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Eine unruhige Nacht

Der Schlaf meidet mich. Ich wälze mich im Bett hin und her. Ich decke mich auf, dann wieder zu, ziehe das Kissen über den Kopf und werfe es anschließend an die gegenüberliegende Wand. Es scheppert. Glas zersplittert am Boden. Das Klirren rieselt durch die Nervenbahnen, die auf das Äußerste gespannt sind. Ich kämpfe gegen ihr Zerreißen an, was zusätzliche Kraft kostet.
Während ich mich aufrichte, um besser sehen zu können, dröhnt mein wütendes Stöhnen durch den Raum. Die Augen bohren sich durch die Dunkelheit. Das Gemälde, der Stolz der Vermieterin, liegt auf den Dielen. Sein zerborstener Rahmen sticht durch die raue Wattlandschaft, die ihre Tochter aufs Papier gekleckst hat. Das Schutzglas des Bildes ist zersprungen.
Der Mond späht durch die geöffnete Balkontür, wobei er die Szenerie der Zerstörung erhellt. Boshafte Freude zeichnet ein Grinsen in mein Gesicht. Ich bin zufrieden und tauche erneut in die bauschigen Tiefen des Federbettes ab, leider ohne Erfolg.
Der nagende Neid auf die Nacht verscheucht die Müdigkeit. Sie hat ihre Ruhe gefunden – ich nicht.
Kein Laut dringt durch die Finsternis. Die lieben Mitmenschen liegen unter der Bettdecke, schlafen und träumen. Nur ich nicht! Warum immer ich? Selbst die Tiere sind ruhig. Kein Vogel trällert sein Lied. Sogar die nervenden Stare vom Nachbarbaum halten ihre Schnäbel. Ich bin das einzige Lebewesen auf der Insel, das um diese Zeit munter ist!
Wut erobert das Bewusstsein und gibt mir den Rest. Hellwach springe ich aus dem Bett. Ich zerre den Pulli über den Kopf. Mit heftigen Bewegungen versuche ich, in die fleckigen Jeans zu schlüpfen, doch verfehle ich mehrere Male die Öffnung zum linken Hosenbein. Endlich stehe ich mit beiden Beinen in der Hose. Ich packe den Bund und ziehe ihn über Po und Bauchwölbung. Dabei recke ich die Hüften wie ein Tänzer hin und her. Mit den Fingern quetsche ich die vordere Speckfalte zusammen und schließe den Reißverschluss, der trotz der erheblichen Spannung funktioniert.
Leichter Wind kommt auf. Die Bäume rauschen. Sie sind Balsam auf mein zerrüttetes Gemüt.
Ich atme auf, schleife den Stuhl zum Tisch und nehme Platz. Auf seiner rustikalen Holzplatte häuft sich die Hälfte des Kofferinhaltes, obwohl die Schrankwand im Zimmer ausreichend Raum bieten würde. Ich schiebe den Wasserkocher sowie die Unterhemden beiseite, damit ich das Kinn auf den Händen abstützen kann.
Das Glas auf der gegenüberliegenden Kommode lächelt mir zu.
Es fleht: 'Fülle mich! Fülle mich!'
Es ist unmöglich, der Aufforderung zu widerstehen.
Wo ist mein "Küstendunst"? Das weißliche Getränk leuchtet durch die Flasche, die auf dem Bettvorleger gelandet ist.
Bis zum Rand schütte ich den Schnaps in das Gefäß, anschließend in den Mund. Das Feuerwasser rinnt die Kehle hinunter. Wohlige Wärme gleitet durch die Speiseröhre und verteilt sich im Bauch. Das Gefühl fordert eine Wiederholung. Ich greife die Flasche, vergesse auch das Schnapsglas nicht, und schlurfe auf den Balkon, wo ich es mir auf der Türschwelle bequem mache. Mir entschlüpft ein herzhaftes Gähnen, worauf das Kaugelenk mit einem Knirschen antwortet, das Erinnerungen an die knackende Kupplung meines Cabrios erweckt.
Die Brandung der Nordsee, die aus der Ferne herüberdringt, sowie das Rascheln der Blätter, die im Wind aneinander reiben, verhindern, dass die Augen geöffnet bleiben. Leider währt der angenehme Zustand nur kurz.
Ich zupfe an meinem Bart, zunächst langsam, dann immer schneller. Ich habe eine Idee, es ist eine absurde Idee, eine Idee, die mich nicht mehr verlässt. Ich werde die Eintönigkeit der Dunkelheit durchbrechen. Es gibt Besseres, als nachts zu schlafen. Ich nehme den Tidenkalender zur Hand und lasse die grauen Zellen arbeiten. Es ist ein Uhr. Es müsste klappen, da die Ebbe in wenigen Minuten beginnt. Ich beschließe, mein tolles Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Der grobmaschige Rollkragenpullover sowie die Taschenlampe, die ich gestern im Dorfladen gekauft habe, verschwinden im Rucksack. Ich werfe mir die Wetterjacke über und verlasse das Feriendomizil.
Vom Hafen weht ein frischer Herbstwind. Ich staune, wie viele Klettverschlüsse die Jacke hat. Während ich sie schließe, tragen mich die Füße zum Watt. Ein provokantes Lächeln huscht über mein Gesicht. Die Wattführer wären entsetzt und würden mit allen Mitteln die geniale Idee verhindern. Doch sie schlafen. Folglich ist es ihre Schuld, wenn ich eine Wattwanderung bei Nacht durchführe. Mit entschlossener Miene schreite ich voran. Was soll mir schon passieren!
Ich stehe auf der Salzwiese, die im Mondschein leuchtet. Vor mir breitet sich das Wattenmeer aus. Das zurückfließende Wasser legt den Weg frei. Ich ziehe die Schuhe aus. Guten Mutes verlasse ich das Ufer. Die nackten Füße spüren den nassen Untergrund, der Schlick quietscht durch die Zehen. Er ist glatt. Im Zeitlupentempo setze ich einen Fuß vor den anderen, wobei ich versuche, mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht zu halten. Wie ein ungeübter Eiskunstläufer schlittere ich auf dem glitschigen Boden dahin.
Dicke Wolken ziehen auf und verdecken den Mond. Die Dunkelheit hängt als schwarzer Schleier über dem Watt, sodass ich nicht erkenne, wohin ich trete. Starkwind pludert die Jacke auf und rüttelt sie durch.
Unerwartet gibt unter mir der Grund nach und verschlingt mein rechtes Bein. Ich muss mich schon sehr anstrengen, um es aus der Tiefe herauszuziehen.
"Mist!", rufe ich.
Das habe ich mir anders vorgestellt.
Gleich darauf überrascht mich der unsichtbare Weg unter den Füßen mit einer scharfkantigen Muschelbank.
"Aua!", hallt meine Stimme durch das Watt.
Ich springe zurück, die Fußsohlen brennen.
Es ist höchste Zeit, die Taschenlampe aus dem Rucksack zu holen. Ich knipse sie an, doch es ist zwecklos, das Lampenlicht kann die Finsternis nicht durchdringen.
Wo ist denn die Küste? Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Aus allen Richtungen starrt mich nur Dunkelheit an. Der Wind flaut ab. Kein Geräusch, keine Lichter in der Ferne, keine Sterne am Himmel geben mir einen Anhaltspunkt, wo sich die Insel befinden könnte. Mein Herz wummert gegen die Brust. Ich irre durch eine endlose Schlickwüste. Kleine Priele kreuzen den Weg. Hoffentlich werden sie nicht tiefer. Panik steigt auf und quetscht die Atmung.
"Scheiße, oh Mann, Scheiße!", schreie ich in die Finsternis, die mir die Orientierung nimmt.
Ein leichtes Brausen jagt mir einen Schreck ein. Ich lenke den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch naht. Ein flatterndes Etwas nähert sich. Ich weiche zurück. Das Wesen hat keine Angst vor mir und der Helligkeit der Lampe. Im Gegenteil, es flattert frech vor der Nase hin und her, sodass ich winzige Augen erkennen kann. Sie gehören zu einem Vogel, der mich anstiert. Die Situation ist unheimlich. So unerwartet er auftaucht, ist er wieder verschwunden. Kaum habe ich das kapiert, streift ein sanfter Flügelschlag meine Stirn. Er fliegt erneut vor mir herum und starrt mich mit seinen hypnotisierenden Blick an.
Mir wird klar, dass das Wesen, das mir so einen Schreck eingejagt hat, ein Knutt, ein kleiner Strandläufer, ist.
'Verflucht, woher weiß ich das?', überlege ich.
Braune Vogelaugen tauchen in aufgerissenen Menschenaugen ein. Sie lähmen auf merkwürdige Art. Ich kann den Blick nicht abwenden.
Eine Leichtigkeit durchdringt meinen Körper, wie ich sie bisher nie erlebt habe. Ich habe das Gefühl zu zerfließen, körperlos zu sein. Ich bin glücklich.

Ankunft im Wattenmeer

Die ersten Sonnenstrahlen blinzeln am Horizont über das Meer. Der Tag bricht durch die Dunkelheit. Es ist unglaublich, ich schwebe in einer dunklen Vogelwolke. Mal wird diese größer, mal wird sie kleiner, verdichtet sich oder verliert an Höhe. Unter mir schimmert das Wattenmeer in der Sonne. Ich spüre eine grenzenlose Freiheit. Tausende Knutts umgeben mich. Ich empfinde wie sie, ja, ich verstehe sie.
Während des Fluges sind sie gesellig und bilden dichteste Schwärme, in die sich kein Greifvogel getraut. Die unzähligen Vögel formen einen riesigen Organismus, der jetzt zum Landeanflug ansetzt. Mit koordinierten synchronen Bewegungen fallen sie flatternd am Rande des feucht glänzenden Watts ein. Und ich bin mittendrin.
"Geht es dir gut?", die nächtliche Bekanntschaft reckt seinen Kopf in meine Richtung und wedelt müde mit den Flügeln.
"Nenne mich einfach Knut-Knut. Wir kommen aus Sibirien, sind ohne Unterbrechung mehrere Tage geflogen."
"Ich bin Alfred", teile ich ihm mit, obwohl kein Laut über die geschlossenen Lippen dringt.
Ich begreife seine Gedanken, und er offensichtlich meine. In seiner Nähe fühle ich mich sicher, hier oben kennt er sich aus.
Ich mustere den neu gewonnenen Freund. Wie ein Spitzensportler, der nonstop von Sibirien bis zum deutschen Wattenmeer fliegt, sieht er nicht aus. Seine amselgroße Gestalt wirkt gedrungen, das runde Köpfchen sitzt auf einem kurzen Hals, der in rundlichen Schultern endet. Die Beine und der gerade Schnabel sind relativ kurz. Man traut ihm diese Leistung beim besten Willen nicht zu.
"Schau mich an, wie dünn ich geworden bin!", teilt er auf dem geheimnisvollen Kommunikationsweg mit.
Tatsächlich macht er einen mitgenommen Eindruck. Die zerzausten Flügel ragen aus dem schmächtigen Körper, so als würden sie jeden Moment abfallen.
"Ich muss mich ausruhen und viel fressen, denn den Winter werden wir im Süden verbringen. Jetzt reicht die Kraft für solch eine Reise nicht mehr aus."
Ich spüre die Erschöpfung, die sich in den Vögeln ausgebreitet hat.
Die Knutts stehen dicht gedrängt und erholen sich.
Mein kleiner Kumpel wird unruhig und schwingt mit seinen Flügeln. Der Hunger lässt ihm keine Ruhe. Endlich verrichtet die Ebbe ihr Werk: Die Wattflächen fallen trocken. Die Vögel verteilen sich auf dem freigelegten Wattboden, das Fressfest beginnt. Die Schnäbel versinken im Sand, um unermüdlich nach Nahrung zu suchen.
"Hmm, lecker."
Er verschlingt genüsslich eine Schnecke. Gleich darauf verschwindet eine vollständige Muschel in seinem Schlund.
"Hast du die eben im ganzen Stück geschluckt? He, wie machst du das?"
Ich staune.
"Aber Alfred, hast du keine Magenmuskeln?"  
Sein Blick drückt Verachtung aus. Ich komme mir wie ein Weichei vor. Als Nächstes muss ein Kleinkrebs dran glauben.
Knut-Knut hebt sein Köpfchen. Die dunklen Augen streifen mich von unten nach oben: "Naja, du bist ein schwacher Zweibeiner, und dazu noch ein Mensch. Trotzdem seid ihr gefährlich. Ihr nehmt mir und den Kameraden den Raum zum Leben …"
'Wieso kann der Vogel mich sehen?' Ich lenke die Aufmerksamkeit auf die Körperstelle, wo normalerweise mein zu dick geratener Bauch ruht. Ich atme auf. Er bleibt verschwunden, so wie der Rest der Gestalt, was mir außerordentlich gut gefällt. Eine Antwort auf die Frage finde ich leider nicht.
"Hörst du mir eigentlich zu?"
"Aber natürlich", erwidere ich.
Knut-Knut fährt fort: "Die Nonstop-Flüge machen uns hungrig. Im Wattenmeer legen wir eine Pause ein, um auszuruhen und uns für den Weiterflug zu stärken. Doch reichen die angefutterten Fettreserven nicht immer aus, und einige von uns schaffen die weiten Reisen nicht. Das hat es früher kaum gegeben."
Was soll ich ihm sagen? Ich habe nie einen Gedanken an die Welt im Watt verschwendet, das war mir nicht irdisch genug. Hauptsache, ich habe meinen Urlaub, am besten bei Sonnenschein, hin und wieder ein Weib und eine alkoholreiche Entspannung in der "Friesenbude".
Neulich ging es in der beliebten Inselkneipe hoch her. An unserem Tisch saß ein junger Kerl aus München. So grün seine Kleidung war, so grün war auch seine Gesinnung. Er kritisierte den Deichbau, der auf der Insel vorangetrieben wird. Durch die Eindeichung der Wattbereiche und Salzwiesen würden die Wasserbestände bei Sturmfluten höher auflaufen und die Gebiete zerstören. Hinzu komme die Klimaerwärmung, die den Wasserspiegel ständig ansteigen lasse. An den Deichen laufe das Wasser auf, und als Folge würde das Watt absaufen. Seine Flächen seien wichtig als Aufwuchsgebiete für Fische und Muscheln. Außerdem dienten sie den Vögeln als Hochwasserrastplätze. Daraufhin entbrannte eine lautstarke Auseinandersetzung. Worte, wie Treibhauseffekt, häufigere und schlimmere Sturmfluten, Küstenschutz, usw. prallten auf den Mann aus München ein. Er hatte die schlechteren Karten, war er doch von Einheimischen umringt.
Skipper Lasse brachte es auf den Punkt: "Sollen wir hier alle ersaufen?"
Während sein Gesicht rot anlief, bebte sogleich unser Tisch, da seine Faust mit voller Wucht auf die Platte donnerte.
Ich fand den Streit, der meinen Urlaubsfrieden störte, blöd und habe die Kneipe verlassen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich den Grünen aus Bayern verteidigt hätte. Vogelfreund Knut-Knut soll doch nicht verhungern.
Die Wasserlachen im Schlick vermehren sich, werden größer und kündigen die Flut an. Das steigende Wasser drängt die Knutts auf die höher gelegenen Gebiete zurück. Sie leben in einem eigenartigen Rhythmus, der sich in seinen Ruhe- und Wachzeiten nach den Gezeiten richtet. Bei Hochwasser ist Ausruhen und bei Ebbe ist Fressen angesagt, auch nachts.
Ich mache mir allmählich Sorgen um den Gefährten. Sein Federkleid sieht aus, als hätte der Meereswind sein Unwesen getrieben, Federn herausgezupft und Lücken zurückgelassen. Die Flügel hängen herab.
Neuerdings meidet er das Gespräch mit mir. Komme ich ihm zu nah, fliegt er weg. Seine Launen rütteln an meinen Nerven. Sie erinnern mich an die Unausgeglichenheit einer Verflossenen in ihrer prämenstruellen Phase. In derartigen Zeiten durfte ich nichts Falsches sagen. Solch eine Stimmung behagt mir nicht.
Ich halte sein Benehmen nicht aus und fordere ihn auf: "Kannst du nicht ein bisschen freundlicher sein?"
Die telepathische Kommunikation gefällt mir gut.
Der Vogel verdreht seine Augen und antwortet: "Lass mich, ich muss das Gefieder erneuern, ich brauche unbedingt neue Flugfedern. Außerdem ist mir kalt."
Er dreht sich um und watet davon, um in einiger Entfernung ein Krebstier zu verspeisen.
Nicht nur mein Freund mausert sich, nein, alle Knutts bekommen frische Federn.
Offenbar übertragen sich seine Empfindungen auf mich. Auf der Haut kribbelt es und ich friere.
Mein kleiner Kumpel tut mir leid. Sein Energiehaushalt liegt vollkommen am Boden. Die Kälte hat freien Zugriff auf seine federlose Hülle. Da hilft nur eins: Futtern, futtern und nochmals futtern.
Knut-Knut hüpft zu mir, um mir noch etwas zu sagen.
"Wenn ich genügend Fettpolster und Kraft habe, kommst du mit in meine warme Winterresidenz, die sich in Afrika befindet. Dann lassen wir es uns gut gehen."
Und schon verschwindet er erneut.
Sofort sehe ich mich in einer Hängematte liegen, umringt von reizvollen, dunkelhäutigen Mädchen, die mit der Sonne um die Wette lachen und mir ein Gläschen "Küstendunst" in die Hand drücken. Hoffentlich kommt diese Zeit bald ...
Tausende Vogelschnäbel durchkämmen den Wattboden nach Leckereien. Ich staune, wie schnell Krebse, Muscheln und Würmer in den Schlünden verschwinden.
Allmählich wird mein Freund umgänglicher. Sein Kleiderwechsel ist beendet.
 "Das steht dir. Du siehst richtig toll aus", bemerke ich anerkennend.
Mit gestreckten Beinen stolziert der kleine Watvogel hin und her, was mich zum Lachen bringt, und präsentiert sein neues Kleid. Der Rücken hat eine graue Farbe angenommen, während die Unterseite in einem nagelneuen Weiß leuchtet. Chic sieht er aus.
Die abgeworfenen Federn bilden im Uferbereich einen weichen Teppich. Ein Windstoß wirbelt sie auf, um sie an anderer Stelle wieder fallen zu lassen.

Winterquartier in Westafrika

Knut-Knut hüpft auf der Schlickfläche des Watts hin und her und ruft: "Jetzt geht es bald los, jetzt geht es bald los, und du kommst mit."
Die Kraft der Natur drängt ihn zum Weiterflug, daher findet die Fressorgie allmählich ein Ende.    
Die Unruhe der Vögel überträgt sich auf mich. Einzelne Gruppen fliegen auf, drehen einen großen Bogen über das Wattenmeer, das in den Wasserlachen Fünkchen sprüht, und landen wieder. Das Schauspiel wiederholt sich. Immer mehr Knutts erheben sich, um sich dem Zug anzuschließen. Ich bin umringt von schwirrenden Flügeln. Die Reise nach Afrika beginnt.
Die Sonne erstrahlt am kaltblauen Himmel und lässt die unzähligen Vogelkörper als dunkle Schattenwolke auf dem schlickigen Boden erscheinen.
"He, Alfred!"
Im Sturzflug schwebt der Freund herbei, flattert vor mir auf und ab, entfernt sich und kommt wieder, fliegt erneut weg, ... usw. Er spielt mit mir.
Weit unter uns ziehen winzige Landschaften vorüber. Wälder und Felder haben das Wasser verdrängt. In der Ferne warten hohe Gebirgsketten auf uns, denen wir uns rasch nähern. Wir segeln über sie hinweg. Die Höhenzüge sehen wie sanfte Wellen aus, die sich durch das Gestein schlängeln. Es ist ein Meer, ein Meer aus Bergen und Tälern.
Ich erfahre einen innigen Einklang mit der Natur, der durch jede Faser meines Inneren dringt. Das Gefühl war mir bisher fremd.
Eine Druckwelle vertreibt die angenehme Stimmung mit lautem Getöse. Ein Knall erschüttert den Äther. Eine unsichtbare Kraft verteilt Stöße, die mich hin und her werfen und die ich mir nicht erklären kann. Die Situation ist unheimlich. Ich suche meinen kleinen Kumpel und bin froh, ihn zu entdecken. Schon eilt er mit kühnem Schwung herbei, um mir zu helfen.
"Komm, wir lassen uns höher gleiten. Dann geht es uns besser."
Er nutzt die günstige Thermik und lässt sich ohne Anstrengung näher zum Himmel tragen. Ich ahme es ihm nach. Unter uns lärmt ein riesiges Flugzeug, dessen Überschalldonner mich aus der Bahn geworfen hat.
Die Natur umgibt uns erneut mit den Geräuschen des Windes, des Regens und der Flügelschläge der vielen Vögel, in deren Schwarm ich mich befinde. Wir fliegen und fliegen, ohne eine Rast einzulegen.
"Wann kommen wir in Afrika an? Wie lange müssen wir noch unterwegs sein?", möchte ich wissen.
Ich finde die mentale Kommunikation praktisch. Man schont Lippen und Stimmbänder.
Knut-Knut sinkt zu mir herab.
"Eine Weile", antwortet er und schweigt.
Als er meinen ungläubigen Blick wahrnimmt, fährt er fort: "Ich verstehe zwar nicht, warum ihr Menschen alles messen und bewerten müsst, aber ihr würdet sagen, es geht noch zweimal die Sonne auf."
"Du musst doch auch mal pennen! Wie machst du das?"
Ich schwebe neben dem Vogel.
"Ja, weißt du, manchmal schläft ein Teil von mir, der andere hat alles unter Kontrolle."
"Was du kannst gleichzeitig schlafen und wach sein?"
Ich beneide meinen Kumpel um diese bewundernswerte Gabe. Überhaupt ist er ein riesiges Fragezeichen für mich. Wie kann es sein, dass ein so kleines Wesen ohne Zwischenstopp drei bis vier Tage fliegen kann? Ich kann die Neugierde nicht unterdrücken.
Schließlich nerve ich ihn erneut und frage: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein angefressener Speck für einen derartigen Extremflug ausreichend Energie spendet."
"Du hast recht", antwortet er, "manchmal reicht es wirklich nicht, obwohl wir während der Reise auch nicht benötigtes Gewebe, wie zum Beispiel vom eigenen Magen, verdauen."
"Hää? Ihr fresst euch selbst auf?"
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Mit den Worten: "Du spinnst", lässt er sich vom Wind in die Höhe tragen und verschwindet aus dem Blickfeld.
Wir nähern uns Afrika. Der Flügelschlag meines Freundes hat an Kraft verloren. Ich bin froh, dass der Vogelzug ein Ende findet und Knut-Knut wieder schlemmen kann. Weit unten sehe ich, wie die endlose Wüste allmählich in den Ozean übergeht. Wir setzen zur Landung an.
"Hoffentlich finden wir ein freies Plätzchen."
Ich folge seinem Blick. Am Boden drängen sich Massen von Vögeln auf den Sanddünen. Wir quetschen uns dazwischen.
Es sind nicht nur Knutts, die auf die Ebbe und damit auf den reich gedeckten Wattboden warten. Auch andere Vogelarten überwintern in Afrika.
Ich bin erleichtert. Endlich findet mein ausgehungerter Freund jede Menge Muscheln, ausreichend Nahrung und alles, was ihm gut tut. Die Vögel tauchen ihre Schnäbel in das freigelegte Watt, um nach Leckerbissen zu suchen. Die Konkurrenz ist groß und die Nahrungsgebiete wollen erobert sein. Das ist beschwerlich, da uns die glutrote Sonnenscheibe ihre trockene Hitze entgegenschleudert. Doch mein Kumpel freut sich.
"Alfred, hier ist es sooo schön. Es gibt viel zu futtern, und ich muss nicht so weit fliegen. Hier gibt es keine Schiffe, Flugzeuge und Menschen, die mich erschrecken und einengen."
Ich verstehe. Er braucht genügend Raum zum Ruhen, bis die Ebbe kommt. Was nützt es ihm, wenn er dafür größere Strecken zurücklegen und Energie vergeuden muss, weil Hafenanlagen, Deiche und sonstige Bebauungen seine Rastgebiete beeinträchtigen? Afrika bietet den Langstreckenziehern eine absolut ruhige, unberührte Natur. Ebbe und Flut bestimmen auch hier seinen gewohnten Rhythmus.
Ich fühle mich, trotz der hohen Temperaturen, wie in einem Wellnesscenter. Mir ist unklar, wie mein kleiner Freund diese Hitze verträgt.
Ich lebe zeitlos und genieße das faule Nichtstun. Ich habe keine Ahnung, ob wir bereits Wochen oder gar Monate in Afrika sind. Es könnte so bleiben. Dummerweise denken die Knutts anders darüber. Das geheimnisvolle Band, das mich mit ihnen verbindet, übermittelt mir ihre Nervosität. Das Pochen in meiner Brust wird heftiger.
Knut-Knut flitzt hin und her, flattert mit den Flügeln und zwitschert mir zu: "Bald ziehen wir weiter. Wir fliegen wieder in das Gebiet, wo wir uns kennengelernt haben."
"Zurück ins deutsche Wattenmeer? He, was soll das! Ich bleibe hier!"
Leider bin ich unfähig, ihrem Drang zu widerstehen. Zunächst flattern nur einzelne Vögel in den Himmel, doch es werden mehr. Das kenne ich bereits.
Knut-Knut wirft mir einen eindringlichen Blick zu. Seine innere Uhr sagt, dass es Zeit ist, das tropische Wattengebiet zu verlassen. Ich widersetze mich mit allen Sinnen. Es nützt nichts. Er nimmt mich auf magische Weise in sein Schlepptau.
Erneut schwebe ich durch die Höhen des Universums. Ich bin erleichtert, weil der Rückenwind meinen Vogelfreunden hilft, und sie in die gewünschte Richtung, nach Norden, bläst. Das ist weniger anstrengend.

Zwischenrast im Wattenmeer

Der Flug nimmt kein Ende.
Ich bewundere die Ausdauer der Knutts, die ihre Flügel im steten Auf und Ab bewegen. Die Landschaft unter uns erweckt meine Aufmerksamkeit. Braune Felder, weiße und grüne Strände, mit Reet bedeckte Häuser sowie die Bäume, die im Grün des Frühlings wieder aufleben, huschen vorbei. Wir überfliegen den Norden Deutschlands, das Meer und die Friesischen Inseln, um gleich darauf im Wattenmeer, das den Vögeln als Tankstelle dient, zu landen.
"Hier werde ich noch mal richtig reinhauen!", spricht Knut-Knut mehr zu sich selbst. Er durchwühlt mit seinem Schnabel den Wattboden und bringt eine Plattmuschel zum Vorschein, die er mit einem Happ verschlingt.
"Hmm, das schmeckt gut. Hier ist soviel Fleisch dran."
Er ist hungrig, was nicht verwunderlich ist, weil mein kleiner Marathonflieger seine Energiereserven unbedingt aufstocken muss.
Hoffentlich bietet das Watt in ferner Zukunft noch ausreichend Muscheln, Schnecken und sonstige Nahrung für die Vögel.
Ich erinnere mich an den Grünen aus der Inselkneipe:
Er belästigte damals ein weiteres Mal meinen Urlaubsfrieden. Der Ort des Geschehens war eine Bank in den Dünen, die ich gern aufsuchte, um das Mittagessen zu verdauen. Ohne zu fragen setzte er sich zu mir und schlug eine Zeitschrift auf. Mir schwante nichts Gutes.
"Hab ich's nicht gleich gesagt!", fuhr er mich an.
Ich schreckte auf, genoss ich doch das Rauschen der Wellen.
"Wa, was ist los?", stammelte ich.
"Die Zahl der Meeresmuscheln ist zurückgegangen."
"Ist mir egal", antwortete ich, "ich esse das schwabblige Zeug sowieso nicht."
Ich nahm an, er würde mich jetzt in Ruhe lassen. Stattdessen ging es erst richtig los.
Er stach mit dem Zeigefinger auf die entsprechende Textstelle.
"Hier steht es geschrieben."
Seine Stimme übertönte die Windböen, die sich verstärkten.
"Durch die maschinelle Muschelfischerei, das Ausbaggern von Fahrrinnen und durch andere Veränderungen des Meeresbodens ist die Zahl der Muscheln zurückgegangen."
Er wedelte mit der Seite vor meinen Augen herum und ging mir tüchtig auf den Sack. Daher stand ich auf und ging grußlos weg ...
Jetzt lebe ich zusammen mit den Knutts und habe großen Respekt vor ihrem anstrengenden Dasein. Ich betrachte Knut-Knut. Es wäre ein Albtraum, wenn das Watt seine Bewohner nicht mehr ernähren könnte.
Der Vogel patscht durch eine Wasserlache auf mich zu.
"Ich sage es dir gleich, es kann sein, dass ich schlechte Laune bekomme."
"Wieso?"
"Wir werden bald Hochzeit feiern, und dazu benötige ich ein neues Kleid", entgegnet er.
"Heiraten? Du spinnst wohl. Ich heirate nie!"
Mein Freund springt zurück und schaut mich verdutzt an.
Er öffnet seinen Schnabel: "Ich werde heiraten", wobei er das 'ich' in die Länge zieht, "und dazu benötige ich ein neues Kleid."
Tatsächlich weist sein Gefieder erhebliche Lücken auf. Auch die anderen Vögel mausern sich, es ist ein Energie verzehrender Prozess.
"Mein Hochzeitskleid wird, wie bei allen Männchen, rotbraun aussehen. Die Mädchen sind natürlich nicht so hübsch, die bleiben etwas blasser", erklärt er.
"Wann wirst du heiraten?"
"Natürlich, wenn ich wieder Fett auf meinen Knochen habe und mein Prachtkleid komplett ist. Du weißt aber auch gar nichts!", er rollt mit seinen großen Augen.
Wird Knut-Knut Chancen bei den Mädels haben? Wo wird er heiraten? Fragen über Fragen bedrängen mich.
Leider habe ich stets Pech mit den Weibern. Ich weiß nicht warum, nie bleiben sie bei mir. Ich habe es aufgegeben, eine Frau fürs Leben zu finden.
"Es dauert nicht mehr lange, und wir ziehen weiter in die sibirische Tundra", dringt seine Stimme wie durch Nebel zu mir, obwohl er direkt neben mir flattert.
Ich schrecke auf: "Was, Sibirien? Jetzt, im Frühjahr fliegt ihr in diese Kälte? Hier fängt bald der Sommer an. Ihr seid ja verrückt!"
"Wieso verrückt? Das machen wir immer so. Ich muss doch mein Brutrevier abstecken, und das geschieht im hohen Norden."
Knut-Knut wackelt mit seinem Kopf. Er schaut mich mit einem "Wie-kannst-du-nur-so-blöde-sein-Blick" an, bevor er auf der Suche nach Schalentieren und anderen Spezialitäten davon watet.
Das Schauspiel beginnt von Neuem. Die Vögel schnattern häufiger als sonst. Ihre Erregung steigt. Immer mehr beleben die Lüfte, bis ein riesiger Vogelschwarm den Himmel schwärzt. Unzählige Vogelleiber formieren sich zum Langstreckenflug, schieben sich vor die Sonne und werfen einen großen Schatten auf die nass schimmernde Landschaft.

Hochzeit und Kinderstube in Sibirien

Die Vögel ziehen nach Norden. Sie haben ihre Landkarte im Kopf, was praktisch ist. Ich könnte solch ein Navi in den Gehirnwindungen gebrauchen, doch Mutter Natur hat uns Menschen leider nicht so perfekt ausgestattet. Dafür haben wir GPS.
Der Flug raubt aufs Neue alle Kräfte. Die Schwäche in den Vögeln ist groß, und es ist Zeit, dass wir landen. Nach langer Reise haben wir unser Ziel erreicht. Ich traue meinen Augen nicht, denn hier tobt der Winter. Obwohl Knut-Knut unter diesen Bedingungen wenig zum Fressen finden wird, strahlt er Zuversicht aus. Er freut sich auf die Hochzeit.
Es ist empfindlich kalt, doch alsbald werden die Schnee- und Eisflecken auf dem kargen Boden verschwinden. Das Schmelzwasser sammelt sich bereits in Tümpeln und Pfützen. Die frostige Zeit ist vorbei.
Die Knutts müssen sich in der Tundra auf ein Landleben umstellen. Ihre Schnäbel zermalmen Insekten, Mückenlarven und Beeren. Muscheln können sie in dieser Gegend nicht erwarten.
Zum wiederholten Male zappelt eine fette Spinne in Knut-Knuts Schnabel. Mein Gesicht verzieht sich bei diesem Anblick. Ich bewundere die Zähigkeit der kleinen Geschöpfe, da sie sich stets von Neuem auf extrem unterschiedliche Umweltbedingungen einstellen können.
Leider zeigt mein Kumpel erneut Allüren. Ich verstehe ihn einfach nicht. Er taucht seltener auf, und wenn er bei mir ist, wird er flatterig und kann es kaum erwarten, wieder zu verschwinden. Und jetzt ist er seit Ewigkeiten verschwunden. Ich mache mir Sorgen. Überhaupt, wo sind die anderen Knutts? Die sonst so geselligen Wesen isolieren sich. An verschiedenen Orten sehe ich eifrige Vögel, die Flechten in ihren Schnäbeln transportieren. Irgendetwas ist im Gange. Die Spannung, die in der Luft liegt, macht mich kribbelig. Ein lang verloren geglaubtes Gefühl hat von mir Besitz ergriffen. Es ist, als wäre ich zum ersten Mal verliebt. Wie damals rumoren Schmetterlinge in meinem Bauch.
Als Knut-Knut endlich erscheint, verstehe ich, was vorgeht.
"Darf ich dir meine diesjährige Errungenschaft vorstellen?", fragt er mit vor Stolz geschwollener Brust.
Ein zarter Vogel watet vor mir auf und ab, es ist sein Mädel im grauen Federkleid. "Komm mit! Wir sind gerade dabei, unser Nest zu bauen", sagt sie.
Und schon gleiten wir durch die Lüfte.
Sein Weibchen sucht Moos, trockenes Gras und ähnliche Materialien, die es für den Nestbau benötigt, während Knut-Knut im Sinkflug seine Kreise über dem Brutrevier zieht und ein lautes Flöten von sich gibt. Wenn er landet, schwenkt er seine Flügel mit den hellen Unterseiten weit hinter den Rücken hoch. Jeder andere Vogel weiß jetzt, dass dieses Gebiet vergeben ist. Hier entsteht sein Nest.
Endlich präsentiert er das vollendete Bauwerk. Die Sonne scheint in eine kleine Mulde im Boden, die mit Pflanzenteilen ausgelegt ist.
"Ihr habt ja schon Eier gelegt."
"Ich nicht, aber meine Sommerliebe", verbessert er mich. Drei ovale blassgrüne Eier mit braunen Tupfen und Strichen leuchten aus dem Nest hervor. Knut-Knut breitet sich über sie aus, um ihnen seine Wärme zu geben. Sein Weibchen hingegen sucht das Weite.
"Bist du etwa allein für das Brutgeschäft verantwortlich?"
"Nein, manchmal setzt sie sich auch drauf, doch ich bin fleißiger."
Meine verständnislosen Augen verwundern ihn. Sein rechter Flügel zappelt lebhaft auf dem Nest hin und her - ein Zeichen seiner Ungeduld. Offensichtlich ist er der Meinung, dass Erklärungen für mich sinnlos sind.
Das nächste Familiennest ist einige Kilometer entfernt. Die Stille, die über der Landschaft liegt, wirkt wie Balsam. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, nur einmal donnern russische Armeeflugzeuge über uns hinweg. Es ist Juni, die Zeit der ewigen Sonne, die in dieser Gegend nachts nicht verschwindet. Ich friere nicht mehr, und die Vögel finden ausreichend Nahrung.
Nach etwa drei Wochen deutet ein leichtes Knistern an, dass die Eierschalen aufbrechen. Hervor lugt ein Schnabel, an dem ein kleines verklebtes neues Leben hängt. Mein Freund hopst aufgeregt herum. Weitere Eier knacken kaum hörbar. Doch dies scheint seine Sommerliebe nicht zu interessieren. Sie erhebt sich Richtung Himmel, um sich aus dem Staub zu machen. Mit gemischten Gefühlen nehme ich wahr, wie sie in der Ferne zu einem Punkt zusammenschrumpft, bis ich sie nicht mehr erkennen kann. Ich habe sie nie wieder gesehen. Wenn das meine Frau wäre, na der würde ich was erzählen!
Die Kleinen futtern vom ersten Tag an nahezu selbständig. Anfangs sieht es ein wenig ungeübt aus. Kumpel Knut-Knut weicht nicht von ihrer Seite. Er zeigt ihnen, wie und wo sie die besten Leckereien finden, er beschützt sie gegen Angreifer und rüstet sie mit dem notwendigen Wissen fürs Überleben aus. Er ist ein fürsorglicher Vater, obwohl ich der Meinung bin, dass das eine Angelegenheit der Weiber sein sollte. Ich verstehe die Welt nicht, in die ich geraten bin.
Die Vogelkinder werden mit den erwachsenen Knutts die lange Strecke zum Watt der Friesischen Inseln antreten, von wo sie, nach einer Zwischenrast, zum Winterquartier weiterfliegen. Ich freue mich, sie auf ihrem Langstreckenflug Richtung Süden zu begleiten. Das süße Leben in Afrika erweckt Sehnsüchte. Meine Fantasie zeichnet farbenfrohe Bilder.

Gefahr

Knut-Knut rennt flügelschlagend im Moos auf und ab, wobei sich sein Köpfchen in meine Richtung dreht. Er lässt mich nicht aus den Augen. Plötzlich flitzt er zu mir, um gleich darauf abzubremsen und vor mir stehen zu bleiben. Er steht einfach nur da und starrt mich an. Er reißt seinen Schnabel auf, schließt ihn und öffnet ihn erneut - das setzt sich eine Weile so fort. Er möchte mir etwas mitteilen, aber bei mir kommt nichts an. Die Gedankenübertragung funktioniert nicht mehr, die mentale Leitung wurde gekappt.
Die Situation ist mir nicht geheuer. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das Blut hämmert gegen die Adern, während ich ihn hilfesuchend anschaue. Mein kleiner Freund wackelt mit dem Kopf hin und her, bevor er mit den Flügeln schlägt und in die Höhe fliegt. Er umkreist mich mit größer werdenden Spiralen, bis eine Böe ihn davonträgt. Seine Gestalt verschwimmt, ich bleibe zurück. Die Umgebung ist verzerrt.
Es ist kalt, so eiskalt. Die abgenutzten Knochen schmerzen. Die niedrige Temperatur versucht, die Muskeln zu lähmen. Das Schlottern meiner Glieder verhindert es. Wasser, überall ist Wasser – es strömt durch die Nasenlöcher. Die Augen brennen. Ich schnappe nach Luft, während ich mit den Armen in den Naturgewalten herumschlage und versuche, den Kopf über der Wasseroberfläche zu halten.
Die Augenlider gehorchen mir nicht. Endlich gelingt es, sie zu öffnen. In deutlicher Härte nehme ich die Umgebung wahr. Graues Nass umschlingt mich. Wellen schießen in die Höhe und stoßen meinen willenlosen Körper hin und her. Ich rudere, von Reflexen getrieben, endgültig an die Oberfläche. Mit glucksenden Geräuschen weitet sich der Brustkorb, denn die Lungen japsen nach Sauerstoff. Der Geruch von Salz und Seetang kriecht in die Nase. Mit der Atmung kommt die Übelkeit, die das Innerste nach außen stülpt. Der Magen schleudert seinen Inhalt auf die Wasseroberfläche, die Wirklichkeit hat mich wieder.
Ich versuche, die Kontrolle zu gewinnen, die Bewegungen zu koordinieren. Es strengt an.
"Eins und zwei und eins und zwei", kommandiere ich flüsternd die Gliedmaßen.
Ach, wenn ich doch besser schwimmen könnte! Einen Schwimmkurs habe ich nie besucht. Ich verfluche meinen Bierbauch, er ist einfach nur hinderlich.
Ich recke den Kopf über die Wellen und atme tief.
"Gott sei Dank", rufe ich in das Morgengrauen, dass die nahe Küstenlinie erkennen lässt.
Land, es ist endlich Land in Sicht. Die Muskeln schmerzen.
Die Sterne verblassen am Nachthimmel und kündigen an, dass der Tag die Dunkelheit vertreiben wird.
Meine Füße ertasten Grund, gleich hat dieses Martyrium ein Ende. Mit letzten Kräften krauche ich durch den Schlick zum Ufer, wo ich wie ein nasser Sack in die Salzwiese falle. Die Erschöpfung presst mich in den Boden. Die Glieder sind schwer, sodass ich wie gelähmt liegen bleibe. Ich schließe die Augen. Das tut so gut.  
Blitze schrecken auf, die sich mit lautem Donnergedröhne und einigen Regentropfen entladen. Ich stemme mich gegen die Erde, um in die senkrechte Lage zu kommen. Es dauert Minuten, bis es mir gelingt. Die Knie gehorchen nicht, sie knicken immer wieder ein. Der aufgezogene Sturm heult um meine Ohren. Ich fange an zu laufen, erst schwankend, aber die Bewegungen werden schneller ...
Die Frau des Inselbäckers erscheint am Ende der Straße. Sie geht zur Arbeit. Trotz des kalten Unwetters bleibt sie stehen und legt ihre Handkante an die Stirn, um mich deutlicher zu sehen. Sie möchte etwas sagen, doch ihr Mund klappt unverrichteter Dinge wieder zu. Erschreckt sie mein Anblick so sehr? Rasch begreife ich jedoch, dass ihr Plappermaul in Kürze jede Menge zu tun haben wird. Wenn die ersten Kunden die Bäckerei betreten, weiß bald das gesamte Dorf, in welchem Zustand sie mich in den frühen Morgenstunden angetroffen hat.
Ich höre bereits die Weiber tratschen: "Der Alfred war voller Schlamm, sogar Seegras hing ihm aus den Ohren und seiner Kleidung. Er sah ganz grün aus. Der ist wahrscheinlich im Suff ins Watt gefallen."
Diese dummen Kühe werden sich die Mäuler zerfetzten.
Ich biege in die Dünengasse ein, wo sich die Ferienwohnung befindet, und stoße die Haustür auf. Das Treppengeländer gibt Sicherheit und hilft mir, nach oben zu gelangen. Eine Schlammspur verfolgt mich.
Ich greife an die Schulter, doch Rucksack und mit ihm der Ferienschlüssel sind verschwunden.

Rätsel über Rätsel

Das Tageslicht dringt durch die geschlossenen Augenlider. Ich zerre die Bettdecke über den Kopf, aber die Stare vor dem Fenster legen es mit ihrem Gezeter darauf an, mich mit schriller Lautstärke zu wecken. Ich würde ihnen am liebsten den Hals umdrehen und sie in die Pfanne hauen. Trotz der zornigen Wünsche lässt mir der Lärm keine Ruhe. Ich lasse den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Balkontür steht offen. Neben dem Blumenkasten lockt die Flasche „Küstendunst“ mit dem dazugehörigen Schnapsglas. Auf dem Fußboden entdecke ich Schlammspuren.
Mit wütendem Schwung stehe ich auf. Meine Füße landen in einer Wasserlache, die auf den unebenen Dielen die Form einer breiten Schlange bildet. Die widrige Nässe an den Sohlen entferne ich sofort mit der Bettdecke. Verwundert betrachte ich auf ihr und dem Laken den zerbröckelnden Dreck, von dem ich nicht weiß, woher er stammt.
Vom Tisch hängen die Beine der ausgefransten Jeans, aus denen Wasser tropft. Die restliche Kleidung liegt wahllos verstreut in kleinen Pfützen auf dem Zimmerboden herum.
Mit einem staunendem „Nanu“ hebe ich den Pullover auf und erblicke das Grün, das sich in den groben Strickmaschen verfangen hat. Es ist Gras, vermutlich eine Art Seegras. Das Kleidungsstück trieft vor Nässe und hängt schwer in der Hand. Beides verströmt einen fauligen Geruch, der mich an irgendetwas erinnert, das ich beim besten Willen nicht fassen kann.
Ich bestaune den gehärteten Schlick in meinen Armbeugen und zwischen den Fingern. Woher kommt das bloß?
Unter der Dusche stehe ich viele Minuten und überlege, was geschehen ist. Die Erinnerung streikt.
Der Hunger treibt mich in die Inselbäckerei. Vermutlich ist es schon Mittag, denn die Sonne steht hoch am Himmel.
Die Frau des Bäckers wuselt hinter der Auslage geschäftig hin und her. Sie grüßt mit einem „Moin, Alfre-he-d“. Ihr lachendes Glucksen verhindert, dass sie meinen Namen nicht richtig ausspricht.
Ich fühle mich belästigt und sage barsch: „Ist Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen? Warum feixen Sie so ...!“
Das Wörtchen „blöd“ kann ich rechtzeitig unterdrücken.
„Ich habe Sie heute früh auf der Straße getroffen. Haben Sie das vergessen? Sie sahen vielleicht aus!“
Sie holt eine Tüte unter dem Tresen hervor und fragt: »Wie immer?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lässt sie die drei Brötchen hineingleiten und quasselt weiter: „Ich weiß Bescheid. Sie haben im Watt übernachtet, stimmt‘s?“
Der Spott und die Neugierde in ihrer Stimme sind nicht zu überhören. Ich hätte ihr am liebsten eine reingedrückt, doch Frauen soll man nicht schlagen.
Ich übe mich heroisch in Schweigen, werfe das Geld auf den Teller und verlasse den Laden.
Ich gehe durch die Hafenstraße.
›Was meint sie nur?‹, zermartere ich mir den Kopf.
Seltsame Bilder schieben sich wie Blitze in mein Gedächtnis. Mir wird bewusst, dass ich zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit durch diese Straße ging. Der Morgen brach erst an, und es war windig. Die Bäckersfrau hat recht, ich bin ihr begegnet. Sie ist sogar stehen geblieben. Ich erinnere mich jetzt genau an diese Szene. Ich war nass und habe furchtbar gefroren. Doch was hat sich vorher zugetragen?
Ich schließe die Tür zur Ferienwohnung auf. Die Tüte mit den Brötchen landet auf den Tisch neben der Jeans. Mithilfe meines Unterarms platscht sie auf die Dielen. Ich benötige Platz für das Frühstück.
So tief ich auch im Gedächtnis krame, es fruchtet nichts, die vollständige Erinnerung stellt sich nicht ein. Hatte ich wieder mal über den Durst getrunken? Ich stütze den Kopf auf die Hände und denke nach.
Ein Klopfen schreckt mich aus den Gedanken.
Kaum habe ich die Tür geöffnet, poltert meine Vermieterin los: „Den Zweitschlüssel können Sie vorerst behalten. Den anderen müssen Sie bezahlen.“
„Bezahlen? Welchen Zweitschlüssel?“, entfährt es mir.
„Na also wissen Sie, ich habe Ihnen doch die Tür öffnen müssen, weil sie Ihren Schlüssel verloren haben. Oder ist er wieder aufgetaucht?“ Mit einer heftigen Kopfbewegung wirft sie ihre halblangen Haare aus dem Gesicht und fährt fort: „Immerhin war wegen Ihnen meine kostbare Nachtruhe vier Uhr beendet!“
Ihre Worte klingen in meinen Ohren wie eine kreischende Metallsäge.
„Es geht nicht an, dass Sie andere Leute aus dem Bett werfen, weil Sie zu viel gesoffen haben und nicht in ihre Unterkunft können. Außerdem war die Treppe voller Modder“, kreischt sie weiter. „Ich“, sie tippt sich mit dem Zeigefinger auf die Brust, „ich habe sie sauber gemacht!“
Ihr Absatz wirbelt wie ein Kreisel, als sie sich um 180 Grad umdreht und wieder verschwindet. Die Stufen stöhnen unter der Last dieser Frau. Im Erdgeschoss fällt mit hölzernem Quietschen die Haustür zu ...
Einige Tage sind seit dem vergangen, ohne dass ich mich an die Vorgänge jener Nacht erinnern kann. Wenn ich am Strand döse oder im Bett am Einschlafen bin, drängen Bilder aus den Tiefen meines Gehirns an die Oberfläche. Ich möchte sie festhalten, damit ich sie vervollständigen kann, aber kaum tauchen sie auf, sind sie verschwunden. Oft sehe ich aus der Vogelperspektive Miniaturlandschaften vorbeihuschen. Die Vision, dass ich in tosenden Wassermassen um das eigene Leben kämpfe, kann ich nicht abschütteln.
Einiges deutet darauf hin, dass ich im Watt gewesen bin. Die Frau des Bäckers sowie die dicke Vermieterin behaupten diesbezüglich denkwürdige Dinge. Außerdem waren die Klamotten derart durchweicht, dass sie im Zimmer Pfützen formten. Rätsel über Rätsel. Offensichtlich habe ich zu tief ins Glas geschaut und bin des Nachts spazieren gegangen.
Es wäre das erste Mal, dass mein besoffener Zustand jegliche Erinnerung ausgelöscht hat.

Die letzte Urlaubswoche

In vier Tagen ist der Urlaub auf dieser reizvollen Insel beendet. Ich weiß nicht, ob ich traurig oder gar froh sein soll, denn ich kann mich nach wie vor nicht an die Vorfälle jener Nacht erinnern. Die Erinnerungsfetzen, die auftauchen und Grübelattacken zur Folge haben, kann ich in keinen Zusammenhang bringen. Vielleicht verhilft die Wattwanderung, für die ich mich angemeldet habe, meinem Gedächtnis auf die Sprünge.
Auf dem Merkblatt, das mir die hübsche Angestellte des Infozentrums in die Hand gedrückt hat, steht zu lesen, dass unbeschuhte Teilnehmer nicht mitgenommen werden. Die Verletzungsgefahr, zum Beispiel durch Muschelschalen, sei zu groß. Da eine klaffende Schnittwunde an der Fußsohle schmerzt, ziehe ich alte Turnschuhe an, obwohl ich lieber barfuß laufe. Woher diese Wunde stammt, ist ebenfalls ein Mysterium. Die Lücken in der Erinnerung bringen mich zur Verzweiflung.
Ich verlasse die Ferienwohnung und und schlendere zum Hafen. Ich geselle mich zu einer Gruppe, die vor dem Schild mit der Aufschrift "Wattführungen" wartet.
Hoffentlich verstärkt sich der Wind, damit die Wolken weggeblasen werden, die die Sonne verdecken. Der Wetterbericht hat schon wieder gelogen, denn nirgendwo kann ich den prophezeiten blauen Himmel entdecken.
Eine Weib mit ungewöhnlich breiten Schultern und einem blonden Schopf nähert sich mit Schritten, die ich für eine Frau zu groß finde. Sie bleibt vor uns stehen und rammt ihre Forke in den Sand.
"Moin, ich bin Hilke."
Während sie sich vorstellt, öffnet sie den Reißverschluss ihrer roten Wetterjacke.
Ich kratze mir die Stirn.
'Na, wenn das mal gut geht', denke ich und mustere Hilke mit kritischem Blick. 'Weiber als Wattführer!' Mein Weltbild ist gestört.
Die Sonne verströmt Wärme durch die blauen Stellen am Himmel, die die Wolken nur schwerfällig freigeben. Vielleicht schafft sie es, und es wird noch ein schöner Tag.
Die Wattführerin trägt eine kurze Hose, die in leicht behaarten, stämmigen Beinen endet. Sie begutachtet unsere Füße, doch alle stecken in Schuhen. Die meisten sind ausgefranst, ausgetreten oder weisen gar Löcher auf. Jeder hat ein abgenutztes Paar auftreiben können. Erstaunt spitzt sie ihre Lippen und nickt mit sichtlicher Zufriedenheit. Es folgen die notwendigen Sicherheitshinweise. Ich kann ein lautes Gähnen nicht unterdrücken.
Hilke dreht sich um und brummt mich mit unerwartet tiefer Tonlage an: "Hmmm", wobei sie ihren Kopf missbilligend schüttelt.
Die Geste erweckt sofort meine Sympathie.
Endlich starten wir. Da die Füße stets von Neuem im Schlamm stecken bleiben, kommen wir nur langsam voran. Der Schlick spritzt auf Waden und hochgekrempelte Hosen und hinterlässt fantasievolle, graue Muster. Der Gestank von faulen Eiern steigt mir in die Nase. Ich verharre in der Bewegung.
'Das kenne ich doch, genau, so habe ich schon einmal empfunden', geht es mir durch den Kopf.
Der schweflige Geruch des Watts sowie das tiefe Einsinken in den Schlamm in Verbindung mit der Umgebung sind mir derart vertraut, dass ich an ein Déjà-vu denke.
Die Gruppe zieht weiter. Ich bemühe mich, neben der Wattführerin zu stapfen, um ja nicht zu verpassen, was sie sagt.
"Ihr wisst ja sicher alle, dass das Niederländisch-deutsche Wattenmeer seit einigen Jahren zum UNESCO-Weltnaturerbe gehört. Der Grund ist die unglaubliche Artenvielfalt. Außerdem wird es als das vogelreichste Gebiet Europas bezeichnet."
Ich staune, das ist mir als Binnenländler nicht bekannt.
"Hier schaut mal!"
Vorsichtig stochert sie mit der Forke im Boden herum und befördert einen großen Wurm zutage.
"Ein Wattwurm", gibt ein junger Mann mit selbstsicherem Ton sein Wissen preis.
Hilke nickt. Einige Urlauber verziehen das Gesicht. Auf ihrer Hand kringelt sich ein feuchter Wurm, der rötlicher als ein Regenwurm aussieht. Der Ekel in den Mienen der Wattwanderer weicht einem Entzücken, als sie uns informiert, dass er den Sand frisst, daraus Bakterien und Mikroalgen verwertet, und den so gesäuberten Rest als Kringel wieder ausscheidet. Jährlich passieren 1 000 Tonnen Sand pro Hektar die Därme der Würmer und werden gereinigt.
"Der Wattwurm ist die Kläranlage der Nordsee", beendet Hilke ihren Diskurs und hält  ihn einem Jungen unter die Nase.
"Du kannst ihn streicheln."
Der Knirps zögert nicht. Er nimmt ihn wie zerbrechliches Porzellan zwischen seine Finger und legt ihn auf die Hand. Jetzt möchten auch andere Wanderer das schleimige Wesen anfassen.
Im Weitergehen erzählt Hilke von der Vogelwelt im Wattenmeer. Abrupt bleibt sie stehen und wühlt aus ihrem Rucksack ein plumpes Modell aus Plast hervor. Wir erkennen die Form eines Vogels. Sie schaut mich an.
"Nimm das mal in deine Hand."
Mir ist unklar, warum ich dieses Spielzeug halten soll. Sie kramt weiter  und drückt eine schmalere Plastfigur in die andere. Ich bemerke einen deutlichen Gewichtsunterschied.
'Was soll das?', fragen meine Augen.
"Die Modelle stellen einen Knutt dar. Das ist ein Watvogel, der auf seinem Vogelzug äußerst lange Strecken zwischen Brut-, Rast- und Überwinterungsgebieten zurücklegt. Er kann bis zu 5000 km ohne Unterbrechung fliegen. Dabei nimmt er die Hälfte seines Gewichtes ab. Merkst du nicht den Unterschied in deinen Händen?"
"Klar", bringe ich noch heraus, bevor ich in tiefes Schweigen verfalle, weil in meiner Fantasie ein kleiner Vogel auftaucht, der mich umschwirrt. Er ist von der beschwerlichen Reise extrem abgemagert und spricht mit mir.
Allmählich ängstigen mich diese Bildfetzen und Empfindungen, die das Unterbewusstsein seit dem denkwürdigen Morgen produziert. Sie suggerieren, dass ich dies alles schon einmal erlebt habe. Ich wedele mit der Hand vor dem Gesicht, so als wolle ich die Bilder verscheuchen. Dabei fällt eines der Modelle, die ich halten soll, zu Boden.
Ein schwarzhaariges Mädchen hebt es auf. Ich gebe ich ihr den anderen Plastknutt dazu.
"Was, so viel nimmt der arme Vogel ab?", staunt sie, während es die beiden Nachbildungen abwechselnd mit ihren Händen auf- und abwärts bewegt.
Mittlerweile umringen alle Wattwanderer Hilke und hören, was sie zu sagen hat.
"Die Knutts fliegen in die arktischen Brutgebiete und überwintern im westafrikanischen Mauretanien, in der Banc d'Arguin. Dieses Wattenmeer ist seit 1976 UNESCO Weltnaturerbe und daher bedeutend unberührter als das Wattenmeer hier. In Afrika finden die Knutts ideale Bedingungen vor."
Jäh befällt mich die Illusion, bei sengender Hitze von Vogelleibern eingeengt zu sein. Wie zur Bestätigung setzt Hilke ihren Vortrag fort: "In Mauretanien leben die Knutts mit anderen Vögeln viermal so dicht als in Europa."
Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn.
Ich höre mich sagen, fast flüstere ich: "Zwischen Sibirien und Afrika legen sie in unserem Wattenmeer eine Pause ein. Auf ihren Flügen können sie sogar einen Teil ihres Magens verdauen."
Die Wattführerin klopft mir anerkennend auf die Schulter: "Sie wissen aber gut Bescheid."
Hilke erzählt mit Begeisterung von diesem Vogel. Sie findet kein Ende. Ihre Worte durchdringen mich bis aufs Mark. Sie sprich über Fakten, die mir bildhaft bekannt sind, als wäre ich dabei gewesen.
Die Wellen der Übelkeit, die zunehmend auftreten, kann ich kaum unterdrücken. Die Beine transportieren mich durch das Watt, doch vom Rest der Wanderung bekomme ich nichts mehr mit.
Endlich nähern wir uns der Küste. Mir ist schwindlig. An meinen Füßen hängen unsichtbare Bleiklumpen. Im Uferbereich lasse ich mich fallen. Selbst der einfache Vorgang des Fallenlassens in die Salzwiese versetzt mich in helle Aufregung, sogar das kommt mir bekannt vor. Diese Duplizität der Ereignisse treibt mich noch in den Wahnsinn. Ich setze mich auf und sehe dem Spiel der Wolken zu.
Mittlerweile haben sich die Wattwanderer verzogen. Ich bin allein in weiter Flur. Mir ist es recht. Langsam beruhige ich mich.
Ich stehe auf, um in die Ferne zu schauen. Die Flut schwemmt das Wasser heran.
Am Himmel entdecke ich einen dunklen Punkt, der größer wird und sich als kleiner Vogel offenbart. Er flattert vor mir hin und her, entfernt sich, kehrt zurück und streift mit den Flügeln meine Stirn. Ich erkenne ihn und sein Spiel. Ich rufe leise seinen Namen.
Er fliegt in aufsteigenden Bahnen um mich herum, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.
Lange bleibe ich stehen und schaue ihm nach. Knut-Knut kommt nicht wieder.
Ich zittere trotz der lauen Abendluft.

Nachts

Es ist dunkel. Ich werfe mich in meinem Bett hin und her. Die Schlaflosigkeit, mein treuester Feind, schlägt erneut zu und foltert mich. Sie setzt sämtliche Hebel in Bewegung, damit ich wach bleibe.
Je mehr ich versuche, sie zu bekämpfen, desto stärker beweist sie ihre Macht. Ich gebe es auf, stoße die Bettdecke zurück. Die Wut verstärkt sich, weil ich die Pantoffeln nicht finden kann. Die Dielen sind kalt.
Die letzte Nacht auf der Insel ist angebrochen. Die Gedanken an den kleinen Vogel lassen mir keine Ruhe. Ich verstehe das alles nicht, es ist nicht logisch. Doch solange ich darüber nachdenke, eine Erklärung fällt mir nicht ein.
Der Wecker übertönt mit seinem Ticken das Rascheln der Blätter vor dem Fenster der Ferienwohnung.
"So ein Mist, es ist erst ein Uhr", stöhne ich auf und verlasse das Bett.
Das Schnapsglas steht auf dem Tisch, nicht weit davon die Flasche mit meinem geliebten "Küstendunst". Ihr Inhalt neigt sich allmählich dem Ende zu.
"Ich werde sie leeren, so kann ich sie morgen vor der Rückreise ordnungsgemäß entsorgen", teile ich der Dunkelheit mit.
Die Worte verhallen im Raum.
Ich greife nach Glas nebst Flasche und mache es mir auf der Türschwelle des Balkons bequem. Ich nehme einen tüchtigen Schluck des feurigen Getränks.
Und plötzlich habe ich eine Idee, es ist eine absurde Idee, eine Idee, die ...

 

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2013

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