Der Ahornbaum
Auf der gegenüberliegenden Seite unseres Hauses stand vor ein paar Jahren ein Ahornbaum. Von meinem Platz am Frühstückstisch galt mein erster Blick immer dem Ahornbaum.
Im Frühjahr freute ich mich über die ersten zarten grünen Blätter. Ich bildete mir ein, zu sehen, dass der Baum sich auch freute. Ich meinte, ihn lächeln zu sehen.
Im Sommer stand er in seiner grünen Pracht da, und blickte stolz um sich. Manchmal neigten sich seine Zweige grüßend im Wind zu mir herüber. Und ich erfreute mich an seinem Anblick und grüßte zurück.
Dann kam der Herbst und langsam verfärbten sich seine Blätter und ich konnte mich an den leuchtenden Farben nicht satt sehen. Die Farbe veränderte sich von leuchtend rot in dunkelrot und schließlich in sehr dunkelrot. Der Baum war so schön anzusehen, dass ich meinen Blick kaum von ihm lassen konnte.
Und dann eines Morgens im Spätherbst, passierte es. Alle Blätter waren so gut wie weg. Nur ein paar einzelne hingen noch traurig daran..
Das musste in der Nacht passiert sein. Ich hatte das Gefühl, der Baum war genau so erschrocken wie ich. Er tat mir so leid, so nackt wie er nun da stand.
Ich ging nach dem Frühstück zu ihm hinüber und tröstete ihn damit, dass er bald schon ein schönes weißes Kleid bekommen würde.
Ich fürchtete nur, dass er es mir nicht so richtig abnahm, da es ein Jahr davor nicht funktionierte, da es da keinen Schnee gab. Er schaute mich auch ganz skeptisch an.
Ich vertröstete ihn auf das Frühjahr, wenn er wieder die ersten grünen Blätter bekommen würde. Ich glaube, ich war trauriger als der Baum, der kannte inzwischen nach all den Jahren sein Schicksal und wusste, dass der Lauf immer der Gleiche ist. Obwohl ein bisschen kam der Blätterfall, so über Nacht, auch für ihn überraschend.
Was wir beide an diesem Morgen nicht wussten, der Baum und auch ich nicht ,dass, bevor sich im nächsten Frühjahr die ersten zarten grünen Blätter zeigten, der Baum das nicht mehr erleben würde.
Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als das für mich Unfassbare geschah. Es war an einem Morgen im Januar. Wir waren am Abend zuvor aus unserem Weihnachtsurlaub zurückgekommen.Ich schaute wie an jedem Morgen, wenn wir zuhause waren zum Ahornbaum herüber, um ihn zu begrüßen.
Nein, was war das, wo war der Baum? Nein, das konnte doch nicht wahr sein. Mein Ahornbaum war nicht mehr da. Weg, -----einfach weg.
Man hatte ihn inzwischen gefällt, weil er wegen Kabelbauarbeiten im Wege stand.
Ich habe geweint um den schönen Ahornbaum, als er sterben musste. Doch einen kleinen Trost hatte ich. Es hatte noch in seinem letzten Winter, den er Anfang Dezember erleben durfte, geschneit, und er konnte sich noch in einem sehr schönen weißen Kleid zeigen.
Lieber Ahornbaum, obwohl das alles schon so lange her ist, vermisse ich dich immer noch. Wenn im Frühjahr die ersten Blätter an den Bäumen sind, schaue ich immer wehmütig zur anderen Straßenseite, aber du bist nicht mehr da, um mir zuzuwinken. Und wenn ich jedes Jahr im Januar an den Tag denke, an dem ich entdeckte, dass es dich nicht mehr gibt, werde ich ganz traurig.
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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2011
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