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Kalt

Sie zwängten sich durch die enge Gasse, die die Freisitze der Restaurants, Kneipen und Cafés für ihre Besucher ließen. An den Tischen saßen schwarz gekleidete Menschen, meist jüngeren Alters. Auch Alexandra und ihre drei Freunde trugen von Kopf bis Fuß schwarze Kleidung.
Es war heiß, und so waren alle froh, endlich einen unbesetzten Tisch gefunden zu haben. Alexandra atmete auf, als sie unter dem großen Sonnenschirm Platz nahm. Sie fächelte sich mit der Speisekarte Luft zu, wobei ihr die Geruchsmischung von Schimmel, Pilzen und Erde in die Nase stieg. Sie mochte das Zombieparfüm, das ihre Freundin Laura auch an anderen Tagen trug.
Laura griff immer wieder an ihr linkes Auge. Sie konnte sich nicht an die Augenklappe gewöhnen, die in Form eines schwarzen Spinnennetzes aus Spitze ihr Auge zierte.
Sie befanden sich in Leipzigs schönster Kneipenmeile, dem Barfußgässchen.
Daniel kam sogar von seiner Nordseeinsel in diese Stadt, um das jährlich zu Pfingsten stattfindende Festival mit seinen Freunden zu feiern.
Die Kellnerin kam. Sie wich Daniels Hand aus, die die Speisekarte in Empfang nehmen wollte. Er sah mit seinem stacheligen Nietenarmband aus, als würde er jeden Moment zustechen. Sie lachte über ihre Reflexbewegung und reichte ihnen die Karte.
Philipp bestellte für sich und seine Freunde eine Runde Bier. Die rote Schminke um seine Augen herum simulierte heraustropfendes Blut. Die schweren Ketten, die um seine Hose geschlungen waren, rasselten bei jeder Bewegung.
Die beiden Mädchen trugen mehrlagige Röcke aus Tüll. Das Ledertop von Alexandra betonte ihre Kurven, während Lauras Bustier eine dekorative Frontschnürung mit roten Borten aufwies. Ihre schwarz gefärbten Haare waren zu Türmen hochgesteckt, als hätte sie kleine Hörner.
Das Bier schmeckte. Sie unterhielten sich angeregt, nur Laura wurde immer stiller und zupfte an ihren Borten herum.
Philipp legte seinen muskulösen Arm um ihre Schulter und sagte: „Laura, du wirst sehn, es wird überhaupt nicht schlimm. Wir waren bereits alle an der Reihe. Nun bist du dran.“
„Genau“, bekräftigte Daniel die Worte.
Laura zuckte zusammen. „Ich gehe da nicht rein. Ihr könnt mich nicht zwingen.“
„Sei kein Spielverderber“, antwortete Alexandra. Sie versuchte, aus Bieruntersetzern ein Haus zu bauen.
„Genau“, ließ sich Daniel erneut vernehmen. „Auch ich war da drin. Du, das ist sogar interessant. Ich habe mir die Werkzeuge angesehen, mit denen Leichenteile entnommen werden. Die haben sogar Sägen dafür und ...“
„Sei still!“, fuhr Laura dazwischen. Die Blässe drang bereits durch ihr Make-up.
Alexandra stieß ihr Kartenhaus um und sah Laura in die violett geschminkten Augen. „Also Laura. Wir hatten geschworen, dass jedes Jahr zum Wave-Gotic-Treffen einer von uns dran ist. Da kriegst du keine Extrawurst gebraten.“
Und Philipp fügte hinzu: „Komm, wir trinken noch einen Cognac.“
Daniel bestellte vier doppelte Cognacs. Er ließ sanft sein Stachelarmband über Alexandras Hand streifen und fragte sie: „Was genau musst du als medizinische Präparationsassistentin machen?“
„Willst du das wirklich wissen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich sorge für die Hygiene, entnehme den Leichen Proben, fertige daraus Präparate für die Forschung und nähe die Toten wieder zu.“ Sie blickte in die Runde, wobei sie auf die Reaktionen ihrer Freunde wartete.
Die Kellnerin kam, und alle schwiegen. Kaum hatte sie den Cognac auf den Tisch gestellt, griff Laura ein Glas und trank den Inhalt mit großen Schlucken aus.
Philipp reichte ihr noch einen weiteren gefüllten Cognacschwenker, den Laura sogleich auf Ex leerte.
„Nicht schlecht“, sagte Philipp und rasselte mit seinen Beinketten.
„Wird dir nicht übel bei deiner Arbeit?“, beteiligte sich jetzt auch Laura am Gespräch.
„Ich bin das gewohnt“, antwortete die Freundin.
„Ach, komm“, unterbrach Philipp das Gespräch, „reden wir von etwas anderem. Ich bin begeistert von den vielen Dark-Wave-Gruppen, die hier ihre Konzerte geben.“
Die vier Freunde hatten ihr Thema gefunden. Selbst Laura lebte auf und diskutierte eifrig mit.
Die Sonne stand tief am Himmel. Alexandra schaute auf ihre Totenkopfuhr und sagte: „Es ist schon spät. Wir müssen aufbrechen.“
Sie verließen die Kneipenmeile. Bei jedem Schritt raschelten die Röcke der jungen Frauen, wobei die groben Metallketten an Philipps Hose mit ihrem Scheppern den Takt vorgaben.
Leipzigs Straßen hatten eine schwarz-bunte Färbung angenommen. Ihnen begegneten Gestalten, die aussahen, als wären sie gerade erst dem Grab entstiegen. Die düster geschminkten Gesichter passten nicht so recht zu dem Lachen ihrer Besitzer. Vor dem Goethedenkmal am Naschmarkt posierten Festivalteilnehmer vor den gezückten Kameras der Touristen und schaulustigen Leipziger, die die Neugierde in die Innenstadt getrieben hat.
„Wenn die wüssten, wo wir jetzt hingehen“, unterbrach Daniel das Schweigen. Er musterte Laura, die etwas schwankte. Ob vom Alkohol oder vor Angst, war ihm nicht klar.
„Du wirst es überstehen, und morgen gehen wir gemeinsam in die Moritzbastei zum „Metal-Konzert“, versuchte Philipp sie zu trösten.
„Genau“, bekräftigte Daniel.
„Du gehst mir auf den Geist mit deinem ewigen ‚Genau‘“, fuhr Laura ihn an.
Sie stiegen in die Straßenbahn, wo Laura am liebsten die Notbremse gezogen hätte, um die kommende Nacht hinauszuzögern. Doch die Bahn rollte weiter und brachte sie an ihr Ziel.
Alexandra besaß als Mitarbeiterin einen Schlüssel für den inoffiziellen Eingang des pathologischen Institutes. Unbemerkt gelangten sie in den Sezierraum, dessen Wände weiß gefliest waren. In der Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem sich Fachbücher stapelten. Sie redeten leise, so als wollten sie die Toten nicht erwecken.
Daniel schwang sich auf den Seziertisch und holte einen Flachmann aus seinem schwarzen Frack. „Laura komm an meine grüne Seite und stärke dich erst einmal.“ Er hielt ihr die kleine Flasche hin, die sie begierig an ihre schwarz geschminkten Lippen führte. Sie spürte die Wärme, die in ihr aufstieg. Mit der Wärme kam ihre Zuversicht zurück. Die Freunde werden noch eine Weile bleiben, und danach wird sie allein die Nacht im Sezierraum verbringen. ‚Sie haben es geschafft, und ich werde es auch schaffen!‘, dachte sie.
Alexandra kicherte. „Kommt, wir suchen uns die schönste männliche Leiche der Pathologie aus.“ Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, zog sie auch schon einige Fächer der Kühlregale auf. „Schaut mal, dieser hier.“ Sie schob das Tuch zurück. Vor ihnen lag ein Mann mittleren Alters mit einem kräftigen, durchtrainierten Körper. „Der könnte mir gefallen.“
Laura scheute die Konfrontation mit der Leiche. Sie sagte kein Wort.
Philipp verzog angewidert das Gesicht, betrachtete allerdings die Toten mit aufkeimendem Interesse. Er beugte sich vor und sagte: „Nicht schlecht. Allerdings sieht der im Gesicht etwas krank aus.“
„Genau“, bestätigte Daniel. Er zog das Tuch des Toten im Nachbarregal zurück und beugte sich über ihn. „Der war bestimmt ein Musiker. Seht euch seine filigranen Finger und das zarte Gesicht an.“
„Habt ihr auch hübsche Frauen hier?“, fragte Philipp. David drehte sich sofort zu Alexandra um, und wartete auf die Antwort.
„Das könnte euch so passen. Die zeige ich euch nicht. Dann findet ihr sie noch schöner als mich.“ Ihre Augen leuchteten verschmitzt.
„Och“, sagten beide gleichzeitig. Ihre enttäuschten Stimmen schallten durch den gekachelten Raum.
„Es ist besser, wir gehen jetzt“, sagte Alexandra und drehte sich zu Laura um, die kaum merklich zusammenzuckte. „Morgen früh kommen wir wieder. Ich schließe diese Tür zu, damit du nicht abhaust. Das haben wir ja immer so gemacht.“ Sie wühlte das Schlüsselbund aus ihrer Handtasche.
„Und wenn du diese Mutprobe bestehst, machen wir morgen einen drauf“, fügte Philipp hinzu. Er war froh, dass er es schon hinter sich hatte. Gruselig war es doch, als er letztes Jahr die Nacht hier verbringen musste. Doch davon hatte er seinen Freunden nichts erzählt. Natürlich war nichts passiert, nur dass ihn seit dem Albträume verfolgten.
„Leg dich einfach auf den Seziertisch und penne“, riet Daniel und umarmte sie zum Abschied. Auch die anderen nahmen Laura in die Arme. Sie drückte jeden an sich, als wäre es ein letztes Mal.
Die Freunde verließen den Raum. Sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, dann war sie allein.
Mit Entsetzen bemerkte sie, dass Alexandra vergessen hatte, die Kühlboxen zu schließen. Mit hastigen Bewegungen schob sie die Toten zurück, wobei sie den Fußboden anstarrte. Sie wollte die Leichen nicht sehen.
Laura atmete auf, drehte sich um und ging zur Tür. Ihre Schritte hallten auf dem kahlen Steinfußboden. Sie bewegte die Klinke nach unten, doch die Tür war wirklich verschlossen. Wie sollte es auch anders sein. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie lief von einer Ecke des Raumes zur anderen und setzte sich schließlich an den Schreibtisch. Darüber befand sich ein Bücherbord. Sie griff sich ein Buch, dessen Einband schon bessere Tage gesehen hatte. Sie las den Titel: „Die Obduktion“. Laura nahm ihre schwarze Augenbinde ab und blätterte in den Seiten herum, die teilweise lose im Buch lagen.
„Brhhh!“ Sie schaute auf eine Seite, auf die braune Flecke gesprenkelt waren. Vor ihren Augen sah sie, wie Alexandra mit einem Skalpell in der Hand Informationen suchte, wobei das Blut ihres Obduktionsopfers beim Umblättern auf die Seite tropfte. Laura hatte eine blühende Fantasie, die ihr den Aufenthalt an diesem Ort erschwerte. Sie schob das Buch unter einen der vielen Bücherstapel, die sich auf dem Schreibtisch häuften, sodass es ihrem Blickfeld entschwand.
Sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Vielleicht war es wirklich besser zu schlafen, ihre Angst einfach weg zu schlafen. Sie legte den Kopf auf den Schreibtisch, doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie blieb wach. Ihr Puls dröhnte mit einem lauten „Bumm, Bumm-Bumm“ im Dreivierteltakt in den Ohren. Sie versuchte gleichmäßig zu atmen, um die nagende Angst zu drosseln.
Was war das? Erschrocken hob sie den Kopf und drehte sich um. Natürlich war sie allein in der Sezierhalle. Doch das kratzende Geräusch ließ ihre Körperspannung ansteigen, so als wolle sie im nächsten Moment aufspringen und weglaufen. Die Fluchtreflexe funktionierten, nur waren sie vergebens. Wohin sollte sie fliehen? Die Tür war abgeschlossen. Da sich der Raum im Untergeschoss befand, hatte er auch keine Fenster. Es gab keinen Ausweg aus dieser unheimlichen Situation.
Sie beobachtete die Kühlregale, aus denen das schabende Knistern kam. Sie konnte den Blick nicht mehr abwenden. Laura reckte den Kopf in die Höhe, um sich besser konzentrieren zu können. Das Kratzen kam aus der vorletzten Kühlbox. Sie spürte, wie ihre Stirn nass wurde und knabberte an ihren Fingernägeln. Sie glaubte zu träumen, so unwirklich war, was jetzt geschah: Die Box ruckelte und bewegte sich ein Stück nach vorn. Sie sah zwei Füße, der eine bewegte sich und an dem anderen baumelte an der Zehe ein Zettel. Die Box erzitterte erneut. Die junge Frau wimmerte mit kaum hörbarer Stimme. Sie starrte auf die Box, die im Schneckentempo von innen aufgeschoben wurde. Laura konnte sich nicht bewegen, sogar ihre Augen blieben weit aufgerissen, um das Unfassbare wahrzunehmen. Dem Fuß folgte ein Tuch, unter dem sich ein männlicher Körper abzeichnete. Ein behaarter Arm schob das Tuch beiseite.
Laura wollte schreien, doch nur ein krächzender Laut kam über ihre Lippen.
‚Mein Handy‘, fiel es Laura ein. Sie erwachte aus ihrer Starre, nahm die Handtasche vom Tisch und wühlte ein rosa Handy hervor. Dabei fiel ihr teures Zombieparfüm mit einem klirrenden Geräusch zu Boden. Sie hörte den Aufschlag, doch es war ihr egal. Den Touchscreen konnte sie kaum bedienen, so sehr zitterte ihre Hand, die Alexandras Nummer suchte. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass hier unten kein Empfang war. 
Sie schrie auf und ein lautes „Nein!“, schrillte durch den Raum.
Vor ihr lag ein nackter Mann mit geschlossenen Augen auf der Bahre. Er bewegte sich scheinbar nicht mehr, doch beim genauen Hinschauen bemerkte Laura, dass sich der Brustkorb im Rhythmus der Atmung wölbte und senkte.
Sie stöhnte, was sollte sie tun? Im Schrank sah sie durch dessen Glastür fein säuberlich aufgereihte Skalpelle liegen. Sie riss die Tür auf und nahm das Größte heraus.
Der Mann auf der Bahre rührte sich immer noch nicht.
Laura presste sich mit dem Rücken an den Schrank. Mit erhobenem Skalpell war sie jederzeit bereit zuzustechen.
Er öffnete die Augen. „Mir ist so kalt“, nuschelte er, „so schrecklich kalt.“ Er konnte seine Lippen kaum bewegen. Es folgte ein langes Schweigen. Er sah das Mädchen in ihrer schwarzen Gruftikeidung an.
‚Hat er mich angelächelt?‘, dachte Laura. Auch sie fror. Ihr schlugen vor Angst die Zähne aufeinander, so sehr zitterte sie.
Er wandte den Blick von ihr und betrachtete die Umgebung.
„Wo bin ich hier?“, fragte er mit einer festeren Stimme.
Laura antwortete nicht.
„Mir ist so kalt, ich friere“, betonte er immer wieder. Er sprach in einer hohen Tonlage, die für einen Mann ungewöhnlich war.
In Lauras Gehirn arbeitete es: ‚Dem Mann ist kalt. Er war im Kühlregal. Wir sind in der Pathologie. Wie kommt er an diesen Ort? Er lebt. Ja, er ist nicht tot, er lebt. Ich muss ihm helfen.‘
Nach einigem Zögern näherte sie sich dem Mann auf der Bahre und warf ihm die kleine Reisedecke über, die ihr Philipp beim Abschied gegeben hatte. Kaum war dies geschehen, kehrte sie rückwärts mit großen Schritten zum Schrank zurück, wobei sie den angeblich Toten nicht aus den Augen ließ.
Wie viel Zeit verging, wusste sie nicht. Sie stand da, das Skalpell in der Hand. Und er schaute sie unentwegt an.
Er sagte jetzt deutlicher: „Wo bin ich hier? War ich nicht im Krankenhaus? Wo bin ich?“
„In der Pathologie“, antwortete Laura, auch etwas lauter.
Schweigen.
Plötzlich musste der Mann sich übergeben. Er richtete sich auf. „Diese verdammten Schweine!“, brüllte er.
Sie zuckte zusammen. Die Wut in seiner Stimme hörte sie deutlich heraus.
Er sah sie wieder an. „Komm doch bitte her, ich habe Angst“, flehte der Mann, der sich jetzt vollständig bewegen konnte. „Nimm meine Hand.“
Laura ging auf ihn zu, immer noch mit dem Skalpell in der Hand. Da sprang er auf und riss sie zu sich auf die Bahre. Das Skalpell fiel zu Boden. Sie lag bäuchlings auf ihn und konnte sich seinem unerwartet derben Griff nicht entziehen.
„Wärme mich“, sagte er, wobei er sie an sich presste. Sie wollte ihn von sich drücken, was ihr nicht gelang. Sie spürte die Kälte des unter ihr liegenden nackten Körpers, die durch ihre Kleidung drang, aber auch die Erregung, die von diesem Ungeheuer ausströmte. Seine nackte Haut rieb sich an ihren Röcken, die er langsam hochschob. „Du riechst gut“, hauchte er ihr ins Ohr. Seine kalten Finger berührten die Innenseite ihrer Schenkel.
Sie schrie.
„Toll, dass es dir gefällt. Schrei lauter mein Schatz“, erwiderte er.
Je mehr dieser Mensch ihr die Körperwärme nahm, desto aktiver wurde er. Er packte sie unter den Armen und warf sie auf den Seziertisch. Er zerriss ihre Kleidung, stieß mit den Knien ihre Beine auseinander und drang kalt in sie ein. Tiefe grunzende Laute dröhnten durch die Halle. Laura war mehr ohnmächtig als lebendig.
Die Uhr an der Wand tickte im unbarmherzigen Gleichmaß dem Morgen entgegen.
Laura nahm kaum noch wahr, was er mit ihr anstellte. Ihr Wille versagte, sie konnte sich nicht wehren. Die bohrende Marter in ihrem Unterleib nahm kein Ende.
Was war das? Stimmen vor der Tür? Laura versuchte, ihre Sinne zu schärfen. Die Stimmen wurden lauter. Sie bündelte all ihre Kräfte, um wenigstens ein leises Stöhnen von sich geben zu können.
„Schweig, du Schlampe!“, hörte sie ihn rufen. Gleichzeitig verspürte sie einen brennenden Schlag ins Gesicht. Ihre Umgebung nahm undeutliche Formen an, bis sie nichts mehr sehen konnte. Die zunehmende Dunkelheit, die sich in ihr ausbreitete, nahm ihr den Schmerz.
Der Mann glitt vom Seziertisch. Während er ihren leblosen Körper packte, ließ er die Tür nicht aus den Augen. Die Bahre ächzte, als er das Mädchen auf sie warf. Er schob sie in das Kühlregal und machte die Klappe zu.
Ohne nachzudenken, griff er sich die Stahlcontainer, die neben dem Instrumentenschrank standen, und verbarrikadierte damit die Tür. Die Behälter waren schwer, und er musste sich anstrengen.
Er lauschte. Er hörte mehrere Personen, die sich auf der anderen Seite der Tür befanden.
Ein Schlüssel bewegte sich im Schloss. Die Klinke bewegte sich auf und nieder, während eine weibliche Stimme rief: „Laura, Laura. Mach doch endlich auf.“
Niemand antwortete.
Der Mann hob das Skalpell auf, mit dem sich Laura verteidigen wollte, und sah sich nach einem Versteck um. Er schnappte sich einen der Stahlcontainer und kletterte hinein. Über sich ließ er den Deckel fallen. Er musste sich sehr krümmen, um in den Behälter zu passen, sodass es ihm die Luft abschnürte.
Das Rütteln an der Tür verstärkte sich. „Ich habe ein Stöhnen gehört. Das war Laura“, rief die Stimme von draußen.
Der Mann bewegte sich nicht.
Harte Stöße erschütterten die Tür. Der oberste Stahlcontainer fiel zu Boden. Sie öffnete sich, erst einen Spaltbreit, dann stürzte der stählerne Barrikadenturm zusammen. Eine schwarz gekleidete Person zwängte sich durch den schmalen Zwischenraum. Sie schob die Stahlcontainer beiseite, die Tür wurde von außen aufgestoßen und drei junge Leute drängten in den Raum.
„Oh, Gott“, flüsterte Alexandra, „was ist hier geschehen?“ Sie nahm die blutigen Kleidungsfetzen vom Seziertisch.
„Das sind Lauras Sachen“, sagte Philipp mit monotoner Automatenstimme.
Sie schauten sich um.
„Laura, wo bist du? Lauraaaa!“, riefen alle durcheinander, doch ihre Freundin meldete sich nicht. Stattdessen hörten sie ein leises Japsen. Sie drehten sich wie auf Kommando in die gleiche Richtung. Daniel und Philipp schlichen zu den Containern, aus denen das Geräusch kam. Philipp gab Daniel ein Zeichen. Sie rissen den ersten Behälter auf. Er war leer.
Das Schnaufen drang wieder an ihre Ohren. Sie fixierten mit ihren Blicken den Nachbarbehälter. Alexandra half, den Deckel anzuheben. Was folgte, ereignete sich sehr schnell. Ein nackter Mensch entsprang der Box, stach auf das Mädchen ein, erblickte ihre beiden Begleiter und rannte zum Ausgang. Daniel kümmerte sich um Alexandra, während Philipp mit großen Schritten dem offensichtlich untrainierten Mann folgte. Im Nu hatte er ihn eingeholt und warf ihn zu Boden. „Daniel komm. Hilf mir!“, rief er seinen Freund, da sich der Mann heftig wehrte.
Daniel zögerte zunächst. Er hörte Alexandra gleichmäßig atmen, drehte sie in die Seitenlage und eilte zu Philipp.
„Zum Seziertisch“, rief Philipp, der mit seinem Kopf eine Bewegung in die gewünschte Richtung machte.
Mit aller Kraft hievten sie den Gefangenen auf den Tisch. Daniel warf sich auf ihn, da er sah, dass Philipp an den Metallketten seiner Hose nestelte, die sogleich mit einem schweren Klirren zu Boden fielen. Philipp schnappte sich diese und fesselte damit den sich heftig Wehrenden an den Tisch. „Die Ketten werden halten“, war sein einziger Kommentar.
Alexandra hatte sich inzwischen aufgerichtet und presste die Hand auf ihren blutenden Bauch.
“Ich rufe die Hilfe!“, sagte Daniel. Während er die Nummer wählte, gab sein Smartphone drei piepsende Töne von sich.
Daniel kümmerte sich um Alexandra, die vor Schmerzen wimmerte. Philipp suchte Laura, konnte sie jedoch nirgends entdecken.
Es dauerte nicht lange, bis die Polizei kam. Rettungssanitäter sowie Ärzte eilten auf die junge Frau zu, um sie zu untersuchen. Alexandra blinzelte durch die Augen, sie hatte Mühe, diese Szenerie richtig einzuordnen. Wie durch einen Schleier nahm sie den Direktor der Pathologie und seinen Assistenten wahr, die gerade den Raum betraten. Sofort schloss sie ihre Augen. Sie brauchte sich nicht lange zu verstellen, da sie auf einer Trage aus dem Raum getragen wurde und so unangenehmen Nachforschungen entging.
Daniel und Philipp beantworteten die Fragen der Polizisten, die sofort Verstärkung anforderte. Laura blieb unauffindbar.
Der Kommissar löste den Mann von seinen Ketten und legte ihm Handschellen an. Der nackter Körper war blutbeschmiert, obgleich er unverletzt war. Er verweigerte jegliche Aussage. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet, wobei er eine monotone Melodie vor sich hinsummte.
"Wo ist Laura?“, schrie Daniel ihn an.
„Führen Sie die beiden Zeugen bitte in einen anderen Raum“, bat der Kommissar einen seiner Mitarbeiter. „Wo können wir sie ungestört befragen?“, wandte er sich an den Assistenten des Direktors. Dieser reagierte nicht. Er starrte den blutigen Gefangenen an, dem eine Sanitäterin gerade eine Wärmedecke reichte. Er lehnte sie mit den Worten: „Ich liebe die Nacktheit, mein Schätzchen“, ab.
Der Kommissar wiederholte seine Frage. Wieder kam keine Antwort.
Stattdessen wurde die Gesichtsfarbe des Assistenten immer fahler. Er wurde so blass, wie die Leichen, die er für die Forschungsarbeiten sezieren musste. Wie in Zeitlupe hob er seinen Arm und zeigte auf den Nackten: „De ..., der wurde doch gestern hier eingeliefert? Wieso sitzt der lebend hier? Das ist nicht logisch.“ Er sah sich um, doch keiner antwortete ihm. „Ich täusche mich nicht!“, sagte er jetzt in einer schrillen Tonlage, die niemand überhören konnte. „Warten Sie“, fügt er hinzu und stellte den Computer an. Bei der Eingabe des Kennwortes vertippte er sich einige Male. Endlich kam er an sein Ziel. „Hier sehen Sie. Ernst Miller wurde gestern 15.00 Uhr in die Pathologie eingeliefert. Den Totenschein hat ein Dr. Baldus vom Gefängniskrankenhaus ausgestellt.“ Der Assistent fuhr sich mit der Hand durch sein blonde Haar, sodass der Scheitel kaum noch zu erkennen war. „Ein irrtümlich bescheinigter Tod?“, seine Frage verhallte im Raum. Alle schauten ihn und den Institutsdirektor an. 
Der Direktor zückte mit hochrotem Gesicht sein Handy, wählte die Nummer des Krankenhauses in der Justizvollzugsanstalt Leipzig und hatte trotz des Wochenendes Dr. Baldus am Apparat. Mit den einleitenden Worten: “Was leistet ihr für schlampige Arbeit?“, erklärte der Direktor den Sachverhalt und hörte seinem Gegenüber zu. Die Äderchen an seiner Schläfe schwollen an. Es entwickelte sich ein langes Wortgefecht. Schließlich sagte der Institutsdirektor mit eindringlicher Stimme: „Diese Angelegenheit wird ein Nachspiel haben, das können Sie wissen!“ Damit war das Gespräch beendet.
Er wandte sich an den Kommissar: „Herr Miller wurde wegen schwerwiegender Vergewaltigungen zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Ins Gefängniskrankenhaus wurde er eingeliefert, weil die Ursache seiner epileptischen Anfälle untersucht werden sollte. Nach solch einem Anfall verfiel er gestern in einen Zustand, den Dr. Baldus als angeblichen Tod diagnostizierte. Wir, in der Pathologie, sollten ermitteln, an welcher Krankheit Herr Miller gestorben ist.“ Er räusperte sich und fügte hinzu: „Und nun sitzt Herr Miller lebendig auf einem Stuhl.“
Der Strafgefangene blickte die ihn Umgebenden an, wobei er immer noch die gleiche Melodie vor sich hinsummte.
„Was hast du mit Laura angestellt, du verdammtes Schwein!“ Philipp konnte sich nicht mehr beherrschen und rannte mit erhobener Faust auf den Gefangenen los, der seine in Handschellen gelegten Arme schützend vor das Gesicht hielt. Der Assistent konnte Philipp im letzten Moment stoppen.
„Schafft doch endlich die Zeugen raus“, mischte sich ein Polizist ein.
Philipp und Daniel wurden aus dem Sezierraum geführt.
„Wo ist die Vermisste? Wo ist Laura?“, befragte der Kommissar erneut den Strafgefangenen, der daraufhin aufhörte zu summen, allerdings keine weitere Kooperation zeigte. Abrupt drehte sich der Kommissar zum Assistenten: „In welcher Box lag Herr Miller?“
Sofort rannte der Assistent zum entsprechenden Kühlregal und zog die vorletzte Bahre heraus. Darauf lag eine junge Frau. „Sie lebt noch“, sagte der Assistent, während ein Arzt ihn wegstieß, um Laura zu untersuchen.
„Schnell, schnell doch. Sie muss sofort ins Krankenhaus“, rief der Arzt,  während er ihr eine Kanüle in den Unterarm legte.

Epilog
   Alexandra betrachtete das Gesicht ihrer Freundin. Sie strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sprach sie an: „Laura, hörst du mich?“
Laura erwiderte nichts.
Auch Philipp versuchte, wie schon so oft, Lauras Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch ohne Erfolg. Lauras Miene blieb, wie immer, undurchdringlich. Ihr Blick war auf die Freunde gerichtet, die um sie herum saßen. Und trotzdem schien sie sie nicht wahrzunehmen, sie sah einfach durch sie hindurch, in eine Ferne, die niemand erkennen konnte.
Alexandra wickelte sich ihren langen schwarzen Schal mehrfach um den Hals. „Mir ist so kalt“, sagte sie.
Keiner antwortete.
 „Es ist bereits ein Jahr her“, murmelte Alexandra. „Wenn sie doch endlich aufwachen, reagieren und mit uns sprechen würde.“ Sie schluckte und redete weiter: „Ich bin schuld, ich bin an allem schuld.“ Sie konnte den Kloß in ihrer Kehle kaum unterdrücken.
Philipp legte den Arm um ihre Schulter und sagte: „Nein, wir alle wollten diese beschissene Mutproben.“
Daniel nickte nur mit dem Kopf.
Die untergehende Sonne schmückte den herbstlichen Abendhimmel mit rötlichen Schleiern. Sie nahm die Wärme des Tages mit, damit sich die Kälte der Nacht ausbreiten konnte.
Philipp unterbrach das entstandene Schweigen: „Sie lebt jetzt in einer anderen Welt, ihrer eigenen Welt.“ Er stand auf und ergriff den Rollstuhl.
Sie schoben Laura durch den Park zurück in die psychiatrische Klinik, wo der Arzt schon auf sie wartete.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.11.2013

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