Japan, was ist das für ein Land? Ist es tatsächlich so fremd? Unterscheiden sich die Verhaltensweisen der Japaner wirklich so sehr von den unseren? Diese Fragen haben mich früher überhaupt nicht interessiert. Es waren einzig und allein die geheimnisvollen Schriftzeichen, die mich magisch anzogen. Ich begann, in der Volkshochschule Japanisch zu lernen. Ich wusste nicht, worauf ich mich einließ. Drei Schriftsysteme, die japanische Grammatik sowie der Reichtum an Sprachstilen (zum Beispiel als Ausdruck der Hierarchie und des Geschlechts) überzeugten mich vollkommen, dass Japaner irgendwie anders „ticken“. Und das machte mich neugierig.
Obwohl es sehr unwahrscheinlich war, lernte ich in den letzten Monaten der DDR eine Japanerin kennen. Der Zufall spielte mir ihre Adresse in die Hände. Dass sich daraus eine tiefe Freundschaft entwickeln würde, ahnte ich damals noch nicht. Ich erinnere mich noch gut, mit welch gemischten Gefühlen ich meinen Trabbi Richtung Internat, in dem sie wohnen sollte, steuerte. Ich kannte sie ja gar nicht. Sie hatte meinen Brief beantwortet und war einverstanden, dass wir im Tandemverfahren Deutsch beziehungsweise Japanisch lernen. Im Internat wohnten Ausländer, die am entsprechenden Institut der Universität Deutsch lernten.
Zaghaft klopfte ich an ihre Tür. Sie öffnete. Ich stellte mich mit eingeübtem Japanisch vor. Sie befand sich zum ersten Mal in Europa und hatte sich ausgerechnet die DDR ausgesucht. Schuld daran waren die Musiker meiner Heimatstadt, wie zum Beispiel Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, und andere. Sie wollte Kirchenmusik studieren und war erst einige Tage in der DDR.
Wir unterhielten uns in einem Kauderwelsch aus Englisch, Deutsch und Japanisch. Fumiko-sans Kenntnisse der deutschen Sprache waren noch sehr dürftig, und die meinen in der japanischen sind sowieso nie ausreichend. Irgendwie war alles förmlich und steif. Schließlich musste ich gehen. Zum Abschied streckte ich ihr meine Hand entgegen und spürte im selben Augenblick ihre langen Haare darin. Natürlich hatte sie sich nach Sitte ihres Landes verbeugt. Wir lachten. Das Eis war gebrochen.
Die Jahre vergingen. Fumiko-san lebte nach zweijährigem Deutschlandaufenthalt wieder in Japan, und ich durfte sie besuchen. Mein Lebenstraum sollte damit in Erfüllung gehen. Ich verbrachte wunderschöne Wochen in Japan. Meine Freundin hatte mir sehr viel ermöglicht. Ich war stolz, dass ich mich allein zum Bahnhof ihrer Heimatstadt gefunden hatte. Sie wohnte in einer ländlichen Gegend.
Fumiko-san wollte mich abholen. Da begann schon das Desaster. Ich hievte meinen Koffer aus dem Shinkansen. Der Bahnsteig war gefüllt von Schwarzschöpfen, leerte sich aber sehr schnell. Wen ich nicht sah, war meine Freundin Fumiko-san.
Ich wartete und wartete. Kein Mensch war mehr auf dem Bahnsteig zu sehen. Panik breitete sich in meinem Körper aus. Fremde Schriftzeichen starrten mich an. Ich redete mir Mut zu und verließ nach einigem Zögern den Bahnsteig. Doch das war einfacher gedacht als getan. Eine Schranke versperrte mir den Weg. Ich musste meine Fahrkarte in den beistehenden Automaten stecken. Problemlos durfte ich passieren. Nur Fumiko-san konnte dies von der anderen Seite der Barriere nicht. Sie benötigte ein Ticket,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Brigitte Voß
Bildmaterialien: Brigitte und Wolfgang Voß
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2012
ISBN: 978-3-7309-0188-5
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