte Blumen gepflanzt haben. Am Ende der abwärtsführenden Gasse überragt ein Kreuzfahrtschiff, das im Hafen ankert, die Häuser. Immer wieder verblüfft sie dieser Anblick.
Beate reißt den Mund auf, dem ein geräuschvolles Gähnen entschlüpft. Ob sie will oder nicht, die Müdigkeit zwingt sie, ihr Hotelzimmer aufzusuchen. Vor dem Schlafengehen genehmigt sie sich den Hochprozentigen, von dem sie einige Flaschen aus Deutschland über die Grenze geschmuggelt hat. Die Träume der Nacht werden sie erschrecken. Jedes Jahr hofft sie, diese durch Alkohol zu mildern. Bisher erfolglos. Sie zieht die Vorhänge zu, wirft sich in das Bett, wo ihr der Schlaf sein Grauen offenbart:
- Sie fühlte eine eiskalte Säge an ihrem Bein, die nicht nur das Fleisch anritzte. Das Werkzeug drang weit in den Knochen und drohte, ihn zu zerstören. Sie wollte um Hilfe rufen, doch der Frost umhüllte mit einem Eispanzer die Lippen. Die durchsichtige Schicht knisterte, weil sie mit aller Kraft versuchte, den Mund zu öffnen. Vergebens.
Aus den Tiefen des Schnees erklang ein dumpfes Gelächter, das näher kam. Die Schneedecke vor ihr geriet in Bewegung. Eine klauenähnliche Hand wühlte sich heraus. Sie war mit Runzeln übersät und besaß nur vier Finger, deren Spitzen in krallenartigen Nägeln endeten. Sie schaufelten den Schnee beiseite. Die Angst stieg ins Unermessliche, als ein Gesicht durch die weiße, eisige Oberfläche stieß. Seine Haut bildete eine Landschaft aus Pickeln, umgeben von Falten und borstige Haaren. In der Mitte thronte eine Knollennase. Links und rechts davon stachen zwei schwarze Augen hervor, die wie glühende Kohlen in die ihren tauchten. Sie hatte das Gefühl, als wollten ihre Augäpfel platzen. Das Gesicht betrachtete die Frau mit einem Blick, aus dem Neugierde und Boshaftigkeit sprachen. Schließlich sprang ein kleines, koboldartiges Wesen aus dem Schnee und hüpfte vor ihr herum. Fellfetzen, die in Büscheln aus der Lederhaut wuchsen, bedeckten den rundlichen Körper. Es bleckte seine gelblichen Nagezähne, auf denen Eiskristalle glänzten. Sie näherten sich und schnappten nach ihr. Sie wollte weglaufen, doch irgendetwas hielt ihr Bein fest. Es knirschte, als es ihr endlich gelang, die Eiskruste auf den Lippen zu sprengen. Sie schrie, sie schrie sich die Seele aus dem Leib. –
Der Schmerz in der linken Körperhälfte zwingt sie, die Augen zu öffnen. Sie muss aus dem Bett gefallen sein, denn Beate findet sich auf dem Vorleger wieder. Mit dem Gedanken ‚Immerhin ist der Albtraum vorbei‘ kriecht sie schlaftrunken unter die Bettdecke. Sie weiß, dass sie die restlichen Stunden ohne Angst schlafen wird.
Am nächsten Tag weckt sie die Rezeption zeitig, da sie die früheste Schiffsfahrt auf dem Lysefjord nicht verpassen möchte.
Erneut steht sie im Vorderteil des Schiffes, um die steil abstürzenden, von Urkräften geformten Felswände an sich vorbeiziehen zu lassen.
Die Vergangenheit bestürmt sie:
Vor sieben Jahren bestaunte sie von dem Ausflugsschiff aus den Preikestolen, einen Felsen, der aussah, als hätte ihn ein Künstler aus dem steinernen Berg herausgemeißelt, als sie angesprochen wurde: „What a wonderful nature, isn’t it?“
Sie erinnert sich, wie sie mit klopfendem Herzen erschrak, sah sie doch einen blonden, vollbärtigen Mann an der Reling stehen, der ihr Strompfeile durch den Körper jagte. Da sie es nicht gewohnt war, von unbekannten Typen in ein Gespräch verwickelt zu werden, schoss ihr das Blut in Hände und Füße, obwohl der kalte Wind an der Kleidung zerrte.
Seine kräftigen Haare umrahmten, vom Sturm zerzaust, das Gesicht, was ihm ein abenteuerliches Aussehen verpasste. Sie schmolz dahin, als er sich vorstellte: „My name is Lars, Lars Solberg. I’m Norwegian.“ Er reichte ihr die Hand, deren rissige Haut von körperlicher Arbeit zeugte.
„Jeg heter Beate Kadisch. Jeg er tysk“, erwiderte sie, ohne nachzudenken, in seiner Heimatsprache. Er staunte, sodass sie im Überschwang der Gefühle hinzufügte: „Jeg går på norskurs.“
Lars legte den Arm um ihre Schulter. Sie genoss diesen Moment. Allerdings verstummten die Schmetterlinge in ihrem Bauch, als er auf norwegisch antwortete. Sie verstand nichts, absolut nichts. Ihr war das peinlich. Die paar Wochen, die sie an dem Norwegischkurs teilgenommen hatte, ermöglichten noch kein tiefer gehendes Gespräch. Trotzdem bewunderte er ihre Kenntnisse mit einem „Flott!“ und setzte die Unterhaltung auf Englisch fort. Sie atmete auf.
Er wies auf den Preikestolen und lachte Beate an: „Der sieht aus, wie ein steiler, überdimensionaler Zahn.“
Kathrin, die vor den kalten Temperaturen unter Deck geflohen war, gesellte sich zu ihnen.
Er gab auch ihr die Hand, wobei er die langen Haare, die seitlich vorn aus der Kapuze hingen, mit Wohlgefallen bestaunte. Lars erzählte, dass er auf einer Ölplattform arbeitete und Urlaub hatte. Er wollte mit dem Motorrad durch Norwegen fahren, um die Naturschönheiten seiner Heimat zu erkunden.
Beate grübelt: ‚Ich war so glücklich. Warum nur, kam alles anders?‘ Sie bemerkt kaum, wohin sie läuft, so sehr vereinnahmen sie die Gedanken. ‚Andererseits, wenn ich ihn nicht getroffen hätte, ginge es meiner Seele besser. Er ist schuld, an allem!‘
Sie reißt die Tür zu ihrem Auto auf und fährt mit überhöhter Geschwindigkeit aus dem Parkhaus der nächsten Etappe entgegen.
Auch damals fuhren sie im Anschluss an die Schiffsfahrt weiter, wobei ihnen Lars mit seinem Motorrad folgte. Er wollte die beiden Frauen bis Kaupanger begleiten, um danach einen Kumpel an der Küste zu besuchen. Beate freute sich wie ein kleines Kind, dass er für eine Weile bei ihr blieb.
Mit Wehmut denkt sie daran zurück.
Am Svandalsfossen, einem mächtigen Wasserfall, stellt sie, wie jedes Jahr, ihr Fahrzeug ab, um an ihm empor zu wandern. Über mehrere Stufen stürzt ihr die tobende Naturgewalt entgegen und befeuchtet mit seinen Nebeln die Umgebung. Der Geruch nach nassem Stein, Moos und Wasser betört wie früher die Sinne. Auch das Tosen des Wasserfalls, dessen kalter Hauch die Wangen streift, weckt Bilder der Vergangenheit. Sie bleibt stehen. ‚Hier ist es passiert‘, stellt sie fest. Beate dreht sich um. ‚Und dort, am Felsen, stand Kathrin und tat, als bemerke sie nichts.‘ Die Erinnerung bringt ihr Blut in Wallung. ‚Ja, und an dem Baum hat mich Lars in die Arme genommen und geküsst.‘ Sie lehnte sich mit dem Rücken an die borkige Rinde, schließt die Augen und spürt seine Zunge in ihrem Mund. Das Rauschen des Wassers erweckt Emotionen, die sie einst überwältigten und auch jetzt gegenwärtig sind. Sie seufzt.
Es fällt ihr schwer, sich aus dem hypnoseähnlichen Zustand zu befreien. Doch sie muss weiter, denn abends möchte sie im Hotel ankommen.
Mit der Autofähre überquert sie lang gestreckte Fjorde, fährt anschließend in steilen Serpentinen über eine Passstraße, vorbei an schneebedeckten Bergen und Seen. Sie benutzt diesselbe Strecke wie vor sieben Jahren, nur saß sie damals auf der schweren Maschine hinter Lars und schmiegte sich an ihn, während Kathrin mit ihrem Coupé folgte. Niemals wird sie dieses Gefühl der Freiheit vergessen, als er die scharfen, steilen Kurven mit dem Motorrad nahm, und sie voller Vertrauen in seine Fahrtkünste in die Ferne schaute, um die grandiosen Aussichten zu genießen.
An jenem Abend begann das Unheil:
Das Hotel lag an einem Fjord, nicht weit vom Zentrum der kleinen Ortschaft entfernt. Sie packten ihre Sachen aus und suchten gleich darauf einen Supermarkt auf, um Bier zu kaufen. Und da passierte es: Beate stand wie ein begossener Pudel an der Kasse, weil die Verkäuferin die Herausgabe des Alkohols verweigerte. Sie nahm ihr die zwanzig Jahre nicht ab und beschimpfte sie, als wäre sie ein dreijähriges Kind. Die Tatsache, dass sie eine Ausländerin war, spielte keine Rolle, hinzu kam, dass sie den Pass vergessen hatte.
Kathrin und Lars standen etwas abseits, lachten und fanden die Situation komisch.
„Na, meine Kleine, wollen sie dir kein Bier geben? Da muss wohl erst mal die Mami ran“, mit diesen Worten ging ihre Freundin an die Kasse und bekam ohne Schwierigkeiten den Alkohol und Beate einen hochroten Kopf.
Sie verließen das Geschäft.
„Warum schneidest du auch immer deine Haare so kurz, du siehst aus, wie ein kleiner Junge.“ Kathrin zwinkerte Lars zu und stichelte weiter: „Und überhaupt, wie sie sich anzieht! Andauernd nur Jeans mit einem karierten Hemd. Dass du da noch erkennst, dass sie eine Frau ist, wundert mich.“
Er lachte, erwiderte aber nichts.
Sie glaubte, sich zu verhören. Warum machte die Freundin sie so schlecht? Und das vor ihm? Ihr schossen die Tränen in die Augen. Sie ließ die beiden stehen und flüchtete voller Scham und Wut ins Hotel ...
In genau dem Hotel übernachtet Beate jetzt wieder. Obwohl es gern von Touristen aufgesucht wird, ist stets das Zimmer frei, in dem sie Kathrin zur Rede stellte. Das ist merkwürdig. Sie denkt nicht mehr darüber nach, es gibt keine Erklärung.
Beate sitzt auf der Bettkante und erwartet, dass sich das Gespräch in ihrer Vorstellung wiederholt, so wie jedes Mal, wenn sie hier ist. Einige Minuten vergehen, bis sie die Freundin sprechen hört:
„Ich habe doch nur ein kleines Späßchen gemacht. Du bist aber empfindlich.“
Jetzt erst erkannte Beate, was Kathrin plante. Wie konnte sie nur so dumm sein! Mit leiser, vor Wut bebender Stimme sagte sie: „Du willst ihn auf deine Seite ziehen, indem du mich schlecht machst.“ Sie schluchzte. „Für mich interessiert sich Lars und nicht für dich! Willst du ihn mir ausspannen, so wie du das gern machst?“
„Na, hallo!“, mehr antwortete die Freundin nicht.
Beate verlegte sich aufs Flehen: „Bitte lass ihn mir, dir fliegen die Jungs zu. Du kannst alle haben! Ich werde kaum bemerkt, bin immer nur der liebe Kumpel!“ Ihr Schluchzen verhinderte ein Weitersprechen. Sie wühlte im Rucksack und suchte ein Taschentuch.
Die Freundin schaute aus dem Fenster und gähnte. „Ich bin müde. Wollen wir nicht schlafen gehen?“ ...
„Ja, so war das damals“, seufzt Beate. Sie sieht mit Schrecken der nahenden Nacht entgegen. Ein Albtraum wird sie foltern, das weiß sie genau. Sie fürchtet sich vor dessen Bedeutung und den Empfindungen, die ihr dabei die Luft abschnüren. Aus der Ferne klingt das Geläut einer Uhr zu ihr. Es zeigt Mitternacht an. Sie springt hoch, sucht die Flasche und trinkt mehr, als sie vertragen kann.
Beate legt sich ins Bett. Die Wände, die Decke, alles schwankt um sie herum.
- Die Kälte kannte kein Erbarmen. Sie riss die Augen auf und erblickte in Hüfthöhe eine Schneedecke, die im Schein der untergehenden Sonne leuchtete. Das Dämmerlicht, das in dieser Jahreszeit die Dunkelheit der Nacht ersetzt, vermittelte der gespenstischen Szenerie ein Grauen, das die junge Frau zusätzlich lähmte. Mit Erstaunen nahm sie wahr, dass ihr linkes Bein tief im Schnee steckte, während das rechte angewinkelt vor ihr stand.
Der Kobold war verschwunden, sie musste geträumt haben. Oder träumte sie noch? Die Situation war derart unwirklich, ja lebensbedrohlich, dass nichts anderes infrage kam. Sie zwinkerte mit den Augen und bemerkte, dass eine dicke Reifschicht die langen Wimpern umhüllte. Ihr frostiges Gesicht schmerzte. Eine Erkenntnis zuckte durch den Körper: ‚Ich träume nicht!‘ Sie schrie: „Nein, ich träume nicht! Scheiße!“ Es folgte ein krächzendes „Hilfe. Hiiiiilfe!“
Kein Mensch war zu sehen. Sie versuchte aufzustehen, mit den Händen den Schnee von dem Bein wegzuwühlen. Doch alle Bemühungen, es herausziehen, um dieser misslichen Situation zu entfliehen, schlugen fehl.
‚Wie komme ich hierher? Wieso halten mich die weißen Massen derart gefangen, dass ich es nicht befreien kann?‘ Sie startete einen erneuten Versuch. Der Schnee umklammerte sie wie eine Betonwand. Sie drückte sich vom Boden ab und stöhnte vor Anstrengung. Das Bein rutschte keinen Zentimeter höher.
‚Wie lange stecke ich hier schon fest?‘ Das Gedächtnis bestand aus Löchern, die sie nicht mehr füllen konnte. Sie weinte und schrie. Die Tränen bildeten Rinnsale auf ihrem Gesicht, die alsbald gefroren. -
Beate wacht auf und wischt sich die Nässe von den Wangen. Eine tiefe Traurigkeit lastet auf der Brust. Der Körper zittert, die Zähne schlagen aufeinander. Ob vor Kälte oder Schrecken, es spielt keine Rolle.
‚Ich kann nicht mehr! Wieso fahre ich jährlich nach Norwegen, um mich von einer unbekannten Macht quälen zu lassen?‘
Unter der Dusche schrubbt sie die Haut, als wolle sie alles Schlechte davon abkratzen. Ihre Seele stört den Schlaf, sodass sie am frühen Morgen das Hotel verlässt, um mit dem Auto eine weitere Station der schmerzlichen Erinnerungen anzusteuern.
Sie fährt durch ein Tal. Rechts von ihr ragen Felsen in den Himmel, von denen Wasser gebündelt in die Tiefe die tost. Die Wasserfälle reihen sich wie eine Kette aneinander. Keiner gleicht seinem Nachbarn: Mal ist er schmal, verzweigt oder strömt breitflächig den Hang hinab.
Die Landschaft verändert von Kilometer zu Kilometer ihr Gesicht. Ein Fjord taucht auf. Die Straße schlängelt sich an ihm entlang. Die umliegenden Berge werfen Schatten auf die Meeresbucht, die von den Lichtreflexen der kräuselnden, kleinen Wellen unterbrochen werden. Sonne, Felsen und Wasser zeichnen ein Gemälde, wie es Künstler wohl nie erschaffen können.
Von all dem nimmt Beate nichts wahr. Sie fährt die Straße, die sie damals zu dritt benutzten ...
Sie saß hinter Lars auf dem Motorrad, der Kathrin folgte. Er redete kaum mit ihr. So sehr sie sich auch bemühte, ein Gespräch anzufangen, eine schweigende Wand löschte es aus.
Am preisgekrönten Aussichtspunkt Stegastein legten sie eine Rast ein. Sie waren verblüfft wegen der Rampe aus Holz, die über den Baumwipfeln weit ins Freie ragte. Der Steg endete in einer schrägen Begrenzung aus Glas.
Auch heute noch scheut Beate, den Abschluss dieser Plattform zu betreten, weil er die Illusion erweckt, frei über dem Aurlandsfjord zu schweben. Kathrin und Lars hingegen waren schwindelfrei und gingen Hand in Hand bis ans Ende des Aussichtspunktes. Dort lehnte sie sich rücklings an die gläserne Begrenzung und reckte den Kopf weit nach hinten, wobei die Brüste den Pulli spannten. Er schloss sie in die Arme, und so blieben sie, wie es Beate schien, eine Ewigkeit stehen. Der grandiosen Aussicht auf den Fjord schenkten sie keine Aufmerksamkeit.
Immer, wenn Beate an diesen Augenblick denkt, ist ihr zum Heulen zumute. Er interessierte sich nur noch für Kathrin, die es verstand, ihn mit aufreizendem Lachen und einer dezenten Parfümwolke zu locken. Sie wusste genau, wie man auf Männerfang ging.
Den Rest der Fahrt verbrachte sie auf dem Beifahrersitz neben der Freundin, während Lars mit seiner Maschine hinterher düste. Sie schwiegen, bis es aus Beate herausbrach: „Warum bist du so gemein? Warum machst du das?“ Obwohl sich ihre Stimme vor Zorn überschlug, antwortete Kathrin mit ruhigen, aber etwas abgehackten Worten: „Sei still, ich muss mich auf die Serpentinen konzentrieren. Du siehst doch, in welchem Zustand die Straße ist.“ Mehr hielt sie nicht für nötig.
Beate konnte dem Zwang kaum widerstehen, ins Lenkrad zu greifen, um sie in den Abgrund zu steuern, der sich auf ihrer Seite auftat.
Bis zur heutigen Zeit bereut sie, dass sie es unterließ. Sie hätte Ruhe finden können, für immer Ruhe. Stattdessen schrie sie mit Tränen in den Augen: „Du bist nicht mehr meine Freundin!“
Sie erreichten Kaupanger, das Tagesziel. Das Hotel lag in der Nähe des längsten, aber auch tiefsten Fjords Europas, dem Sognefjord.
Lars und Kathrin buchten mit der größten Selbstverständlichkeit ein Doppelzimmer.
Diese Gemeinheit zerbrach etwas, veränderte für immer ihr Leben. Das hatte sie der Exfreundin nun doch nicht zugetraut. Und Lars? Hatte er kein Gefühl im Herz? Stumme Wut und Traurigkeit nagten in ihr. Sie war den Geschehnissen hilflos ausgeliefert.
Am folgenden Tag, nach dem Mittagessen, verabschiedete sich Lars unter Umarmungen und Küssen von Kathrin, da er, wie geplant, seinen Freund an der Küste besuchen wollte. Er versprach, sie in Deutschland anzurufen. Beate bekam nur ein „Ha det!“ zu hören, was soviel wie „tschüss“ bedeutet. Er schaute an ihr vorbei.
Die Frauen blieben zurück. Beate offenbarte der Exfreundin, dass sie einen Wagen mieten wollte, um den Urlaub in Norwegen abzubrechen. Sie konnte Kathrins Anwesenheit nicht mehr ertragen. Diese wiederum freute sich, damit unangenehmen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Sie packte die Sachen, stieg allein in ihr Auto und lenkte es Richtung Sognefjellet, einer Gebirgslandschaft, ohne dass sie die frühere Freundin noch einmal sah.
Endlich stand Beates Mietwagen vor dem Hotel. Sie startete den Motor, um die Reise zur Fähre anzutreten. Sie fuhr bereits einige Kilometer, als sie sich eines besseren besann. Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Warum sollte sie auf die viel gepriesene Landschaftsroute Sognefjellet verzichten? Nur wegen dieser Freundin? Sie wollte den höchsten Bergpass Nordeuropas überqueren und all die Naturschönheiten bewundern, über die sie in den Broschüren gelesen hatte. Erst danach würde sie die Heimreise antreten. Ohne weiteres Nachdenken wendete Beate das Fahrzeug und fuhr alsbald durch eine atemberaubende Natur. Eine zackige Felslandschaft huschte an ihr vorbei. Bergseen, auf denen Eisschollen schwammen, beeindruckten sie. Der Schnee am Straßenrand schimmerte bläulich, später türmte er sich höher und höher, bis sie eine Gasse durchfuhr, die von meterhohen Schneemauern gebildet wurde.
Da, nach einer Kurve, sah sie plötzlich Kathrins Auto stehen. Was machte sie hier? Müsste sie dieses Gebiet nicht längst passiert haben? Kurz entschlossen lenkte Beate ihr Fahrzeug auf den Parkplatz. Sie stieg aus, zog sich den dicken Anorak an und ging einige Schritte die Touristenstraße entlang. Sie entdeckte die ehemalige Freundin in einer bizarren Situation ...
Beate sitzt im Hotelrestaurant und versucht das Bild, wie sie Kathrin im Sognefjellet vorfand zu verdrängen, doch die mentalen Kräfte reichen nicht aus. Einzelheiten stürmen zunehmend auf sie ein. Sie weiß, dass sie sie nie vergessen wird. Genau, wie ihr bewusst ist, dass sie diese Nacht ein Albtraum erwartet, der auf der Haut einen Schweißfilm erzeugt.
Mit den Worten „Ich will nicht“, steht sie auf, geht in ihr Zimmer und zieht die schweren, dicken Vorhänge zu. Obwohl es bereits spät am Abend ist, leuchtet die Sonne am Horizont. Kaum hat sie sich hingelegt, übermannt sie wider Erwarten der Schlaf. Der permanente Schrecken zehrt an den Nerven.
- Aus der Ferne raste ein Lichtschein auf sie zu, den die Scheinwerfer eines Fahrzeuges ausstrahlten. Sie wedelte mit den Armen und schrie um ihr Leben. Doch nur das Heulen des Sturms, der ihr weiße Flocken in die Augen wehte, antwortete. Das Licht glitt über sie hinweg, wurde fahler, bis es verschwand.
Wie sollte man sie auch bemerken? Niemand vermutete, dass nur einige Meter von der Straße entfernt der Schnee ein junges Mädchen gefangen hielt. Nur wenige Fahrer benutzten zu so später Stunde die Passstraße. Es gelang ihr nicht, deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die quälende Einsamkeit war der einzige Begleiter.
Panik und Kälte erschöpften sie, sodass sie das Schreien und Scharren im Schnee aufgab. Ihre Augen versuchten, die Umgebung zu analysieren. Einige Schritte vor ihr ragte eine quadratische Skulptur aus der weißen Oberfläche, und mit einem Schlag übermannte sie die Erinnerung. Sie sah, wie sie das Auto auf den Rastplatz abstellte, und ein von Menschenhand geschaffenes Viereck aus Stein mitten in der Landschaft entdeckte. Das Kunstwerk interessierte sie. Sie lief ein Stück die Straße zurück und verließ diese, um durch das Schneefeld der Skulptur entgegen zu stapfen. Plötzlich gab unter ihrem linken Bein die Schneedecke nach, dass es wie in einem Loch verschwand. Die Bemühungen, es herauszuziehen, führten zu keinem Erfolg. Sie konnte selbst kaum glauben, dass der Schnee eine derartige Kraft besaß.
Sie hatte den letzten Rest Energie verbraucht, um sich aus der misslichen Lage zu befreien. Die Muskeln begannen zu versagen, waren sie doch diese Kälte nicht gewohnt. Ihre Hände hingen leblos herab, wie Eisklumpen, denen jegliches Gefühl abhanden gekommen war.
Die junge Frau zuckte zusammen, weil Geräusche an ihr Ohr drangen. Stammten sie von einem Auto, das auf den Rastplatz fuhr? Jetzt? Mitten in der Nacht? Eine Tür schlug zu, jemand stieg aus. Sie lauschte. Sie hörte Schritte, die im Schnee knirschten. Näherten sie sich? Nein, das war unmöglich. Der Sturm duldete keine Nebengeräusche. Er übertönte alles, mit seinem todbringenden Heulen. Sie glaubte zu fantasieren, als sie am Straßenrand einen Menschen erblickte. Sie bündelte die restlichen Kraftreserven zusammen, um ein letztes Mal nach Hilfe zu rufen. -
Aber niemand kam, um ihr zu helfen. ‚Ich war es, die nicht kam‘, denkt Beate voller Schuldgefühle. Sie steht am Straßenrand, genau dort, wo sie vor sieben Jahren die einst beste Freundin im Schnee entdeckte. Kathrin wühlte darin herum und rief etwas, das sie im Pfeifen des Sturmes nur an den Bewegungen der Lippen deuten konnte. Sie formten das Wort „Hilfe“. Dieser stummer Ruf hat sich in Beates Gehörwindungen verfangen, wo er an Stimme gewinnt, einer Stimme, die sie nie verlassen wird. Sie hätte helfen können, doch tat sie es nicht. Sie stand einfach nur da und beobachtete, wie die Freundin am Ende der Kräfte war, wie sie sich aufbäumte, und ..., und für immer zusammenbrach.
Touristen fanden sie am nächsten Tag, erfroren in jener eisigen Nacht ...
Beates Schultern beben, die Tränen laufen ohne Unterlass. Niemand bemerkt die Schuld, die sie zu erdrücken droht. Sie fürchtet sich, hat Angst vor der Frau, die jährlich vor der Skulptur erscheint und ihr den Rücken zukehrt. Sie hat blonde Haare, die ihr bis an die Hüften reichen, ist eingehüllt in schwarze Tücher, die im Wind flattern. Sie wird sich umdrehen, das weiß Beate, sie wird die dunkle Brille abnehmen und sie lange, lange anschauen, ihr in die Augen schauen, wie jedes Jahr im Juni.
Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2014
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