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Ich sitze im Sand und die Wellen versuchen meine Füße zu erreichen. Der Wind weht unsanft in mein Gesicht. Vor mir erstreckt sich die Insel Langeoog. Es ist ihre Art, der Nachbarinsel Spiekeroog zu zeigen, dass sie die längere ist. Spiekeroog ist dafür die ruhigere Insel. Autos sind verboten und Fahrradfahren ist unerwünscht. Mein Blick ruht auf dem Meer und der gegenüberliegenden Insel. Könnte ich es schaffen, hinüberzuschwimmen? Plötzlich werde ich traurig. Ein lachendes Gesicht taucht vor mir auf. In Gedanken sehe ich meine Freundin. Wie hat sie sich gefreut, als sie es schaffte, von der Insel Rügen über den Strelasund nach Stralsund zu schwimmen.
Wir schwammen beim jährlichen „Sundschwimmen“ nie lange nebeneinander her. Sie rauschte regelrecht an mir vorbei. Damals war die Welt noch in Ordnung.
Ebbe und Flut sowie die an Gewalt und Zahl zunehmender Stürme prägen das Gesicht von Spiekeroog. Die Natur befindet sich in permanenter Veränderung. Nichts bleibt, wie es war. Vorgestern war der Strand friedlich, gestern hat die Sturmflut ihn verschluckt und heute ragen Dünenabbrüche in die Höhe. Es wird frisch und ich beschließe, den Strand zu verlassen. Ich wandere durch die Dünen und meine, ihr fröhliches Lachen zu hören. Leider ist sie nirgendwo zu sehen.
Wir kannten uns seit unserer Studienzeit und haben uns seitdem nie wieder aus den Augen verloren. Da die Eltern uns den gleichen Namen gaben, fanden wir uns sofort sympathisch. Gitti tickte wie ich. Trotz Kinder, Ehemann und Arbeit hielten wir Kontakt. Später war sie geschieden und erzog ihre Kinder allein. Das war, insbesondere nach dem Fall der Mauer, nicht immer so einfach. Obwohl das Geld knapp war, schaute sie optimistisch in die Zukunft. Leider sahen wir uns nicht oft, sie wohnte in einer anderen Stadt. Doch da wir uns wesensverwandt fühlten, brach über all die Jahre die Verbindung nie ab.
Wir fanden unsere dritte Freundin während eines Treffens ehemaliger Studenten wieder. Ihr Mann arbeitete in der Schweiz und so lebte sie mit ihm in dieser wunderschönen Natur. Wir besuchten sie. Es gibt ein Foto: Wir drei stehen auf einem Pass, haben die Arme über unsere Schultern gelegt und lachen in die Kamera. Hinter uns recken sich schneebedeckte Berge in den Himmel. Es waren die letzten unbeschwerten Momente. Damals litt Gitti unter utopisch hohen Blutdruck, nahm das aber nicht so wichtig. Trotzdem drängten wir unsere Freundin, einen Arzt aufzusuchen. Sie brauchte Medikamente und eine Ursache musste das Ganze ja auch haben. Wir nahmen unseren berüchtigten Befehlston an, denn Gitti musste zu allem Möglichen gedrängt werden. Der Volksmund beschreibt es treffend mit „schwer aus der Hüfte kommen“.
Ich setze mich auf eine Bank. Der Strand verbreitert sich zunehmend. Die Ebbe beginnt. Das Wasser zieht sich zurück und mit ihm meine Erinnerungen an die frühere Zeit.
Neuere Bilder drängen sich mir auf: Gitti konnte kaum noch laufen. Ein Stock half ihr. Wir waren alle bestürzt über diesen Schlaganfall. Sie selbst zeigte es nicht, sie freute sich einfach, dass wir sie besuchten. Wenn sie mit unserem Tempo nicht Schritt halten konnte, blieb sie bescheiden zurück. Wir alle hofften, dass sie durch verschiedene Therapien ihre Beweglichkeit zurückerlangen würde. Leider war dies nicht der Fall. Sie musste in die Notaufnahme. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte einen Gehirntumor der schlimmsten Art. Sie wurde operiert. Eine Chemotherapie folgte, die ihr die Kräfte sowie die Haare nahm. Trotzdem war sie guter Dinge. Sie las Bücher über ihre Krankheit und wollte viel Sport treiben, um den Tumor endgültig zu besiegen. Wir unterstützten sie dabei. Wir wanderten durch die Wälder und bestiegen kleine Berge. Sie konnte wieder besser laufen.
Ihren kahlen Kopf verdeckte sie weder mit Perücke oder Tuch. Sie war ein bodenständiger Mensch. Gitti liebte die Natur und achtete das Leben darin. Selbst Schnittblumen standen nie in ihrer Wohnung. Sie machten sie traurig, da nach ihrer Auffassung der Mensch sie getötet hatte.
Sie ging wieder in die Schwimmhalle, wo ihre Sportkumpel sie auch ohne Haare mochten. Wir alle waren guter Dinge. Ich war überzeugt, dass sie es trotz der Bösartigkeit des Tumors packen würde. Liest man nicht immer wieder von Spontanheilungen? Und: Man müsse nur richtig daran glauben? Viel Bewegung an der frischen Luft und eine gesunde Ernährung mussten doch diesen verhassten Krebs besiegen! Wie naiv wir doch damals waren.
Ich bekomme ihr schallendes Lachen nicht mehr aus meinen Ohren. Auch damals lachte sie noch.
Ein freundliches „Moin“ führt mich in die Wirklichkeit zurück. Ein einsamer Strandwanderer grüßt mich. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich wieder Richtung Strand gelaufen bin. Es ist Ende November. Die bereits am Nachmittag tief stehende Sonne taucht den Strand in ein unwirkliches Licht. Ich stapfe Richtung Sturmeck und ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht. Die Sonne gleist in meine Augen . . .
Der Tumor wuchs wieder. Gitti musste sich erneut operieren lassen. Das war schlimm. Sie ertrug es tapfer und lächelte immer noch. Sie kämpfte mental gegen die bösen Zellen an. Doch ihr Körper war anderer Meinung. Er erforderte eine Pflegekraft. In ihrer kleinen Wohnung kam sie allein nicht mehr zurecht, obwohl sie nie klagte. Immerhin konnte sie zum ersten Mal in ihrem Leben ohne Brille lesen. Waren die Ursache der Tumor oder die Operationen? Es musste wohl so sein. Später beschränkte sie sich auf Kurzgeschichten, da sie längere Romane nicht mehr erfassen konnte.
Der Krebs bewirkte, dass sie ihre Arbeit verlor. Das hatte sie nicht erwartet. Von Krämpfen geschüttelt brach sie zusammen. Ich hätte den Chef verprügeln können. Sie hatte die Finanzen und somit auch die Lohnzahlungen in der kleinen Firma verwaltet. Als es dem Betrieb aufgrund der schlechten Auftragslage schlecht ging, verzichtete sie schweigend auf ihren eigenen Lohn, um diesen einem kinderreichen Familienvater und Kollegen zu zuteilen. Sie konnte sich selbst nicht viel leisten, war aber immer zufrieden mit sich und der Welt.
Mit Riesenschritten stapfe ich vornübergebeugt durch den Sand und kämpfe gegen die Naturgewalten. Mein Kreislauf kommt in Schwung, mir wird warm. Der stärker werdende Nordwestwind pfeift um meine Ohren. Ich bin wütend, wütend auf alles. Die Menschheit existiert seit Ewigkeiten und trotzdem hat sie es nicht gelernt, todbringende Krankheiten zu heilen, den Krebs endgültig zu besiegen. Wieso eigentlich?
Gitti erwog Selbstmord. Hätte sie es tun sollen? Viel Leid wäre ihr erspart geblieben. Sie hatte sich für das Leben entschieden. Doch wie sah ihr zukünftiges Leben aus?
Ich sehe uns, sie im Rollstuhl und ich sie durch den Park des Seniorenheimes schiebend. Es ging einfach nicht mehr. Sie musste betreut werden. Daher kam sie in dieses Heim. Ich schob sie in das Café des Hauses. Wir redeten über ihre Situation. Ich war schockiert. Es war einfach absurd. Meine sonst so sportliche Gitti saß vor mir im Rollstuhl, umgeben von Menschen, die bedeutend älter waren. Die Krankheit hinterließ immer deutlicher ihre Spuren, auch in ihrem Gesicht. Sie musste beim Reden länger werdende Pausen einlegen, weil sie schnell ermüdete. Tränen rannen mir über die Wangen. Ich konnte es nicht verhindern. Sie nahm meine Hand, um mich zu trösten. Ich schämte mich so sehr. Ich sollte die Stärkere sein.
Bizarre Wolken leuchten in der Abendsonne. Mein Körper wirft immer längere Schatten. Ich sollte umkehren, bevor die Dunkelheit mir die Sicht nehmen konnte. Abrupt drehe ich mich um und lasse mich vom Wind treiben. Ich liebe diesen Strand, auch in der kargen Jahreszeit.
Damals blies auch ein rauer Wind. Die Luft war klar und frisch. Wir düsten die vielen Autobahnkilometer zu unserer Freundin ins Seniorenheim. Wir wollten mit ihr einen Ausflug in die Natur, die sie so liebte, unternehmen. Gitti lag noch im Bett und lächelte uns an. Sie freute sich. Mein Mann fuhr sie verschmitzt mit lauter Stimme an, sie solle nicht so faul rumliegen und endlich aufstehen. Sie lachte laut, wusste sie doch, wie er es meinte. Sie kannte meinen Mann fast so lange wie mich. Wir holten die freundliche Pflegekraft, die uns den sogenannten „Liebesgriff“ erklärte, um sie in und aus dem Rollstuhl zu befördern. Alles klappte. Der Rollstuhl war im Auto verstaut und unsere Freundin saß gut angeschnallt auf dem Beifahrersitz. Richtig orientieren konnte sie sich nicht mehr. Wir fuhren auf den Thüringer Inselberg. Mein Mann hievte sie gekonnt vom Auto in den Rollstuhl. Dabei rutschte ihr Arm immer wieder schlaff von seinem Hals. Ihr Körper war teilweise gelähmt. Die Außensitze des Gipfelrestaurants wurden von den Gästen nicht benutzt, es war sehr frisch. Der Wind jaulte ungemütlich über den Berg hinweg, doch uns machte das nichts aus. Ich ging in das Restaurant und bat den Kellner, uns den Kaffee draußen zu servieren. Als er die Situation erfasste, wollte er unsere Freundin sofort ins Innere tragen. Sie lehnte es ab. Sie wollte lieber den Wind auf ihrer Haut spüren und die schöne Aussicht genießen. Wir saßen im Freien, tranken unseren Café und erfreuten uns am Beisammensein. Lange schwiegen wir und betrachteten die umliegenden Berge. Gitti genoss es sichtlich. Sie konnte sich nicht satt sehen und war begeistert. Wir waren glücklich und umarmten uns. Es war mein Geburtstag.
Ich trotte durch den Sand, der sich in Wellenlinien vor mir ausbreitet. Ich drehe mich um und beobachte, wie der Wind meine hinterlassenen Spuren verweht, so als waren sie niemals vorhanden. Was bleibt, ist die Erinnerung. Und die will nicht mehr von mir weichen.
Immer öfters fanden wir sie in ihrem Bett vor. Sie schlief viel ein. Ich hielt ihre Hand. Wachte sie auf, schwelgten wir in unseren gemeinsamen Erinnerungen. Über ihre Krankheit zu reden, hatte keinen Zweck mehr. Ihre Blutwerte waren miserabel, eine weitere Chemotherapie kam nicht in Frage. Wir hatten schöne, gemeinsame Erlebnisse, die wir immer wieder hervorkramten. Sie sprach weniger und ihre Augen konnten kaum noch etwas erkennen. Durch unsere Hände waren wir miteinander verbunden.
Eines Tages erhielt ich einen Anruf von ihrem Sohn. Gitti ginge es sehr schlecht. Sie sei nicht mehr ansprechbar. Wir sollten das bedenken, da wir einen weiten Anfahrtsweg zu ihr hätten.
Wir wollten sie sehen. Sie lag in ihrem Bett und starrte mit glasigem Blick aus dem Fenster. Ich rief ihren Namen, keine Reaktion. Ich nahm ihre Hand, sprach mit ihr, sie reagierte nicht. Hilflos schaute ich meinen Mann an, der ebenso erschrocken war. So saßen wir eine Weile schweigend an ihrem Bett. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich kam ganz dicht an ihre Augen, suchte ihren Blick und rief laut ihren Namen. Ich erzählte von Berlin, von der „Fanmeile“, auf der wir zwei Jahre vorher mit unserer Fußball-Nationalmannschaft fieberten und jede Menge Spaß hatten. Ich erzählte alles Mögliche. Die Situation war absurd. Doch plötzlich kam ein Strahlen in ihre Augen. Ihre Hand bewegte sich in meiner. Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich blieb dicht über ihr und redete weiter. Schließlich schloss sie die Augen. Es schien, als ob sie fest schliefe. Lange saßen wir an ihrem Bett, doch sie reagierte nicht mehr. Schließlich mussten wir gehen. Leise sagte ich: „Tschüss, Gitti.“ Wider Erwarten drückte sie meine Hand. Es war ihr letzter Gruß.
Die Sonne geht unter. Die Wellen brechen sich hinter der entfernten Sandbank und zeigen ihr tosendes Kommen an. Das Leben geht weiter.

Impressum

Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2012

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