Mein Leben in Jahrzehnten ----- Sultan
Ich bin 1938 geboren. Mit anderen Worten, ich war 1 Jahr alt, als der 2. Weltkrieg mit all seinen Schrecken begann. Und ich war knapp 7 Jahre alt, als der Krieg aus war. Von den Schrecken des Krieges habe ich schon so oft geschrieben, auch von meiner Einschulung kurz nach Ende des Krieges.
Was soll ich also schreiben? Über die Hamsterzeit und Schwarzmarktzeit, über die Engpässe in der Nahrungsversorgung gibt es auch schon Geschichten von mir.
Was nun?
Da fällt mir eine Geschichte ein, die ich kurz nach Kriegsende erlebt habe und von der möchte ich erzählen.
Ich hatte eine Tante im Neandertal bei Mettman im Bergischen Land. Da gab es ein Schwein im Stall, da gab es Hühner und eine Ziege. Vor den Hörnern der Ziege hatte ich übrigens großen Respekt. Aber das ist nicht meine Geschichte.
Eines Tages wurde bei der Tante schwarz geschlachtet ( Ohne behördliche Genehmigung schlachten). Meine Mutter und ich waren zu der Zeit gerade zu Besuch da. Meine Mutter half beim Wursten. Da konnten wir uns einmal im wahrsten Sinne des Wortes die Bäuche voll schlagen.
Mein Onkel besaß eine echte Siamkatze, die war sehr gut erzogen. Es war ein Kater und hieß „Sultan“. Ich weiß noch, dass Sultan auf der Terrasse vor einem Kükenkäfig saß und von meinem Cousin, der im gleichen Alter wie ich war, den Befehl erhielt: „Sultan , schön aufpassen,“ was der Kater dann auch tat. Die anderen Katzen aus der Nachbarschaft hatten keine Chancen an die Küken heran zu kommen. Sultan beschützte die Küken.
Er war außerdem ein wunderbarer Spielkamerad für uns. Wir spielten z. B. Post mit ihm . Mein Cousin wickelte ihn in Zeitungspapier und ich nahm ihn als Paketpost in Empfang und wickelte ihn wieder aus. Sultan ließ alles mit sich machen. Oder wir spielten Eisenbahn mit ihm. Wir zogen ihn in einem Karton durch die Stube, und wenn es hieß " Sultan aussteigen," stieg er aus, hieß es dann " Sultan einsteigen" stieg er ein.
Wenn wir Kinder nach Sultan riefen, war er auch sofort da, ließ sich von uns kraulen, freute sich über ein Leckerli, welches wir heimlich vom Frühstückstisch entwendet hatten.
Eines Tages riefen wir vergeblich. Sultan kam nicht. Das war vollkommen ungewohnt für uns. Nachdem er nach mehrmaligen Rufen nicht erschien, wendeten wir uns anderen Dingen zu . Als er sich nach ein paar Stunden immer noch nicht blicken ließ und wir feststellten, dass er auch sein Fressen noch nicht angerührt hatte, waren wir doch ein wenig beunruhigt. Es war nicht seine Art zu stromern. Aufgeregt liefen wir zu unserem Onkel und erzählten ihm von Sultans Verschwinden und dass wir ihn schon überall gesucht hätten. Der beruhigte uns erst einmal und meinte, vielleicht hat er ein Kätzchen gefunden, dass ihm gefällt. Wenn er Hunger hat, wird er schon nach Hause kommen.
Aber Sultan kam nicht. Er war auch am nächsten Tag noch nicht wieder aufgetaucht . Jetzt wurde mein Onkel auch stutzig und er hatte einen Verdacht.
In der Nähe gab es ein Lager mit Flüchtlingen aus Schlesien. Ja, und dort fand mein Onkel dann das Fell vom Sultan. Gott ja, die Leute hatten Hunger wie alle anderen auch und haben ihn halt geschlachtet.
Wir Kinder waren sehr traurig darüber. Aber so waren die Zeiten damals nun einmal.
Aber meine Liebe zu allen Katzen ist bis heute geblieben obwohl ich nie selbst eine besessen habe.
Texte: Doris Frese
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2020
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