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Ich möchte euch auf eine Zeitreise mitnehmen, in eine Zeit, in der es noch zwei deutsche Staaten gab. Wir schreiben das Jahr 1981 und befinden uns in der DDR. Auf den Straßen fuhren fast nur Fahrzeuge der Marke Trabant und Wartburg, die auch nicht gerade durch eine Farbenvielfalt glänzten. Mit viel Glück konnte man einen Skoda, Schiguli, Dacia, Moskwitsch oder den Saporoschez, auch Taigatrommel bzw. Soljankaschüssel genannt, entdecken.
Wir besaßen zu dieser Zeit leider noch keinen fahrbaren Untersatz, standen aber auf der Warteliste. Der Otto-Normalverbraucher musste sich ungefähr sieben Jahre auf einen Trabanten gedulden (später war die Wartezeit länger), und da wir keine Beziehungen hatten, gehörten wir auch dazu. Wir sahen das natürlich positiv: Die DDR-Regierung gab uns genügend Zeit, das Geld für das Auto zusammenzusparen, denn die Preise waren gepfeffert. Außerdem konnten wir in Ruhe eine Fahrschule „auswählen“ und uns darauf vorbereiten. In meiner Heimatstadt, die 550 000 Einwohner aufwies, gab es zu jener Zeit nur eine Fahrschule, und die war natürlich staatlich.
Da ich nicht in der Nationalen Volksarmee diente, keine vormilitärische Ausbildung im Rahmen der GST (Gesellschaft für Sport und Technik) absolvierte und keinerlei „Vitamin B“ besaß, musste ich drei Jahre auf den Beginn meiner Fahrschule warten. Ich glaube, dass ich für die Gesamtausbildung 300 Mark der DDR hinblättern musste.

Endlich begann die Fahrschule. Ich paukte Paragrafen und Verkehrsregeln. Die Theorieprüfung wurde von einem zugelassenen Fahrlehrer oder einem Polizeibeamten abgenommen. Da ich weiblich und daher sehr fleißig bin, war die Prüfung kein Problem für mich. Anschließend ging es auf den obligatorischen Fahrtrainer. Das war ein nachgebildeter Führerstand. Vor mir lief auf einer kleinen Leinwand ein Film ab, den ich fahrend begleitete. Ich kuppelte, schaltete und lenkte wie eine Verrückte, doch die Sache mit dem Schleifpunkt bekam ich nur schwer in den Griff. Ein Fahrdiagramm zeigte, wie dieses Zusammenspiel klappte. Das fand ich bereits weniger lustig.
Es folgte der Elementeplatz. Ich saß zum ersten Mal hinter dem Lenkrad eines richtigen Autos und quälte mich mit dem Anfahren und Anhalten, mit Parklücken sowie einem Wendequadrat. Das Auto fuhr mir immer zu schnell, obwohl ich kaum Gas gab. Irgendwie meisterte ich auch das und hatte damit alle Voraussetzungen, auf die Straße losgelassen zu werden.

Auf meinen Stuhl gepresst, wartete ich in einem Vorraum auf die erste Fahrstunde. Das Herz dröhnte in meiner Brust. Wenn es nur schon vorbei wäre!
Zwei Männer und eine Frau wuselten an mir vorbei und gaben sich keine Mühe, leise zu sprechen, obwohl dies besser gewesen wäre. Offensichtlich waren es Fahrlehrer. Die Frau war stark geschminkt, hatte schwarze Haare, die sie offen trug und sagte mit tiefer Stimme: „... Der werde ich es nachher zeigen! Die kapiert einfach nicht, wo sich das Gas- und das Bremspedal befinden. Die dumme Kuh soll sich nicht so dämlich anstellen ...“ Für mich war klar, sie machte gerade eine ihrer Schülerinnen nieder. Mein Gesicht nahm die Farbe eines zu lang gekochten Spinats an. Ich erinnere mich noch genau, wie diese Worte durch den Vorraum hallten. Ich versank noch tiefer in meinen Stuhl.
Endlich kam ein Fahrlehrer auf mich zu und stellte sich vor: „Ich bin Herr Winter.“ Natürlich verscheuchte der frostige Name meine Angst nicht. Herr Winter ging mit mir auf den Hof und öffnete die Fahrertür eines Wolgas. „Was, da soll ich rein, mit dem Ding soll ich fahren?“, durchzuckte es mich. Dennoch stieg ich ein, mir blieb nichts anderes übrig.
Der Wolga war für meine Körpergröße viel zu groß. Nach vorn konnte ich die Motorhaube nicht überblicken und hinten nahm das Heck kein Ende. Ich saß zu tief. Für solche Zwecke hielt Herr Winter ein Kissen bereit. Ich schob mir das Kissen unter, doch die Sichtweisen nach draußen verbesserten sich nicht.
Mit leiser Stimme bat ich um einen klitzekleinen Trabbi. Schließlich wollte ich später Trabbi fahren, so wie die meisten DDR-Bürger auch. Ich argumentierte, dass es daher besser sei, in einem Fahrzeug mit Lenkradschaltung zu lernen. Der Wolga hatte eine Knüppelschaltung. Der Fahrlehrer ließ sich nicht erweichen.
Im Handel war der Wolga nur für Betriebe käuflich. Für andere Fahrschüler wäre es eine Ehre gewesen, mit solch einem Fahrzeug zu lernen, denn in der Sowjetunion wurde das Fahrzeug als Staatskarosse eingesetzt.
Beherzt betätigte ich die Pedale. Ich fand nur langsam den richtigen Schleifpunkt. Mein Gasfuß flatterte. Plötzlich fand ich mich mit Wolga und Fahrlehrer auf der Straße wieder. Es war schlimm. Ich wusste gar nicht, worauf ich zuerst achten sollte: auf die Verkehrszeichen, die Fußgänger, dass Schalten der Gänge, Kuppeln oder auf das Verbleiben auf der Straße. Mein Körper und meine Seele bebten. Gegen Ende der Fahrstunde geschah das Ungeheuerliche: Ich hatte plötzlich den Blinkhebel in meiner Hand, jedoch nicht zum Blinken, ich hatte ihn abgebrochen. Wie das passieren konnte, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Der Fahrlehrer schnauzte mich an: „Wie haben Sie denn das fertiggebracht! ... Das kann doch wohl nicht wahr sein! ...“ Er konnte nicht mehr ruhig sitzen. Ich sagte kein Wort und versuchte, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Auf dem Rückweg beruhigte er sich immer noch nicht: „Sie müssen ein Auto mit Gefühl behandeln! ... Und überhaupt, Sie fahren so gefühllos, ... Haben Sie denn gar keine Gefühle? ... Ihr Mann tut mir leid ...“ Natürlich hatte ich Gefühle. Und was für ich damals Gefühle hatte!!!
Es sollte sehr lange dauern, bis ich über diese Episode lachen konnte.

Die zweite Fahrstunde rückte heran. Mit einem dumpfen Druck im Magen wartete ich im Vorraum auf Herrn Winter. Ein anderer Fahrlehrer näherte sich und blieb vor mir stehen. Er stellte sich als Herr Schmutzler vor. Warum mich Herr Winter nicht weiter unterrichtete, erklärte er nicht. Ich wollte es auch gar nicht wissen ...
Ich war froh, einen neuen Fahrlehrer zu haben. Es war ein Neubeginn nach dieser verunglückten ersten Fahrstunde. Ich beäugte Herrn Schmutzler. Er war Mitte vierzig und leicht beleibt. Aus seiner Kopfhaut ragten nur wenig Haare. Er blitzte mich mit seinen Augen vergnügt an. Das beruhigte mich ein wenig. Herr Schmutzler erwies sich als gemütlicher Fahrlehrer. Allerdings musste ich mich an ihn gewöhnen.
Meine zweite Fahrstunde, wie auch die folgenden, verliefen folgendermaßen: Total aufgeregt saß ich im Auto. Meine Füße hatten sich verselbstständigt und hörten nicht auf das innere Kommando: „Hört doch endlich auf.“ Sie zitterten beim Bedienen der Pedale, sodass es schwer war, den Motor nicht abzuwürgen. Schließlich ruckelte die riesige Karosse los. Meine Konzentration stieg wieder mal ins Unermessliche. Der Verkehr rauschte an mir vorbei und ich wusste gar nicht mehr, in welchem Stadtteil meiner Heimatstadt ich mich gerade befand. Plötzlich legte Herr Schmutzler seinen Arm auf die Lehne des Fahrersitzes. Mein Körper spannte sich. Würde sein Arm auf meine Schultern abrutschen, er mich sexuell belästigen? Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen begann Herr Schmutzler zu zwitschern. „Tschiep, Witrill, Wittwitt.“ Dies geschah in den wundersamsten Tonlagen. Seine Augen beobachteten mich verschmitzt. Ich hatte den Eindruck, neben einem Singvogel zu sitzen. Im Wolga machte sich ein Stück Natur breit. Er konnte die Vogellaute perfekt imitieren. So ausgerüstet versuchte ich alle Verkehrsregeln zu beachten, richtig zu schalten, Fußgänger zu berücksichtigen, keine Radfahrer umzufahren, ... Das erschwerte der Piepmatz auf dem Beifahrersitz. Irgendwie gewöhnte ich mich mit der Zeit an seinen Arm auf meiner Sitzlehne und den Vogelgesang.

Eine Fahrstunde vergesse ich auch nie: Es fing an zu regnen, und ich wollte den Scheibenwischer anstellen. Keine Reaktion. Ich betätigte den Schalter erneut, doch kein Wischerblatt wollte die Regentropfen auf der Frontscheibe beseitigen. Ich bekam einen Schreck. Mit schlechtem Gewissen fiel mir der abgebrochene Blinkhebel ein, und meine Nerven meldeten: „Alarm!“ Doch Herrn Schmutzler gelang es ebenfalls nicht, die Wischer in Bewegung zu setzen. Mich traf keine Schuld. Mittlerweile goss es in Strömen. Ich konnte kaum etwas durch die verregnete Scheibe erkennen. Ich bat meinen Lehrer, sich ans Lenkrad zu setzen, um das Auto sicher zurückzutransportieren. “Sie fahren!“, war alles, was er sagte. Ich war froh, als wir unbeschadet den Fahrschulhof erreichten.
Endlich schätzte Herr Schmutzler ein, dass meine Fahrkünste für die Prüfung ausreichen müssten.

Mein Chef, der von Anfang an regen Anteil an meiner Fahrausbildung nahm, wühlte im Regal und zog ein nagelneues Buch hervor. Er sagte: „Das gibst du deinem Fahrlehrer vor der praktischen Prüfung.“ Dabei schaute er mich eindringlich an, da er wusste, dass ich das als Bestechung ansehen würde. „Schdohb kann man immer gebrauchen“, versuchte er mich zu überzeugen. Der gebildete Sachse weiß natürlich, dass „Schdohb“ zu gut Hochdeutsch Trinkgeld bedeutet. Ich jedoch sah das als Schmiergeld an. Er rang mir förmlich das Versprechen ab, seine Forderung zu erfüllen. Widerwillig nahm ich das Buch entgegen. Er wusste, dass ich ein einmal gegebenes Versprechen auch halte.
Natürlich wollte ich die Prüfung bestehen und übergab meinem Fahrlehrer das Buch. Herr Schmutzler nahm es gern entgegen und blätterte sehr vorsichtig darin herum. Es war ein populärwissenschaftliches Buch über Metalle.

Zur Prüfung fuhr ein zweiter berechtigter Fahrlehrer mit. Sie verlief ohne Komplikationen. Ich habe die Prüfung bestanden und mich riesig darüber gefreut. Ob „Schdohb“ dabei eine Rolle spielte, kann ich nicht beurteilen.
Herr Schmutzler verabschiedete sich von mir mit den Worten: „Nun ab, in ein Auto und oft fahren, sonst verlernen Sie es.“ Diese Worte habe ich beherzigt. Aus mir ist im Laufe der Zeit eine chronische Autofahrerin geworden. Ich besitze übrigens zwei CDs mit Vogelstimmen, die ich gern beim Autofahren anhöre.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2013

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